Rezension aus "Das Argument" 276/2008, Das Argument, 276/2008

Das Argument, 276/2008

Azzellini, Dario: Venezuela Bolivariana. Revolution des 21. Jahrhunderts? 2. durchgesehene, überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Aufl ., Neuer ISP-Verlag, Köln 2007, (327 S., br., 19,90 €)

Holm, Andrej (Hg.): Revolution als Prozess. Selbstorganisierung und Partizipation in Venezuela, VSA, Hamburg 2007 (169 S., br., 14,90 €)

Twickel, Cristoph: Hugo Chávez. Eine Biografi e. 3. aktualisierte Aufl ., Edition Nautilus, Hamburg 2007 (352 S., br., 19,90 €)


Über den so genannten bolivarianischen Prozess in Venezuela kursieren viele Mythen und Vorurteile. Durch die Fokussierung und Beschränkung der meisten Analysen auf Staatspräsident Hugo Chávez gelangen viele Autoren schnell zu dem Schluss, sein Projekt sei undemokratisch, autoritär, staatszentriert oder auch reformistisch. Eine seriöse Beschäftigung zeigt jedoch schnell: Die in Venezuela stattfi ndenden Veränderungen sind wesentlich komplexer als zumeist dargestellt und die Unübersichtlichkeit von politischen und basisdemokratischen Organisationsformen machen es nicht gerade leicht, den politischen Prozess im Land zu verstehen. Zuletzt sind in Deutschland einige Bücher erschienen, die sich dieser Komplexität aus kritisch-solidarischer Perspektive annähern. Auffällig ist dabei der enge Kontakt der Verf. zu Basisgruppen des bolivarianischen Prozesses, deren Sichtweise im Mittelpunkt steht. So betrachtet, handelt es sich nicht um ein von oben diktiertes Projekt, sondern um einen konfl iktreichen Prozess, in dem Basisgruppen und Politfunktionäre jeweils um Einfl uss ringen und Chávez selbst bisher meist die Positionen der Basis unterstützte. 
Der Autor und Filmemacher Dario Azzellini hat mit seinem Buch bereits 2006 eine der bis dato umfassendsten Untersuchungen über die soziale, politische und wirtschaftliche Transformation in Venezuela vorgelegt. Er beschreibt und analysiert die Entwicklung zahlreicher für das bolivarianische Projekt charakteristischer Themen und Politikformen.

Viele der als misiones auch weit über Venezuela hinaus bekannten Sozialprogramme der Regierung in Bereichen wie Gesundheit, Bildung oder Wohnraum werden ausführlich dargestellt. Auch weniger beachtete Themen wie Gewerkschaften, Selbst- und Mitverwaltung in Betrieben, Landfrage, Rassismus, Umwelt, Frauen und Indígenas haben ihren Platz.

Gerade die »Vielfältigkeit der sozialen Organisierung«, die »weit über den traditionellen zentralen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit hinausreicht«, seien das Interessante am bolivarianischen Prozess (10). Die Rolle von Chávez sei dabei ambivalent. »Obwohl, oder vielleicht gerade weil, sich Chávez in seinem Diskurs nicht über die anderen hebt, stets ›el pueblo‹ ins Zentrum stellt, dessen Teil er ist, beginnt seine Figur zu der eines ›caudillo‹ zu werden« (295). Gleichzeitig sei es innerhalb der Regierung »vor allem Chávez selbst, der in Diskurs und Praxis für eine Radikalisierung der Bewegungen, Forderungen und Politiken sorgt«, während »die Radikalisierung in einem dialektischen Verhältnis mit den Basisbewegungen erfolgt und einen großen Teil der Institutionen und Regierungsparteien umgeht bzw. von diesen in der Praxis nicht mitgetragen wird« (307). Das hervorragend recherchierte Buch ist sowohl für Einsteiger als auch für Kenner der Thematik zu empfehlen und eignet sich auch als Handbuch. Trotz unverkennbarer Sympathien für den bolivarianischen Prozess übt Verf. auch Kritik und zeigt innere Widersprüche auf. Die Spannungen zwischen Basis und Politfunktionären bspw. zeigen, dass ein heterogenes Geflecht von Interessen besteht und die Zukunftsentwicklung noch offen ist.


In Andrej Holms Sammelband beschäftigen sich die Mitglieder der Gruppe MovimentoR mit zentralen Aspekten des bolivarianischen Venezuelas. Wie die Stadtpolitik in Caracas durch partizipative Elemente umgestaltet wird, beschreiben Holm und Matthias Bernt. Anhand der zwei Beispiele städtische Landreform und Kommunale Räte wird aufgezeigt, dass sich die Planungsmacht in der ›Stadt der Barrios‹ verschiebt. »Die Tragweite der aktuellen Veränderungen ist immens, denn sie zielen nicht nur auf ein ›Mehr‹ an Mitbestimmung [...], sondern sie streben ein völlig neues System der Stadtentwicklung an« (20). Stadtteilausschüsse und -kommitees übernehmen zunehmend Verantwortung, ohne dass dies einen Gnadenakt von oben darstellen würde. Da dies Konfl ikte zwischen verschiedenen Entscheidungsebenen impliziere, werde es mit zunehmender Konsolidierung der Kommunalen Räte dringlicher, »Formen der Verschmelzung von administrativen-bürokratischen und baisisdemokratischen Entscheidungsmodi zu finden« (35f). Holm und Bernt halten die in Caracas beobachteten stadtplanerischen Ideen aber »für einen neuen Ansatz, der nicht nur in Venezuela eine Demokratisierung der Stadtentwicklung einleitet, sondern auch für uns einige Denkanstöße bereithält« (37). Darüber hinaus enthält das trotz seiner Kürze tiefschürfende Buch erkenntnisreiche Beiträge über solidarische Ökonomie, Bildung und Gesundheit, Medienpolitik, die venezolanische Linke, den Bolívar-Kult und die Wirtschaftspolitik.


Einen ganz anderen Zugang bietet die bereits 2006 erschienene und mittlerweile in der dritten Aufl age vorliegende Chávez-Biografie des Journalisten Twickel. Hier werden die für die politische Entwicklung des Präsidenten wichtigen Ereignisse spannend erzählt. Sprachlich brilliant verbindet Verf. Anekdoten mit kenntnisreichen politischen Analysen. Nicht der comandante selbst, sondern die sozialen und gesellschaftlichen Prozesse der jüngeren venezolanischen Geschichte sind dabei die eigentlichen Protagonisten. Chávez´ Werdegang wird fast nebenbei erzählt. Dabei widmet das Buch sich insbesondere seinem politischen Leben, das von seinem privaten schon früh kaum noch zu unterscheiden war. So beginnt es mit dem großen Scheitern des Militärs Chávez, das dieser rückblickend jedoch zum Grundstein seines späteren Wahlerfolges machte. Nach einem dilettantisch durchgeführten Umsturzversuch gegen Carlos Andrés Pérez 1992, der drei Jahre zuvor den als Caracazo bekannten, antineoliberalen Aufstand niederschlagen ließ, durfte Chávez eine kurze Fernsehrede halten. Er forderte seine Mitstreiter auf, die Waffen niederzulegen, übernahm die Verantwortung für das Scheitern und sagte, die Ziele seien »vorläufig« nicht erreicht worden. »Eine Fernsehminute sollte dem bis dato unbekannten Fallschirmspringer genügen, um die gescheiterte militärische Erhebung in einen Mediensieg zu verwandeln« (17).

Erst danach setzt Twickel mit der Vorgeschichte des Putsches ab Anfang der 80er Jahre ein. Wirtschaftliche Krise und zunehmende Politisierung in den marginalisierten Barrios werden ebenso eingehend geschildert wie Chávez´ Aufstieg in den 90er Jahren. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf den Regierungsjahren seit 1999. Dabei wird vor allem klar, dass es sich keineswegs um eine Revolution ›von oben‹ handelt: »Wenn die Basisorganisationen auf mehr Entscheidungskompetenzen drängen, wenn die campesinos Landverteilungen einklagen oder indigene Organisationen gegen den Kohleabbau in ihren Gebieten demonstrieren, dann treten sie der politischen Klasse als die eigentlichen Vertreter der [...] Revolution gegenüber« (288). Zu Wort kommen neben eingefleischten Chavisten auch viele Oppositionelle und ehemalige Mitstreiter, die Chávez’ Projekt heute ablehnen.


Die drei fundierten Bücher grenzen sich von den gängigen Klischees ab und stellen nicht nur den Präsidenten in den Mittelpunkt. Freilich sind vor allem die Bücher von Azzellini und Holm angesichts der rasanten Entwicklung notwendigerweise Momentaufnahmen. So fehlen Analysen des verlorenen Verfassungsreferendums vom Dezember 2007 und der von Chávez forcierten Gründung der Vereinigten Sozialistischen Partei PSUV Anfang 2008. In beiden Fällen traten Differenzen zwischen Basis und Funktionären deutlich zutage.


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