Reportagen, Interviews und Hintergrundtexte fügen sich in Dario Azzellinis Buch "Venezuela Bolivariana - Revolution des 21. Jahrhunderts?" zu einem facettenreichen Bild. Fakten werden geliefert, Interpretationsansätze geboten, aufgeworfene Fragen jedoch nicht explizit vom Autor beantwortet. Unter ständiger Betonung der "Prozesshaftigkeit" des venezolanischen Wandels versorgt Dario Azzellini die LeserInnen mit Informationen, mit Material - Schlüsse zu ziehen bleibt allerdings ihnen selbst überlassen. Azzellini, der seit Jahren zwischen Lateinamerika und Deutschland pendelt und derzeit zum Thema "Partizipative und protagonistische Demokratie in Venezuela" promoviert, verarbeitet und kombiniert sein Wissen aus Theorie und Forschung mit seinen praktischen Erfahrungen.
Das Buch gliedert sich in vier Kapitel: Das erste Kapitel "Gesellschaft, Politik und Wirtschaft in Venezuela" versorgt die LeserInnen mit dem nötigen Vorwissen, um die Entwicklungen des Landes seit 1958 nachvollziehen zu können und die Zwangsläufigkeit des "bolivarianischen Prozesses" zu erkennen, der die Verschiebung der Verhältnisse der sozialen Klassen untereinander bewirkt. Durch den Verfall der Ölpreise in den 1980er Jahren gerät Venezuela, das bis dato als Vorzeigedemokratie Lateinamerikas galt, in eine Krise, die 1989 im "Caracazo"-Aufstand gipfelt. Die sozialen Spannungen wachsen. Es entsteht "ein Bewusstsein in der Bevölkerung über die eigene transformatorische Kraft", wie es im Buch heißt. Fehlgeschlagene Putschversuche führen in den Folgejahren nicht etwa zur Aufgabe der Ideen, sondern zu einer Korrektur der Strategie: die Organisation der Massen. 16 Jahre nach Gründung der Revolutionären Bolivarischen Bewegung (MBR) wird Hugo Chávez 1998 zum Präsidenten gewählt. Eines der zentralen Versprechen seiner Wahlkampagne ist die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die 1999 verabschiedet wird. Der Entstehungsprozess wird dominiert von der Beteiligung sozialer und Nichtregierungsorganisationen, die über Runde Tische und ähnliches direkt an der verfassungsgebenden Versammlung teilnehmen. Ein neuer Politikstil ist eingeleitet, der auf der Einbeziehung der Basisbewegungen beruht. "Um das Problem der Armut zu lösen, muss den Armen mehr Macht gegeben werden", lautet die These Chávez'.
Venezuela zwischen Aufbruchsstimmung ...
Eben diesen Bewegungen widmet sich Azzellini im zweiten und umfangreichsten Kapitel "Gesellschaftliche Reformen und Basisbewegungen von unten". In der westlichen Medienlandschaft ist es Chávez, der stets im Vordergrund steht. Azzellini hingegen beschäftigt sich ausführlich mit den ProtagonistInnen der Basis: Indigenen-Organisationen, ArbeiterInnen, die Fabriken bestreiken und übernehmen, LandarbeiterInnenkooperativen, um nur einige zu nennen. Die "Mobilisierung der Unterklassen" geht einher mit dem Aufschwung und der Radikalisierung der Gewerkschaften, mit Agrarreformen, mit der Nutzbarmachung der Erdölressourcen für die soziale Entwicklung, mit der verfassungsmäßigen Verankerung sozialer und politischer Rechte. Doch wie weit gehen die sozioökonomischen Veränderungen wirklich? "Derweil herrschen in Venezuela weiterhin kapitalistische Verhältnisse, und der Diskurs ist - notwendigerweise - weiter als die Realität", schreibt Azzellini. Die traditionellen Eliten sind in die Opposition gedrängt, behaupten jedoch ihre ökonomische Vorherrschaft. Eines der größten Probleme des Landes ist noch immer die Korruption. Zwar gab und gibt es personelle Veränderungen innerhalb der Regierung, doch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass sich zahlreiche Angehöriger der alten politischen Klasse "lediglich in ihrer Rhetorik den neuen Umständen angepasst haben". Auch die venezolanische Medienlandschaft transformiert sich nur langsam. Große, oppositionsnahe Anbieter bestimmen das Bild, das von den Basismedien nach und nach durchwandert wird. Freie Radios und Fernsehsender, Printmedien, die sich mit dem bolivarianischen Prozess solidarisieren, der Regierungspolitik aber auch kritisch gegenüberstehen. Chávez rief die "Revolution in der Revolution" aus. Die Selbstorganisation von unten schreitet voran. Es herrscht eine Aufbruchstimmung in der zuvor marginalisierten Bevölkerung. "Millionen Menschen", schreibt Azzellini, "versuchen ihr Leben in die Hand zu nehmen" - angetrieben vom Regierungschef, der "in Diskurs und Praxis für eine Radikalisierung der Bewegungen, Forderungen und Politiken sorgt".
... und Widerstand der Opposition
Die beiden letzten Kapitel befassen sich mit der internationalen Politik des bolivarianischen Venezuelas und einer Einordnung ebendieses Prozesses. Chávez kehrt sich ab von den USA hin zu den Interessen Venezuelas. "Dabei steht die Vorstellung einer multipolaren Welt im Mittelpunkt, die ein Gleichgewicht herstellen und Hegemonialansprüche verhindern soll."
"Revolution des 21. Jahrhunderts?" - Basisorganisationen und Proteste sind "stark zersplittert", einzelne stehen Teilen des Regierungsapparates kritisch gegenüber, die Opposition hat die "Konterrevolution" begonnen. Die Transformation Venezuelas ist in vollem Gange. Wie weit sie voranschreiten wird, ist nicht zu beantworten. Auch Dario Azzellini urteilt nicht, doch zieht sich ein durchaus optimistischer Unterton durch das Buch - unterlegt von den Worten Chàvez': "so dass es einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu erfinden gilt."
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