In den letzten Monaten wurde in linken Kreisen wieder verstärkt über weltweite Aufstände diskutiert. Dabei fehlt die fast völlige Abwesenheit der Arbeiter*innenklasse in der medialen Berichterstattung über die Proteste auf. So verdient das Buch von Dario Azzellini «Vom Protest zum sozialen Prozess» besonders Aufmerksamkeit.
Auf knapp 150 Seiten hat Dario Azzellini einen guten Überblick über die selbstverwalteten Betriebe in Frankreich, Italien, Griechenland, Brasilien, Argentinien, Venezuela, Ex-Jugoslawien, den USA, der Türkei und Ägypten gegeben. Azzellini verwendet im Buch durchgehend den Terminus «rückeroberte Betriebe» (RBA) und führt den Begriff in der Einleitung so ein: «Als RBA werden Betriebe bezeichnet, die zuvor als kapitalistisches Unternehmen existier- ten und deren Schliessung oder Bankrott zu einem Kampf der Arbeiter*innen um eine Übernahme unter Arbeiter*innenselbstverwaltung geführt hat»
Die Kolleg*innen machten einen Prozess durch, den Azzellini bei allen von ihm beschriebe- nen Betriebe beobachtet hat: «Im Laufe des Kampfes entwickeln und übernehmen die meisten Betriebe egalitäre und direktdemokratische Praktiken und Strukturen und bauen Beziehungen zu anderen so- zialen Bewegungen und kämpfenden Arbeiter*innen auf». Der Autor beschreibt den langen Kampf der Belegschaft gegen die drohende Schliessung, der bei den verbliebenen Arbeiter*innen zu einen gesteigerten Selbstbewusstsein geführt hat: «Wir haben uns gegen Milliardäre erhoben. Sie haben gesagt, dass wir verrückt sind. Aber letztlich hat sich unser Wahnsinn ausgezahlt», wird im Buch ein Beschäftigter zitiert.
Behauptung auf dem Markt
Allerdings verschweigt das Buch auch die Niederlagen nicht. Ein trauriges Beispiel ist der Pharmabetrieb Jugoremdija in im serbischen Zrenjanin. Nach 2007 gelang es den Arbeiter*innen, den von den Eigentümern in einen betrügerischen Bankrott geführten Betrieb in Eigenregie zu führen. Doch in der Belegschaft kam es zu Spannungen zwischen Beschäftigten, die noch aus früheren Zeiten Anteile an der Fabrik besassen und anderen, die dort nur ihre Arbeitskraft verkauften. Als dann die Banken keine Kredite mehr gaben, musste der Betrieb Insolvenz anmelden und steht unter gerichtlicher Zwangsverwaltung. Auch in der Textilfabrik Kazova Tekstil in Istanbul eskalierte ein Streit zwischen einigen Beschäftigten und einer von anderen Teilen der Belegschaft unterstützten kommunistischen Gruppe, welche die Arbeiter*innen in ihrem Kampf sehr unterstützte. Die von der türkischen Regierung angedrohte Repression hat diese Auseinandersetzung natürlich verstärkt.
Doch auch erfolgreiche RBA wie Scop Ti müssen sich auf den Markt behaupten. Azzellini geht auf diese Problematik ein und formuliert sehr vorsichtig, «dass die RBA weder ihre Beziehungen zum Markt noch zum Staat auflösen können». Daher ist es auch etwas zweckoptimistisch, wenn der Autor nur wenige Kapitel später schreibt: «Die Arbeits- kraft der Arbeiter*innen eines RBA wird durch und für das Kollektiv genutzt. Arbeit hört auf, eine Last zu sein und wird zu einem Synonym der Würde, des Selbstbewusstseins und der Selbstentfaltung». Da hätte man sich bei der Lektüre des Buches gewünscht, dass Azzellini auf diese Alltagsprobleme von selbstverwalteten Fabriken im Kapitalismus noch ausführlicher eingeht.
Die Rolle der RBA in Venezuela
Das gilt auch für das Kapitel zu den rückeroberten Betrieben in Venezuela. Schliesslich gehörte Azzellini zu den wenigen Forscher*innen, die bei der Beurteilung des bolivarischen Prozesses nach dem Regierungsantritt von Chávez das Augenmerk auf die Selbstorganisation von Teilen der Bevölkerung in den Stadtteilen aber auch in den Fabriken gelegt hat. Gerade in einer Zeit, in der fast in allen Medien nur von der Krise in Venezuela die Rede ist, stellt sich die Frage, welche Rolle diese Ansätze von Selbstorganisation der Bevölkerung heute in Venezuela spielen und ob sie nicht dafür gesorgt haben, dass der rechte Regime-Change dort anders als in Bolivien bisher verhindert wurde. Daher enttäuscht es etwas, wenn das entsprechende Kapitel mit dem Satz eingeleitet wird: «In Venezuela ist die Situation wiederum ganz anders und viel zu komplex, um hier umfassend dargestellt werden zu können.» Diese Kritik schmälert allerdings nicht das Verdienst von Azzellini, in ein Buch einen Überblick über die selbstverwalteten Betriebe gegeben zu haben.
Lohnarbeit oder Commons?
Im dritten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der Frage, ob es sich bei der in den rückeroberten Betrieben geleisteten Arbeit um «Commons» handelt. Dabei handelt es sich um gemeinschaftlich hergestellte Produkte und Ressourcen, die nicht dem kapitalistischen Verwertungszwang unterworfen sind. Hier liefert der Autor auch mit Verweis auf den Arbeitsbegriff von Marx wichtige Bausteine für eine weitere Diskussion. Schliesslich betont Azzellini klar: «Lohnarbeit an und für sich kann nicht als Praxis des Commoning organisiert werden.» Daraus ergibt sich die Frage, ob diese Aussage nicht auch für die selbstverwalteten Betriebe gilt, solange sie für den kapitalistischen Markt produzieren müssen. Für Diskussionsstoff dürfte auch das letzte Kapitel sorgen, in dem er die selbstverwalteten Betriebe in den Zyklus der globalen Proteste des letzten Jahrzehnts einordnet. Damit zeigt er nicht nur die Rolle der in der Debatte oft vernachlässigten Kämpfe in den Betrieben auf. In einer Fussnote macht eine wichtige Einschränkung bei der Frage, welche Bewegungen dazu gehören: «So gehört das Beispiel des Maidans in der Ukraine, einer Platzbesetzung, die in eine nationalchauvinistische bis faschistische Mobilisierung abkippte, nicht in diese Reihe. Die Anerkennung der Gleichheit bei aller Unterschiedlichkeit ist eine der wesentlichen Grundlagen der neuen globalen Bewegung. Rassistische, faschistische oder nationalchauvinistische Parolen waren auf allen anderen Plätzen ausgeschlossen. Am Maidan waren sie von Beginn an (minoritär) präsent und wurden toleriert. Insofern war der Maidan nicht Ausdruck der neuen globalen Bewegung.»
Das ist eine wichtige Klarstellung, in einer Zeit, in der in machen linken Debattenbeiträge wieder von der globalen sozialen Bewegung von Hongkong über Ecuador, dem Iran, Irak, Libanon geschwärmt wird. Dabei wird eben ausgeblendet, dass es sich dabei auch um tendenziell rechte, wie in Hongkong prokolonialistische Bewegungen handeln kann.
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