Fußball und Lateinamerika, ila 296, 06/2006

ila 296, 06/2006

Der eigene Anspruch wird klar benannt: „,Futbolistas' (richtet) einen anderen Blick auf den Fußball, wie Maradona einst sagte: ‚Wir Fußballspieler beschweren uns immer, wir hätten viel Druck. Druck haben die Leute, die fünf Pesos nach Hause bringen und damit ihre Kinder nicht ernähren können.'“ Das Buch von Dario Azzellini und Stefan Thimmel will also nicht nur vom Fußball berichten, sondern will Fragen stellen und Geschichten erzählen, von denen andere nichts wissen (mögen). Und es will dabei die soziale und gesellschaftliche Situation der Beteiligten – und dazu gehören auch diejenigen, die den Fußball nur passiv, als „Publikum“ erleben – in den Blick nehmen. Dieser Anspruch wird eingelöst.


In 46 Artikeln widmen sich 27 Autoren, immerhin acht Autorinnen und ein autonomes Kollektiv mehr Fragen, als dem durchschnittlichen Fan auf Anhieb einfallen dürften. Ehe die Situation des Fußballs in den an der WM 2006 teilnehmenden (und einigen anderen) lateinamerikanischen Ländern dargestellt wird, diskutieren die Texte ausführlich über die sozialen und politischen Bedingungen rund um den Fußball und auch innerhalb seines Betriebs. Spielerhandel, Rassismus, Fußball als mediales Spektakel sind ebenso Themen wie die Produktionsbedingungen in der Sportbekleidungsindustrie oder der angebliche „Fußballkrieg“ zwischen El Salvador und Honduras. Ein langer Block von sechs Beiträgen untersucht die spezielle Situation des Frauenfußballs bzw. der Spielerinnen. Zwei davon konnten die ila-LeserInnen in der letzten Ausgabe finden.
Aber Fußball ist auch Gegenstand von (linker) Politik. Die Solidaritätsbewegung mit Chile nutzte 1974 die internationale Aufmerksamkeit während der WM in Deutschland für eine spektakuläre Aktion gegen die Militärjunta. Bolivianische Indígenas betreiben Organisierung um einen Fußballverein herum, die ZapatistInnen in Mexiko und autonome AntirassistInnen weltweit spielen Fußball. Gibt es vielleicht doch so etwas wie „linken“ oder „rechten“ Fußball? Und steht dafür etwa ausgerechnet César Luis Menotti, der die argentinische Nationalmannschaft erstmals zur Weltmeisterschaft führte – und das just 1978 im eigenen Land, als dort die blutigste Militärdiktatur Lateinamerikas herrschte? Dieses Thema begegnet uns später noch einmal wieder, wenn im Zusammenhang mit Fußball in Argentinien auch über die deutsche Solidaritätskampagne „Fußball ja – Folter nein“ und den medialen Umgang damit in der BRD von 1978 berichtet wird.


Der Rest ist wirklich Fußball. Der Reihe nach kommen erst mal die Länder dran, die man allgemein für die wichtigsten lateinamerikanischen Fußballländer hält: Brasilien, Argentinien, Uruguay – halt, das stimmt schon nicht mehr, da geht's vorher noch um Mexiko, das zwar ohne internationale Triumphe dasteht, aber dem zweimaligen Olympiasieger und ebenso häufigen Weltmeister vom Rio de la Plata längst den Rang abgelaufen hat. Selbstverständlich erfahren wir hier etwas über die herausragenden Spieler der letzten Jahrzehnte: Pelé, Mané Garríncha, Alfredo di Stefano, Diego Armando Maradona, Hugo Sánchez werden umfassend gewürdigt, im Folgenden auch noch José Luis Chilavert aus Paraguay und Carlos Alberto Valderrama aus Kolumbien.


Immer wieder muss leider über die Krise des Fußballs in Lateinamerika geschrieben werden. Das betrifft oft nicht einmal so sehr seine Qualität (obwohl in Ländern wie Uruguay schon Katzenjammer herrscht) als seine sozialen Bedingungen: Die Spieler verdienen miserabel. Einige hundert US-Dollar im Monat, manchmal gerade über dem Mindestlohn, sind für Profis normale Entlohnung. Es verwundert nicht, dass angesichts dessen viele so früh wie möglich ins Ausland wechseln wollen. So tummeln sich vor allem in europäischen Ligen bis in die untersten Spielklassen Brasilianer, Argentinier, Uruguayer und begeisterte oder begabte Jungs aus fast allen Ländern Lateinamerikas. Allein aus Brasilien kicken etwa 5000 Spieler in 72 ausländischen Ligen rund um den Globus. In Argentinien ist die Lage nicht besser und in Uruguay lebt ein allumfassendes privates Fußballimperium ganz wesentlich davon, diesen Spielerhandel zu betreiben. Dabei bleiben auch schon mal mehr als die Hälfte der fast zweistelligen Millionensumme an Ablösung, die der europäische Verein gezahlt hat, in den unbekannten Wegen des Steuerparadieses hängen.


Nicht unerwähnt bleiben dürfen einige Artikel über Fußball als neureligiöse Inszenierung. Am Beispiel einzelner Spieler wie auch des gesamten Umfelds wird deutlich, dass „Gott rund (ist)“. Leider beschränken sich die AutorInnen dabei auf ältere Einsichten wie die Bindung der Fans an „ihre“ Mannschaft („Gewinnen oder sterben“ ) und reflektieren den Fußball nur wenig auf dem Hintergrund der veränderten Rolle der Religion auch in Lateinamerika. Jeweils ein Artikel über die aktuellen WM-Teilnehmer Ecuador, Costa Rica und Trinidad und Tobago schließen den Band ab, der sehr weitgehend ein „rundes“ Lesevergnügen bietet, auch wenn die Lektorierung etwas zu wünschen übrig lässt.


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