Ist Hugo Chávez ein Populist oder ein Revolutionär?« fragt der ISP-Verlag auf dem Klappentext des kürzlich erschienenen Buches von Dario Azzellini. »Tiefgreifende Veränderung oder bloß erdölfinanzierte Sozialprogramme?« Der Autor beantwortet die Fragen nicht explizit, liefert auf 300 Seiten aber jede Menge Material, das es dem Leser ermöglicht, eine Antwort zu finden. Faktenreichtum, Primärquellen – das ist die Stärke des Buches.
Azzellini hat in den vergangenen Jahren in Venezuela Hunderte Interviews mit Aktivisten sozialer Bewegungen, Gewerkschaftern, Militärs geführt. Er macht deutlich, daß der bolivarische »Prozeß« eine tiefgreifende Verschiebung in den Beziehungen der sozialen Klassen ist. Das 1958 etablierte Gleichgewicht zwischen einer vom Ölreichtum des Landes profitierenden, halbbürokratischen »Lumpenbourgeoisie« und einer klientelistisch beherrschten Massenbewegungen, gelben Gewerkschaften usw. geriet in den 80ern mit dem Verfall der Ölpreise in seine finale Krise, die ihren Höhepunkt 1989 mit dem spontanen »Caracazo«-Aufstand erreichte. In den späten 80ern verdichteten sich die sozialen Spannungen allmählich zu einem politischen Projekt. 16 Jahre vergingen von der Gründung der »Revolutionären Bolivarischen Bewegung« (MBR) durch eine Gruppe linksgerichteter Offiziere im Jahre 1982 bis zur Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten im Dezember 1998. Dazwischen lagen zwei erfolglose bolivarische Putschversuche (1992), darauf folgende strategische Korrekturen und der Schwenk vom Putschismus hin zum Aufbau einer Massenorganisation.
Was sich in den nächsten sieben Jahren ereignete, ist wohl am ehesten mit der radikalen Phase der mexikanischen Revolution unter General Lázaro Cárdenas (1934–40) vergleichbar: Gestützt auf eine breite Mobilisierung der Unterklassen wurde die Republik neu definiert: Festschreibung weitgehender politischer und sozialer Rechte in der Verfassung, Nutzbarmachung der nationalen Erdölressourcen für die soziale Entwicklung, Agrarreform, Aufschwung und Radikalisierung der Gewerkschaften, Arbeiterkontrolle, eine mutige, progressive Außenpolitik.
Azzellini analysiert, wie tiefgreifend die sozioökonomischen Veränderungen bislang tatsächlich sind – und dies ist eher ernüchternd: Der Staatsapparat wird nach wie vor von den traditionellen Eliten beherrscht (»90 Prozent der Justiz befinden sich in den Händen von oppositionellen Sektoren«), die ökonomische Realität bleibt, trotz aller Experimente mit Kooperativen, Verstaatlichungen und Arbeitermitbestimmung dominiert, kapitalistisch. Die Bourgeoisie hat die Kontrolle über die Regierung verloren, bleibt aber die ökonomisch herrschende Klasse. Auf der anderen Seite gibt es eine enorme Selbstorganisation von unten, in den Barrios, den Fabriken, auf dem Land. »Jenseits aller politischen Theorie und ökonomischen Analyse befinden sich in Venezuela Millionen Menschen in Aufbruchstimmung und versuchen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen«, schreibt Azzellini, beinahe Trotzki paraphrasierend, der meinte, der »unbestreitbarste Charakterzug der Revolution« sei die »direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse«, der »gewaltsame Einbruch der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke«.
Insofern ist klar: Die Revolution in Venezuela hat begonnen, der Wettlauf zwischen Revolution und Konterrevolution ist eröffnet, und – auch wenn dies einige Linke hierzulande, denen, wie Azzellini bemerkt, »Venezuela oftmals als Projektionsfläche für die eigenen Vorstellungen von einer ›anderen‹ Gesellschaft« dient– nicht gern hören mögen: Es ist längst nicht entschieden, wer das Rennen macht.
Und Chávez? Zweifellos ist er ein Revolutionär. Vor wenigen Jahren noch ein für die Geschichte des Subkontinents gar nicht so untypischer Linksnationalist, drängt der Präsident heute immer stärker in Richtung revolutionär-sozialistischer Maßnahmen. Doch: »Innerhalb der Regierung ist es vor allem Chávez selbst, der in Diskurs und Praxis für eine Radikalisierung der Bewegungen, Forderungen und Politiken sorgt«, betont Azzellini. Ob sich die Mobilisierungen und Organisationsprozesse an der Basis, so »stark zersplittert« sie heute noch ist, zu einem nationalen Netzwerk eigener Machtorgane und damit zu einer Herausforderung und Alternative für den immer noch bürgerlichen Staatsapparat entwickeln können, bleibt die offene Schlüsselfrage der venezolanischen Revolution.
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