Wer einmal einen anderen Blick auf den Fußball werfen will, der bekommt hier kritische bis ganz betont parteiische Antworten auf die Frage, was Fußball auf einem Kontinent bedeutet, der immer noch unter Armut und Unterdrückung leidet. Dort, wo er ganz anders als in Europa immer im Blick der Intellektuellen war und dennoch das Opium des Volks darstellt. Ein sportspezifischer Beitrag wie der Versuch einer Theorie des brasilianischen Fußballs ist hier eine Seltenheit. Fußball ist mehr als nur ein Sport und nicht nur eine – nicht immer säkulare – Ersatzreligion, sondern auch ein wirtschaftliches, politisches und mithin ein umfassend gesellschaftliches Phänomen.
In die Bereiche „Götter und Helden“, „Ballspiele und Geschichte(n)“, „Professionalisierung und Kommerzialisierung“, „Frauenfußball“, „Fußballkultur“ und „Fußballpolitik“ teilen die beiden Herausgeber, Dario Azzellini und Stefan Thimmel, die Thematik dieses Sammelbandes. Der Politikwissenschaftler Azzellini ist für seine Liebäugelei mit dem umstrittenen Präsidenten Venezuelas bekannt, während der Interfan und freie Journalist Thimmel in Montevideo als Gutachter für die internationale Entwicklungsarbeit tätig ist – für diesen Band haben sie Journalisten, Juristen und Wissenschaftler aus allerlei gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen zu Wort kommen lassen, die allesamt in ein linkes Spektrum einzuordnen sind. So erstaunt es auch nicht, dass ein Beitrag nicht von einem einzelnen Autor, sondern von einem Kollektiv (dem Autonomen Kollektiv Bielefeld) verfasst ist; so etwas wird man wohl nur in Veröffentlichungen linker Verlage wie Assoziation A finden. Eine vielleicht zu befürchtende Einseitigkeit oder politische Instrumentalisierung gibt es hier aber nicht: Kritische Analysen und utopische Ansätze, die einander nicht nur einmal widersprechen, finden hier Platz und das einzige, was alle Autoren eint, ist die Faszination für Fußball. Die einen sehen im linken Fußball in Tradition eines Menotti eine Waffe gegen neoliberale Ideen, während ein Krysitan Woznicki in dem medial hochgezüchteten Fußballhelden nur Figuren sieht, mit denen die Massen von ihren prekären Lebensbedingungen abgelenkt werden sollen.
Wer glaubt, dass Unwissenheit Segen sei, sollte das Buch besser nicht in die Hände nehmen: Die Arbeitsbedingungen, unter denen in den Weltmarktfabriken Zentralamerikas die Waren von Adidas, Nike und Co. hergestellt werden, werden ebenso gnadenlos aufgedeckt, wie der skandalöse Spielerhandel, der der Fortentwicklung des Vereinsfußballs im Weg steht. In einem weiteren Beitrag wird das Märchen des Fußballkriegs zwischen El Salvador und Honduras von 1969 entzaubert. Und auch über die Verbindung von Fußball und Religion erfährt der Leser hier Vieles: Wer weiß schon, dass die stark religiösen, sich ständig bekreuzigenden und ihren Messias bewerbenden brasilianischen Fußballer aus evangelikalen Allianzen stammen und keineswegs einem katholischen Volksbrauchtum zuzuordnen sind?
Obwohl Lateinamerika im Blickfeld von Futbolistas liegt, erfährt man auch, wie sich Deutschland und der DFB bei der WM 1974 dadurch mit Ruhm bekleckerten, dass sie die Proteste gegen die chilenische Militärdiktatur zensierten; Aktivisten hatten während des WM-Spiels Deutschland-Chile im Berliner Olympiastadion Transparente mit der Aufschrift “Chile sí, Junta no” entrollt, doch die Fernsehanstalten waren angewiesen worden, diese Bilder auszublenden. In Berichten über soziale Projekte in Rio de Janeiro und die schwierigen Entwicklungen des Frauenfußballs in noch stark patriarchalisch geprägten Kulturen zeigt sich aber, dass der Sport auch integrierende Wirkung haben kann. Das bunte Bild dieser Essay-Sammlung wird unter anderem durch ein die Neo-Theologie eines Maradona feiernden Gedichts und ein Interview mit zwei Brasilianerinnen, die bei Turbine Potsdam vor allem auf der Bank sitzen, ergänzt.
Sprachlich wird Futbolistas von anspruchsvollen, journalistischen Texten beherrscht, während sich ein, zwei Autoren in etwas gespreizten wissenschaftlichen Termini ausdrücken. Dies schmälert aber den guten Gesamteindruck kaum. Wie man es leider von den alternativen Verlagen gewohnt ist, finden sich ein paar nicht behobene Flüchtigkeitsfehler neben einigen Druckfehlern wieder. Glücklicherweise hält es sich aber in Grenzen, dennoch ist das Lesevergnügen dadurch leider hin und wieder gestört. Auf Grund des Sammelbandcharakters finden sich einige Dopplungen und der ein oder andere Beitrag hätte auch kürzer sein können. Man muss sich die Zeit für die teils komplexen Themen nehmen und sich darüber bewusst sein, dass Futbolistas keine Gute-Nacht-Lektüre ist, die man in einem Stück lesen kann.
Fußball ist eine Miniaturvariante unserer Welt als Ganzem, und das hier nur angedeutete Spektrum des Sammelbandes mag als Empfehlung für jeden verstanden sein, der sich den Worten von Eduardo Galeano, einem der bekanntesten politischen Schriftsteller Lateinamerikas, anschließen will: “Um die Welt zu verstehen, ist es sicherlich nicht schlecht, sich in die Fußballwelt zu vertiefen, um zu verstehen, wie die Welt funktioniert.”
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