Laboratorium Italien, 
Frankfurter Rundschau, 16.09.2003


Frankfurter Rundschau, 16.09.2003

Genua ist Ausgangsort und Symbol der Protestbewegungen in Italien. Die Demonstration hunderttausender Menschen gegen den G8-Gipfel im Juli 2001 lenkte den Blick auf das Italien Berlusconis, dessen Ordnungskräfte zwei Monate nach dem Wahlsieg des Mitte-Rechts-Bündnisses in Genua ihren blutigen "Einstand" gaben. Die wachsende, äußerst vielfältige Protestbewegung war weder durch dieses, einer Militärdiktatur "würdige" Vorgehen, noch durch die von der Staatsanwaltschaft Genua im Dezember 2002 angekündigte Schließung der Akten im Falle des erschossenen Carlo Giuliani einzuschüchtern. "Die Bewegung der Bewegungen", wie sie in Italien genannt wird, hat seit Genua vielmehr enorm an Bedeutung gewonnen.

Der in Berlin lebende Sozialforscher, Autor und Filmemacher Dario Azzellini stellt nun in seinem schlicht Genua betitelten Sammelband diese Bewegungen dem deutschen Publikum vor. In den siebziger Jahren galt Italien als das interessanteste "Versuchslabor" außerparlamentarischer linker Politik. Und als ein solches könnte es sich in Zeiten der Globalisierung mit dem Feindbild einer neuartigen Politikerfigur wie dem Unternehmer Berlusconi neuerlich entpuppen. Das jedenfalls ist die Ausgangsthese von Azzellini, der zu Recht beklagt, dass über die Hintergründe dieser Bewegungen hierzulande kaum etwas zu erfahren ist. Sein Buch unterteilt er sinnvollerweise in einen historischen und einen aktuellen Teil, um der "herrschenden Desinformation" mit Fakten und Argumenten begegnen zu können. Denn ohne Kenntnisse der Geschichte linker Bewegungen und rechter Parteien in Italien lässt sich die aktuelle Entwicklung kaum verstehen. Dass es sich bei der Berichterstattung im Falle Genuas häufig um gezielte Desinformation gehandelt habe, zeigt Azzellini an Beispielen aus der in- und ausländischen Presse. Viele Aktionsbündnisse und Gruppen der No Global-Bewegung wurden umstandslos mit dem "Schwarzen Block" gleichgesetzt und als "gewalttätig" abgestempelt.

Die Gruppe "Tute Bianche", die sich nach Genua in "Disobbedienti", Ungehorsame, umtaufte, steht im Zentrum der Darstellung, ist sie mit ihren Aktionsformen doch das interessanteste Beispiel für den Versuch, theoretische Reflexion und praktische Politik phantasievoll (wieder) zu verbinden, ausgehend von einer kritischen Gesellschaftsanalyse mit zapatistischen und marxistischen Elementen.
Der erste Beitrag zeichnet das Geschehen in Genua von Juli 2001 bis Juli 2002 nach, als anlässlich des Todestages von Carlo Giuliani Hunderttausende auf die Straße gingen, und macht deutlich, warum die Erfahrungen von Genua für viele junge Menschen ein Schlüsselerlebnis waren. Nach dem Vorbild des "Genua-Social-Forum", das die Proteste organisiert hatte, entstanden in ganz Italien Social Foren, die globalisierungskritische Ansätze mit innenpolitisch begründeten Protesten zu verknüpfen suchen.
Die beklemmende Geschichte einer italienischen Besonderheit wie der "Strategie der Spannung", mittels derer in den siebziger Jahren das innenpolitische System destabilisiert, linke Bewegungen zerschlagen und eine Atmosphäre des Terrors geschaffen worden waren, diese Vorgeschichte also, die "bis in die Gegenwart die politische Geschichte Italiens mitregiert", bringt Azzellini kenntnisreich in Erinnerung. Die Beiträge von Marco Guarella über die Lega Nord, die alles andere als eine "folkloristische Erscheinung" ist, und den Aufstieg von Forza Italia Dank tatkräftiger Unterstützung durch die Mafia untermauern diese These.

Azzellini selbst ist 34 Jahre, eher jung also, und auch die in Interviews vorgestellten "Disobbedienti" sind zwischen 20 und 30. Das ist deshalb von Bedeutung, weil sich hier eine vermeintlich unpolitische Generation mit Aktionsformen - "vom zivilen zum sozialen Ungehorsam" - präsentiert, die ihren Eltern und Großeltern aus der 68er-Generation nicht fremd sein dürften. Wobei auch Kritik an der Politik autonomer Bewegungen geäußert wird, die in der Vergangenheit einen politisch kontraproduktiven Hang zur Abkapselung entwickelt hätten. Wie die Aktionsformen der "Disobeddienti" auch kulturkritisch praktisch werden, erläutert Roberto Bui. Er ist Mitglied des Bologneser Autorenkollektivs, das unter dem Pseudonym Luther Blissett gemeinschaftlich den Bestsellerroman Q verfasste.

Als erste Bestandsaufnahme außerparlamentarischer Bewegungen in Italien ist der Sammelband unbedingt zu empfehlen. Sein Verdienst besteht auch darin, das allzu düstere Bild eines von Neofaschisten und machtbewussten Unternehmern beherrschten Italiens zurechtzurücken. Über manche Holprigkeit in den Übersetzungen und Schreibfehler muss man großzügig hinweglesen. Leider fehlt ein Hinweis auf die neuen Bürgerrechtsbewegungen, die so genannten "Girotondini", die seit Januar 2002 auf die Piazza gehen. Es wäre interessant zu erfahren, woran das liegt.