Ein Marx-Zitat über die Pariser Kommune im Titel liefert das Motto dieses Bandes über Arbeiterräte, Arbeiterkontrolle und Arbeiterselbstverwaltung. Also über die Formen der Selbsttätigkeit der Arbeiterschaft, die auf die Beschränkung oder gar Ersetzung des Eigentumsrechts der Unternehmer abzielt. Eine politische Emanzipation, so Marx, wäre unmöglich, wenn sie nicht auch in einem wechselseitigen Verhältnis zur Umwälzung der Ökonomie durch die Produzenten stehe. Dieser Gedanke war in den neuen Protestbewegungen um 1968 weit verbreitet, verlor dann jedoch an Bedeutung, als die Ausrufung von Parteien plötzlich zum Dreh- und Angelpunkt jeglicher Emanzipation
erklärt wurde.
Der auch in dieser Zeitung schreibende Lateinamerikaexperte Dario Azzellini und der New Yorker Politikwissenschaftler Immanuel Ness, u. a. Herausgeber einer leider nur englisch vorliegenden Internationalen Enzyklopädie über Revolutionen und Proteste, haben linke Wissenschaftler und Aktivisten versammelt, die Fallstudien und Analysen zu Basisbewegungen der Lohnarbeiterschaft verfassten, darunter auch über weniger prominente, etwa aus der »Dritten Welt«. Den Länderberichten sind Beiträge vorgeschaltet, die eine Bilanz der bisherigen Erfahrungen und eine Theorie der Räte zu formulieren suchen. Es folgen Beiträge zu den »klassischen« Revolutionen
nach 1917 und zu Erfahrungen im »realen Sozialismus« (Polen und Jugoslawien). Ein weiterer Block umfasst Beispiele aus dem antikolonialen und demokratischen Kampf (Indonesien, Algerien und Argentinien sowie Portugal). Vier Aufsätze beschäftigen sich mit Arbeiterkontrollbewegungen, die nicht in einer revolutionären Situation
auftauchten, sondern unmittelbarer Ausdruck einer Gegenwehr gegen kapitalistische Umstrukturierungen darstellten: in den USA, in Großbritannien und in Italien der 70er Jahre sowie abschließend ein Beispiel aus Kanada. Schließlich werden aktuelle Entwicklungen in Indien, Venezuela und Brasilien beleuchtet.
Es ist schwierig, aus all den vielen Beispielen so etwas wie ein allgemeines Modell zu entwickeln. Dazu sind die jeweiligen Kontexte zu unterschiedlich. Zwischen einer gewaltigen politisch-militärischen Niederlage wie nach den beiden Weltkriegen und partiellen Betriebskämpfen liegen Welten. Ebenso ist der politische Kontext bestimmend: Ist ein mehr oder weniger demokratisches System gegeben oder nicht? Sodann bieten Parteien oder Gewerkschaften unterschiedlichen Antworten, von direkter Konfrontation bis hin zum Versuch, selbstständige und selbsttätige Bewegungen zu korrumpieren und zu vereinnahmen.
Nicht unwichtig ist auch der jeweilige ökonomische Spielraum. Und nicht zuletzt ist das gesellschaftliche Bewusstsein, sind die vorherrschenden Ideologien von entscheidender Bedeutung. Es stellt sich nicht nur die Frage nach dem Verhältnis von Räten in den Betrieben zur politischen Macht, sondern auch die nach den Beziehungen der einzelnen Betriebe unter Arbeiterkontrolle oder Selbstverwaltung zueinander.
Zu all diesen Fragen werden hier grundlegende Informationen geboten und zugleich versucht, daraus verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen. Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung betonen, finden sich in der Geschichte viele weitere exemplarische Fälle. Ein Folgeband sei möglich. Inzwischen bietet sich zur Fortsetzung und Vertiefung der Diskussion auch das Internet an. So gibt es die Website workerscontrol.net, die
mehrsprachig Artikel und Materialien zu diesem Themenkomplex umfänglicher als ein Buch publik machen kann. Ungeachtet dessen ist für dieses informative Buch zu danken. Eine Frage allerdings bleibt auch hier offen: Wie lässt sich die wachsende Zahl der informellen und prekären Arbeitskräfte in eine Bewegung zur Arbeiterkontrolle und Selbstverwaltung in Beziehung setzen? Wie können deren Rechte vertreten und durchgesetzt werden?
Dario Azzellini/Immanuel Ness (Hg.):
»Die endlich entdeckte politische Form«: Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute.
Neuer ISP Verlag. 540 S., br., 29,80 €.