Analyse einer Revolution, 9.5.2011, Junge Welt

9.5.2011, Junge Welt

Analyse einer Revolution
Dario Azzellini liefert eine brillante Studie des aktuellen Venezuela


Von Helge Buttkereit

Wer sich über die Entwicklung des bolivarischen Venezuela informieren will, der kommt an Dario Azzellini nicht vorbei. Drei Filme, ein Buch und unzählige Artikel hat er bislang über die bolivarische Revolution vorgelegt, und alle haben Maßstäbe gesetzt. Sein neues Buch »Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Comune« ist die erste tiefgreifende politikwissenschaftliche Analyse des revolutionären Prozesses in deutscher Sprache, die sich insbesondere mit der Basisbewegung beschäftigt. Azzellini, der mit dieser Arbeit promoviert hat, steht dabei weiterhin solidarisch an der Seite von Hugo Chávez und seiner Bewegung. Warum, das klärt er auf den knapp 400 informativen Seiten des neuen Buches. Denn Azzellini sieht im »Bolivarianismus« – ich folge ihm an dieser Stelle in der Begriffsbildung, die offizielle Übersetzung lautet »Bolivarismus« – des neuen Venezuela der »Fünften Republik« eine Chance für eine wirkliche Veränderung. Eine Chance dafür, daß aus den bisherigen revolutionären Versuchen gelernt wurde und ein neuer, bislang noch nicht beschrittener, aber gleichwohl in einer bestimmten Tradition stehender Weg gegangen werden soll.

Azzellini beginnt seine Analyse in den 1930er Jahren. Neben dem Aufbau und der Krise des venezolanischen Parteiensystems ist dabei die Darlegung des Entstehens des »Bolivarianismus« als der spezifischen venezolanischen Befreiungsbewegung von besonderer Bedeutung. An deren Spitze steht Hugo Chávez, sie wird aber keinesfalls nur von ihm repräsentiert. Knapp zusammengefaßt ist diese Bewegung nach dem Scheitern der Guerilla der 1960er und 1970er Jahre in den Armutsvierteln entstanden, als die Aktivisten gemeinsam mit der Basis den Versuch begannen, die Verhältnisse von unten zu verändern. Die verschiedenen sich verbindenden Traditionslinien sind dabei sowohl in Europa (Rätebewegung, Gramsci, Pannekoek) als auch in Lateinamerika (Mariategui, Guevara oder sandinistische Revolution) zu verorten. Den Unterschied zum Leninismus und insbesondere zu dessen Staatsverständnis arbeitet Azzellini dabei schon in der Einleitung heraus. Er übersieht nicht die Bedeutung des Staatsapparats, kritisiert aber die Illusion, die Übernahme des Staates sei die wichtigste Aufgabe der Revolutionäre.

Zur theoretischen Tradition gesellt sich nach Azzellini als Basis für den Erfolg der bolivarianischen Revolution die Aufstandserfahrung. Nach dem antineoliberalen Hungeraufstand des Caracazo 1989 – dessen fehlendes Programm Azzellini leider nicht thematisiert – und vor allem dem Putschversuch von bolivarianisch gesinnten Militärs um Hugo Chávez verband sich nun diese Basisbewegung mit einer Bewegung von oben unter Führung von Chávez. Dieses Verhältnis, das bis heute andauert, beschreibt Azzellini als »Aufbau von zwei Seiten« und ihm widmet er den Hauptteil seiner Arbeit, der durch die theoretische Fundierung ein besonderes Gewicht bekommt. So gelingt es dem Autor, die Prozesse in ihrer Dialektik darzustellen. Dabei kommt ihm das zunächst etwas hölzern wirkende Konzept von konstituierter und konstituierender Macht zu Hilfe, das er bei Antonio Negri entlehnt hat.

Durch die so dargestellten Widersprüche zwischen der Basis, dem Volk, dem »pueblo«, das in ihrem konkreten Aufbau die »konstituierende Macht« darstellt, und der Bürokratie, der alten Elite, die als »konstituierte Macht« begriffen wird, lassen sich die Entwicklungen der vergangenen zwölf Jahre allerdings gut erklären. Dies beweisen die unterschiedlichen empirischen Teile, in denen Azzellini sich unter anderem mit den verschiedenen Sozialprogrammen, den Kämpfen der Arbeiter und insbesondere mit dem Entstehen, den Erfolgen und den Grenzen der kommunalen Räte, der »Consejos Comunales« befaßt. »Der Aufbau von zwei Seiten erfolgt in diesem ständigen Spannungsverhältnis [des oben und unten]. So sehr der Staat viele Prozesse möglich macht, so bremst er sie auch.« Daß Staat und Regierung nicht gleichzusetzen sind, wie es hier zunächst erscheint, stellt Azzellini klar: »Die Regierung ist das hybride Resultat des Zusammentreffens von Bewegungen und Staat, von etatistischen und antisystemischen Strömungen.«

Azzellinis neues Buch liefert nach »Venezuela Bolivariana« (2007, Neuer ISP Verlag) ein weiteres Handwerkszeug, um den revolutionären Prozeß zu verstehen. Dabei folgt er der Bewegung und steht quasi analytisch und solidarisch an ihrer Seite. Mit dem Problem, daß er an einer durchaus entscheidenden Stelle in der Bewegung steckenbleibt und in der Klassenanalyse den analytischen Schritt aus der Immanenz heraus unterläßt. Denn daß die venezolanische »Multitude«, das »pueblo«, sozioökonomisch – und damit trotz der Vielfalt auf der Erscheinungsebene auch klassenanalytisch – viel eher auf einen Nenner zu bringen ist, als es von der subjektiven Perspektive, die ihr zugrunde liegt, den Anschein hat, soll hier nur angemerkt werden. Daß die sozioökonomische Lage der Träger der Revolution auch Auswirkungen auf die Prozesse an der Basis hat, zeigt sich in Venezuela, kann aber im Rahmen dieser Rezension nicht weiter ausgeführt werden. Daß Azzellinis Arbeit Grundlagen für eine solche weitergehende Analyse liefert, zeigt wiederum nur ihre Stärke.

Dario Azzellini, Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Comune - Bewegungen und soziale Transformation am Beispiel Venezuelas, Hamburg, VSA-Verlag 2011, 404 Seiten, 24,90 Euro