Momentaufnahme, Detailansicht und Überblick, ila 298, September 2006

ila 298, September 2006

Dario Azzellini hat ein Buch über Venezuela geschrieben. Wohl kaum jemand hat das Land in den letzten Jahren so viel und so intensiv bereist und zu verstehen versucht wie er; daher versprach das Buch viel. Und es wurde gehalten.


Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter auch in der ila, hat Azzellini zur Diskussion über das neue Venezuela beigetragen. Mit einem Buch ließ er länger auf sich warten, nachdem das Jahr 2004 mit den Titeln von Raul Zelik und André Scheer erste gute Zusammenfassungen über den bolivarianischen Prozess gebracht hatte. Bis jetzt gewartet zu haben, ergab den Vorteil, dass spätere Ereignisse nicht nur erwähnt sondern auch eingeordnet werden konnten.

Die mehr als dreihundert Seiten sind in vier Kapitel gegliedert: „Gesellschaft, Politik und Wirtschaft“, „Gesellschaftliche Reformen und Basisbewegungen von unten“, „Bolivarianisches Venezuela und Internationale Politik“ und „Einordnung des Bolivarianischen Prozesses“. Für an Venezuela Interessierte bringt das Kapitel der Geschichte ab 1958, der Installierung des „Puntofijismo“, sowie über die Wende ab 1999 und die neue Regierung naturgemäß kaum Neues, aber schon in den folgenden Beschreibungen zum Putsch 2002 (S. 30 ff) und den Sabotageaktionen gegen die Ölindustrie 2002/03 (S. 52 ff) finden sich allerlei Details, die bis dato in den einschlägigen Werken unerwähnt blieben. Dabei kommen Dario Azzellini vor allem seine guten Kontakte in fast alle der für den Prozess relevanten Bereiche der venezolanischen Gesellschaft entgegen. In den Text sind auch ältere Interviews oder Reportagen eingebaut, die in jedem Fall lohnen. Richtig erfreulich: dieser Autor kommt ohne Verschwörungstheorien aus, sondern beschränkt sich auf Fakten.

Enorm interessant sind die Details über das venezolanische Wahlgesetz (S. 78 ff), die in dieser Form wohl den wenigsten bekannt sein dürften. Zu den Highlights des Buchs gehören auch die Teile über „die (nicht so) verdeckte US-Intervention in Venezuela“ und den Anschlag auf den Staatsanwalt Anderson im November 2004 (S. 95 ff). Auch die Gewerkschaftsbewegung, mit ihren „gelben“ und ihren fortschrittlichen Teilen, wird vom Auto kenntnisreich analysiert (S. 171 ff).

Dass der bekanntlich nicht aus der traditionellen Linken stammende Dario Azzellini auf die Basisbewegungen, die den Prozess in einer Weise tragen, die ihn durchaus von anderen emanzipatorischen oder revolutionären Prozessen unterscheiden, besonderen Wert legt, überrascht natürlich nicht. Dabei wird der Venezuela-Horizont von anders „linkssozialisierten“ Menschen erfreulich erweitert. Widersprüche innerhalb der bolivarianischen Kräfte (wie z. B. bei der Umsetzung der Landreform, S. 204 ff) werden nicht ausgespart; auch Umweltpolitik findet in dem lesenswerten Buch ebenso ihren Platz wie z. B. die Beteiligung von Frauen am Bolivarianischen Prozess oder die Rolle von Afrovenezolaner/innen und Indígenas darin.

Der internationale Teil mit dem äußerst interessanten Interview mit dem Soziologen Édgar Lander zur lateinamerikanischen Integration ist eine weitere Stärke des Buches. Dieses Kapitel wirft allerdings auch einige Fragen auf und hätte insgesamt eine kritischere Würdigung z. B. von Initiativen wie der Schuldenübernahme bei Ländern wie Argentinien oder Uruguay verdient gehabt, die – bei einer vielleicht eines Tages anders gestrickten Regierung in Venezuela – die sehr unangenehme Folge einseitiger Abhängigkeit nach sich ziehen könnte. Auch die facettenreiche Beziehung zu Kolumbien birgt eigentlich mehr als die Einschleusung kolumbianischer Paramilitärs in die westlichen Povinzen Venezuelas, z. B. was – trotz allem - die Zusammenarbeit im Öl/Gas-Sektor oder bei der militärischen Kooperation angeht. Schade istin diesem wie auch in den anderen Kapiteln, dass die Rolle Kubas (Bildung, Gesundheit) zwar - durchaus lobend - erwähnt aber nie wirklich eingeordnet wird (z. B. ideologisch). Dabei sollte doch vielleicht einmal die Erfahrung mit der Desinformationskampagne internationaler Medien hinsichtlich Venezuela durchaus zu einer neuen Annäherung an Kuba führen können – denn, dass es von den meisten unbeobachtet bleibt, heißt ja nicht, dass mit Kuba nicht genauso umgegangen wird wie mit Venezuela.

Venezuela Bolivariana – Die Revolution des 21. Jahrhunderts? Das Fragezeichen bleibt auch nach der Lektüre. Die Einordnung des Prozesses in Venezuela wird vom Politologen Dario Azzellini mit Hilfe von Theoretikern (Hardt/Negri, S. 300 ff) vorgenommen, die aber nicht recht gelingt, da sich die Realität (u. a. weil es sich um einen Ausbruchsversuch im nationalen Rahmen handelt) doch als sehr störrisch herausstellt. Eher greift die Theorie der „Radikalen Demokratie“ (Laclau/Mouffe, S. 303 f). Aber ein wesentliches Element dessen, was in Venezuela vor sich geht, ist die Prozesshaftigkeit, wie der Autor richtig feststellt. Deswegen wird auch die Diskussion weitergehen.


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