Eine Vereinigung von Rentnern besetzt das lokale Büro einer ehemaligen Regierungspartei und richtet dort ein Zentrum ein, in dem sie Tanzkurse, Kulturveranstaltungen und Geburtstagsfeiern organisiert. Der besetzte Seniorenclub befindet sich in einem Armenstadtteil von Caracas und ist Teil einer Rätestruktur in Venezuela. In der öffentlichen Diskussion über dieses Land steht immer der telegene Präsident Hugo Chavez im Mittelpunkt. Die im letzten Jahrzehnt ausgebauten Elemente einer partizipativen Demokratie hingegen werden selten erwähnt. Der Berliner Publizist Dario Azzellini hat jetzt in einem Buch eine wissenschaftliche Untersuchung über diese Formen der Selbstverwaltung in Venezuela vorgelegt, an der niemand vorbeikann, der sich gründlicher mit der Situation in dem Land befassen will. Schon in den vergangenen Jahren hat Azzellini die bolivarische Revolution in Venezuela in Büchern und Filmen mit kritischer Solidarität begleitet. Von diesem Prinzip ist das auch das aktuelle Buch geleitet. Es beginnt mit einen Überblick über die venezolanische Gesellschaft, bevor Chavez mit einen gescheiterten Militärputsch auf der politischen Bühne erschienen ist. Er zeigt auf, wie zerstritten und marginalisiert die Linke in dieser Zeit waren. Gleichzeitig wurde mit dem blutig niedrig geschlagenen Caracazo, den Aufstand der armen Barriobevölkerung in Venezuela im Februar 1989, deutlich, dass die Ausgeschlossenen und auch von großen Teilen der damaligen Linken ignorierte Mehrheit der Bevölkerung Ya Basta sagte.
In dieses Vakuum stieß die von Chavez mitbegründete linke Bewegung in den Streitkräften, die mit Stadtteilkomitees, mit Frauen- und Gesundheitsgruppen, den Resten von Guerillagruppen der späten 70er Jahre, nicht aber mit den alten Parteien und Gewerkschaften kooperierte. Azzellini zeigt auf, das die Forderung nach einer neuen Verfassung mit Selbstverwaltungselementen von Beginn an ein zentraler Diskurs dieser neuen Bewegung war. Doch erst nach dem knapp gescheiterten Putschversuch im Jahr 2002 und mehreren Unternehmerstreiks in den folgenden Monaten entwickelte der Prozess der Selbstverwaltung eine besondere Dynamik.
Die unterschiedlichen Zivilgesellschaften
In seinem theoretischen Teil setzt sich Azzellini kritisch mit dem Diskurs um die Zivilgesellschaft auseinander, der eine große Rolle bei der aktuellen Berichterstattung vieler Medien über Venezuela spielt. „In der öffentlichen Debatte wurde die Zivilgesellschaft in einen neoliberalen Anti-Parteien-Diskurs eingebettet, der einen Widerspruch zwischen einen ineffektiven und korrupten Staat und einer phantasievollen, kreativen und partizipativen Zivilgesellschaft konstruierte. Anstrebenswert sei eine ideologiefreie Gesellschaft, welche die Aufgaben des Staates in Eigenverantwortung übernehme, in der es nur noch “Bürger“ gibt und die Ökonomie vor Forderungen im Namen der Demokratie geschützt wird.“ Dieser Mittelstandsperspektive stellt der Autor die Forderungen von bisher ausgeschlossenen Barriobewohner aus Venezuela gegenüber: „Die Forderungen der marginalisierten Sektoren zielen nicht auf eine zivilgesellschaftliche Öffnung, sondern auf einen direkten Protagonismus und konstituierende Macht. Die „zivilgesellschaftlichen“ Organisationen der Mittel- und Oberschicht hingegen rückten unter dem Eindruck des Caracazo die Verteidigung der eigenen Privilegien, die sie durch die Unterschichtenmobilisierung gefährdet sehen, in den Mittelpunkt“. Diese unterschiedlichen Lesarten der Zivilgesellschaft erklären auch, warum ein Großteil der hiesigen Medien von einer Einschränkung der Pressefreiheit reden, wenn die Lizenzen eines großen Fernsehsenders nicht mehr verlängert und dafür an Basis- und Communeradios vergeben werden. Diese reale Demokratisierung der Medien ist in den Augen der hiesigen großen Medienkonzerne ein Ausdruck von Zensur.
„In der Kritik erfolgt eine Vermischung der Pressefreiheit mit dem nicht existierenden Recht kommerzieller Medien, Sendefrequenzen zu erhalten“.
Deswegen ist es auch nicht erstaunlich, dass in einer Zeit während hiesige Medien Venezuela auf dem Weg in eine Chavez-Diktatur sehen, die Beurteilung der Bevölkerung des Landes ganz anders ist. „Nach Uruguay mit 66% hat Venezuela mit 59 % den zweithöchsten Bevölkerungsanteil des Kontinents, der sich mit dem Funktionieren der eigenen Demokratie zufrieden zeigt, während der lateinamerikanische Durchschnitt bei 37 % liegt“, schreibt Azzellini mit Verweis auf das Umfrageinstitut Latinobarometro, das seit 1995 repräsentative Umfragen in 18 lateinamerikanischen Ländern durchführt. Schon 2005 erhielt Venezuela auf einer Skala von eins bis zehn den Wert von 7,6 und damit den höchsten Wert bei der Einschätzung der Demokratie im eigenen Land.
Partizipation und Bürokratie
Azzellini liefert viel Zahlenmaterial über die Stadtteilorganisationen, die Arbeiterselbstverwaltung in den Fabriken und die dem Präsidenten direkt unterstellten Missiones mit denen Fortschritte im Bereich der Bildung, der Gesundheits- und Lebensmittelversorgung und des Städtebaus vorangetrieben werden sollte. Dabei betont er die Erfolge, ohne die Fehler und Schwierigkeiten zu verschweigen. Bürokratische Tendenzen gehören ebenso dazu, wie die Korruption, aber auch eine Passivität sich bei Teilen der Bevölkerung.
„In den neuen Institutionen... besteht die Gefahr, Logiken der konstitutionellen Macht zu reproduzieren, wie etwa Hierarchien... und Bürokratisierung.“, schreibt Azzellini, benennt aber auch die Gegenkräfte. Es sind oft Menschen, die sich in den letzten Jahren durch die partizipative Demokratie politisiert haben und sie in den Stadtteilen, Fabriken und den Missiones selbstbewusst auch gegen die Bürokratie verteidigen.
Auch Kritik an Chavez außenpolitischen Positionen
„Wer hier wirklich den Prozess führt, das ist die Basis“, zitiert Azzellini eine dieser Stadtteilaktivistinnen. Der Autor hat für seine Arbeit Befragungen in verschiedenen Stadtteilen durchgeführt. Das Buch ist eine mit Fakten untermauerte Gegenrede gegen eine oft auf Halbwissen beruhende Aburteilung des bolivarischen Prozesses. Erfreulich, dass sich der Autor trotzdem den kritischen Blick bewahrt hat und auch die Gefahren nicht unerwähnt lässt, die einer emanzipatorischen Entwicklung in Venezuela auch aus den eigenen Reihen drohen könnten Ausgespart bleibt in dem Buch die mehr als fragwürdige aussenppolitische Bündnispolitik von Chavez, wie seine Unterstützung für Gaddafi und Ahmadinedschah. Auch hier dürfte die Partizipation der Bevölkerung nicht enden. Die Pro-Gaddafi-Positionen von Chavez werden an der bolivarischen Basis durchaus kritisch diskutiert und größtenteils auch abgelehnt, was ein sehr positives Signal in Bezug auf eine partizipative Demokratie ist. .
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