Genua. Die malerische Stadt am Mittelmeer ist zugleich eine Metapher für das bislang heftigste Aufflammen sozialer Kämpfe in Westeuropa am Beginn des neuen Jahrtausends. Als solche wiederum ist sie umstritten. Während Bundeskanzler Schröder die Antiglobalisierungsbewegung als eine Ansammlung von „Gewalttätern“ bezeichnet hat und Italiens Regierungschef Berlusconi sie gleich mit den Taliban gleichsetzte, wird Genua von Teilen der Bewegung als „Beginn einer neuen Phase“ (Azzellini) bezeichnet. Diese zeichne sich einerseits dadurch aus, dass mit noch härteren Maßnahmen gegen antineoliberale Kritik gerechnet werden müsse, andererseits sich aber auch neue Aktionsformen innerhalb der Bewegung entwickeln. Mit der Folgenden Buchbesprechung sollen die im Semesterspiegel geführten Debatten um die GlobalsierungskritikerInnen wieder angefacht werden, die zum Beispiel mit der Kontroverse zwischen Andreas Hadamitzky (SSP 330) und Torsten Bewernitz (SSP 331) geführt oder im Artikel über den Studierendestreik in Mexiko-Stadt („Neoliberalismus und Hochschule“, SSP 332) angesprochen wurden.
Vom 19. bis 21. Juli 2001 fand in Genua das Gipfeltreffen der G8 statt. Während eine Demonstration für die Rechte der MigrantInnen am Donnerstag, den 19.07.2001 noch friedlich verlief, waren die beiden großen Demonstrationen am Freitag und am Samstag von massiven Ausschreitungen begleitet. Während die Polizei kleine Gruppen von RandaliererInnen am Rande der Demo gewähren ließ, wurde diese später ohne Anlass angegriffen. Über 700 Gruppen hatten zu den Protesten mobilisiert, 100.000 bis 300.000 TeilnehmerInnen aus den verschiedensten linken Spektren waren auch am Samstag gekommen. Am Freitag war der Demonstrant Carlo Giuliani von einem Carabiniere erschossen worden, während polizeiliche Übergriffe an allen Orten stattfanden, wie mittlerweile die Dokumentarfilme der Berliner Filmkollektive Kanal B und AK Kraak zweifelsfrei belegen können. Insgesamt gab es über 600, zum Teil schwer verletzte DemonstrationsteilnehmerInnen. Ein weiterer Höhepunkt der polizeilichen Gewalt war der unvermittelte Überfall auf die Diaz-Schule, bei dem schlafende DemonstrantInnen und JournalistInnen krankenhausreif geprügelt wurden: mehrere Rippen- und Kieferbrüche, ausgeschlagene Zähne und unzählige Platzwunden waren zu beklagen. Die Künstlerin Lisl Ponger setzte diesem Ereignis auf der documenta 11 ein eindrucksvolles fotografisches Denkmal.
Dario Azzellini hat die Geschehnisse, die nur unvollständig in der hiesigen Presse aufgetaucht waren und deren mediale Brisanz von den Anschlägen am 11.September überdeckt wurde, nochmals im Zusammenhang geschildert. Dem Buch kommt das Verdienst zu, die Proteste von Genua zudem einzuordnen in den Kontext einer politischen Gesamtsituation, ohne die weder die Schüsse auf Guiliani noch die ausufernde Polizeigewalt zu verstehen sind.
Dieser Zusammenhang heißt Rechtspopulismus und stellt in Italien mit den Parteien Forza Italia, Alleanza Nazionale und Lega Nord die Regierung. Rechtspopulismus ist nach dem britischen Kulturtheoretiker Stuart Hall nicht nur eine Ideologie, sondern ein politisches Regime, das sich in Folge der Krise des Wohlfahrtsstaates etablieren konnte. Darin werden Etatismus/ Bürokratie/ Sozialdemokratie/ Kollektivismus gegen Individualismus/ persönliche Initiative/ Verantwortung/ Leistung/ Freiheit polarisiert und in politischen Kämpfen auch und gerade jenseits der parlamentarischen Sitzverteilung zu Mehrheiten geformt. Diese polare Konstellation ist der Hintergrund, vor dem Azzellini resümiert:
„Die Botschaft der italienischen Regierung an die Demonstranten gegen den G8 war klar: Wer gegen die Weltwirtschaftsordnung demonstriert, ganz gleich in welcher Form, soll in Zukunft um seine Knochen fürchten“. So nachvollziehbar diese Einschätzung ist, so absurd wirkt im Nachhinein die Gewaltdebatte, die – bezogen auf die Demonstrierenden – weit gehend ohne Kenntnis der Geschehnisse reflexhaft losgebrochen war. Ein Imperativ griff um sich, der von der rechten Presse in Deutschland bis zu Mitgliedern der globalisierungsgegnerischen Gruppe Attac vertreten wurde: Die Gewalt und ihre TäterInnen sollten isoliert werden. Verantwortlich für die Gewalt sei einerseits die Polizei gewesen, die die „Anarchos“ nicht früh genug bzw. überhaupt nicht vom Rest der Demo separiert habe, und andererseits die Demonstrierenden, die sich derselben Unterlassung schuldig gemacht hätten. Der Wochenend-Leitartikel der Süddeutschen Zeitung vom 28./29.07.2001 argumentierte so, obwohl im Laufe der Woche klar geworden war, dass nicht bloß Autonome Autos in Brand gesetzt und Scheiben zerschlagen hatten.
Schon Wochen vor dem Gipfel wusste die italienische Polizei, dass die drei faschistischen Gruppen „Forza Nuova“, „Fronte Nazionale“ und „Comunita politica di avanguardia“ die Demonstrationen infiltrieren und aus ihr heraus die Polizei attackieren wollten. Ziel der Attacke war es, die „antagonistische Linke zu diskreditieren“, zitierte die Genueser Zeitung Il Secolo XIX aus dem der Polizei vorliegenden Dokument. Zur Beunruhigung innerhalb der Polizei gab das offenbar wenig Anlass, was auch wiederum verständlich ist, berichteten doch viele der zuvor geschundenen Verhafteten, dass sie in der Polizeikaserne in Bolzaneto am frühen Sonntag morgen von den Dienst Habenden mit dem Hitler-Gruß empfangen worden waren. Über die rechte Gesinnung der italienischen Polizisten gibt ebenfalls Azzellinis Buch Aufschluss, der die politischen und sozialen Kämpfe in Italien historisch nachzeichnet. In Bezug auf die tödlichen Schüsse auf Carlo Guiliani bleibt festzuhalten, was sich auf im Internet veröffentlichten Fotos schon im Juli 2001 andeutete: Die Notwehrthese ist nicht zu halten. Im Gegenteil: „Einiges spricht dafür, dass die Repression von höchster Stelle geplant und geleitet wurde. Der Einsatz von Schusswaffen war nicht nur einkalkuliert, sondern geplant. Es gab für die Carabinieri einen Schießbefehl.“ (Azzellini). Die „Strategie der Spannung“, die Ende der 1970er Jahre schon die außerparlamentarische Linke in Italien zerschlagen hatte, schien in und um Genua eine Neuauflage zu erfahren.
Durch von Faschisten verübte terroristische Aktionen, für die die Linke verantwortlich gemacht wurde, konnte eine Eskalation geschaffen werden, aus der die Rechten als Gewinner hervorgingen. Die Eingebundenheit der jetzigen Regierung in diese Strategie wird ebenfalls im Buch nachgezeichnet. Azzellini hat neben den eigenen Kapiteln ebenfalls Aufsätze anderer AutorInnen versammelt, die beispielsweise die Geschichte der einzelnen Parteien erzählen.
Dennoch hat Azzellini kein reines Antifa-Werk verfasst. Denn neben der Dokumentation der Repressionsgeschichte ist das zentrale Anliegen des Buches, die „Bewegung der Bewegungen“, wie in Italien die Antiglobalisierungsbewegung genannt wird, vorzustellen. Dabei macht die Mischung von Interviews, Reportagen und Analysen diesen Band zu einem äußerst lesenswerten Buch, das sich weder auf eine italophile noch auf eine antiglobalisierungsbewegte LeserInnenschaft beschränken sollte. International bekannt geworden sind neben den gewerkschaftsähnlichen Basiskomitees (Cobas) wohl vor allem die AktivistInnen mit den weißen Overalls, Tute Bianche. Inspiriert vom zapatistischen Aufstand in Mexiko hatten verschiedene linke Gruppierungen in den 1990er Jahren nach neuen Aktionsformen gesucht. Bei anderen Gipfeltreffen der Herrschenden wie z.B. in der IWF und Weltbank-Tagung Prag im September 2000 drückten sich die Tute Bianche, ausgepolstert mit Schaumstoff und mit Helmen geschützt, nur auf Basis des eigenen Körpers durch die Polizeiabsperrungen. In Mexiko begleiteten sie im Februar 2001 den zapatistischen Marsch in die Hauptstadt. Die weißen Overalls symbolisierten, darin den zapatistischen Masken ähnlich, die bis dato ungehörte, unartikulierte Menge. Als dieses Symbol sich zu einer Identi- tät zu verdichten begann und im Kontext von Genua die Tute Bianche als Hauptakteure der Gegenbewegung wahrgenommen wurden, legten sie das erprobte Mittel ab, um wieder „Werkzeug“ der Bewegung zu werden, wie eine Aktivistin es in einem im Band abgedruckten Interview ausdrückt. Das Ablegen der Overalls bedeutet aber keineswegs die Abkehr von dissidenten Praktiken. Seit 2001 gibt es die Unge horsamen (Disobbedienti). Ein Aktivist aus Bologna: „Die Disobbedienti sind die Fortsetzung der Tute Bianche, mit viel mehr Frauen und Männern, die diese Erfahrung teilen, in Italien und in Europa. Wir arbeiten gemeinsam mit vielen am Aufbau der Ungehorsamen. Aber die Disobbedienti haben ebenso wenig wie die Tute Bianche ein Programm, dem man sich anschließen könnte oder ein klares politisches Projekt. Sie wollen ein ständiges Fragen sein, ein zapatistisches fragend laufen, bei dem danach gesucht wird, wie man ungehorsam sein kann, wie man überflüssig werden kann als Bewegung. Das wird dann der Fall sein, wenn die Praxis des Ungehorsam und der Konstituierung der Rebellion gegen das Imperium uns übertrifft und weit über uns hinausgeht. Es ist ein Weg, der aus ständigem Fragen, aus zu bildenden Sprechweisen und Mythen, sowie aus von uns gemeinsam zu erfindenden Praxen besteht. Die Männer und Frauen, die den sozialen Ungehorsam annehmen und praktizieren, um ihn täglich neu zu definieren und erfinden. Das sind die Disobbedienti“. Aufschlussreich sind die geschilderten sozialen Auseinandersetzungen zwischen Rechtspopulismus und antineoliberaler Globalisierungskritik aber nicht nur für die Fans linker politischer Aktion, sondern überhaupt für das Verständnis politischer Prozesse innerhalb der gegenwärtigen neoliberalen Hegemonie.