1968, so sagt man, hat in Italien zehn Jahre gedauert. Erst mit der brutalen Zerschlagung der Autonomia Operaia und der Inhaftierung Tausender AktivistInnen Ende der 70er gelang die vorläufige Befriedung des Landes. Während die 80er Jahre in Italien oft als „bleiern“ beschrieben werden, setzte dort wie in vielen anderen Gegenden der Welt in den 90er Jahren eine Neuformierung der sozialen Bewegungen ein. Mittlerweile ist die italienische Linke die vielleicht mobilisierungsfähigste und kreativste Europas. Neben den zwei erfolgreichen Generalstreiks wurde dies hierzulande im letzten Dreivierteljahr vor allem durch die Millionen-Demos gegen die Abschaffung des Kündigungsschutzes bzw. den Irak-Krieg wahrgenommen. Zuvor hatten die Ereignisse rund um den G8 in Genua im Juli 2001 die sozialen Auseinandersetzungen in Italien ins Licht einer breiten Öffentlichkeit gerückt.
Ausgehend davon werden in einer Neuerscheinung nun die Praktiken und Diskurse der italienischen Bewegungen detaillierter vorgestellt. So viel schon vorweg: Dario Azzellini hat mit „Genua – Italien, Geschichte, Perspektiven“ einen ebenso lesbaren wie lesenswerten Sammelband vorgelegt. Das Buch lässt sich gleichzeitig auch als kurze Einführung in die wichtigsten politischen Ereignisse des Nachkriegsitaliens aus Sicht der außerparlamentarischen Linken lesen. Um den historischen, politischen und kulturellen Kontext der heutigen Bewegungen verständlich zu machen, widmet sich Azzellini eingangs den sozialen Kämpfen seit der (Selbst-) Befreiung vom Faschismus. Beginnend mit den revolutionären Ambitionen von Teilen der antifaschistischen WiderstandskämpferInnen über die Strategie der Spannung und die Niederlage von 77 bis hin zu Genua werden zentrale Etappen linker Politik benannt. Aufmerksamkeit wird auch den veränderten Rahmenbedingungen nach dem Zusammenbruch des Parteiensystems Mitte der 90er Jahre gewidmet. So befasst sich je ein Kapitel mit den drei Rechtsparteien Forza Italia, Lega Nord und Alleanza Nazionale. Diese Darstellungen zeichnen sich trotz ihrer Kürze durch Differenziertheit aus: So werden die gängigen Klischees widerlegt, wonach die Forza Italia eine faschistische Partei und die Lega bloß eine Folkloretruppe seien.
Da es unmöglich ist, in einem knapp zweihundert Seiten umfassenden Werk die gesamte Bewegungslandschaft Italiens abzubilden, beschränkt sich das Buch auf die drei wichtigsten Kräfte der radikalen Linken: Rifondazione Comunista, die Cobas-Gewerkschaften, sowie Tute Bianche/Disobbedienti und Umfeld. Letzteren wiederum wird am meisten Raum gegeben, da sie „einen der innovativsten Versuche linker Politik in Europa“ darstellen, wie Azzellini schreibt. Wer nun eine bewegungssoziologische Analyse erwartet, wird enttäuscht. Geboten werden vielmehr O-Töne und politische Statements aus den genannten Zusammenhängen. Der Vorteil dieser Darstellungsform ist offensichtlich: mögliche Interpretationen der AutorInnen treten hinter die Äußerungen der AktivistInnen selbst zurück. Dadurch erhält man eine Vorstellung von der Dynamik, die sich aus dem Handeln dieser höchst unterschiedlichen Bewegungen ergibt. Denn weder sind diese sich so grün, wie es die Massenveranstaltungen außenstehenden BeobachterInnen suggerieren mögen, noch handelt es sich um statische Akteure. Gerade das Disobbedienti-Spektrum vermittelt den Eindruck, äußerst dynamisch auf sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen reagieren zu können. Deutlich wird auch, welchen Einschnitt Genua für die Bewegungen bedeutet hat, sowohl was die Kreativität, die Entschlossenheit und Solidarität der unerwartet hohen Zahl an DemonstrantInnen betrifft, aber eben auch mit Blick auf die staatsterroristischen Angriffe, die im Buch als „versuchtes Massaker“ beschrieben werden.
Einziger Wermutstropfen bei diesem gelungenen Band sind die teilweise gehäuft auftretenden Tippfehler. Dafür wird die selbst gesteckte Zielsetzung erreicht, einen Einblick in die italienische Bewegungslandschaft zu bieten. Mehr noch: wer von spezifisch italienischen Bedingungen abstrahiert, wird hier viele wertvolle Anregungen für die eigene politische Praxis finden. Zudem kann dieser Band einen wichtigen Beitrag zu der in der deutschen Linken anhaltend geführten Diskussion um den Charakter der sogenannten globalisierungskritischen Bewegungen leisten. Nicht überall, wo über Globalisierung diskutiert wird, träumt man vom keynesianischen Wohlfahrtstaat. Nicht überall, wo globalisierungskritisch draufsteht, bleibt ein moderner und differenzierter Antikapitalismus außen vor. In diesem Sinne: eine widerständige Praxis ist möglich!