Bisher gibt es wenig Untersuchungen, die sich explizit mit den demokratisierenden Tendenzen in Gesellschaft und Wirtschaft Venezuelas auseinandersetzen. In seinem neuen Buch gelingt dem Venezuela-Experten Dario Azzellini ein tiefer Einblick in die Demokratie von unten und oben.
Kein Land steht beispielhafter für das Ziel, einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts aufzubauen als Venezuela. Kerninhalte dieses offenen Projekts sind ökonomische Transformation und Demokratisierung. Entgegen den Behauptungen, Venezuela rutsche in Autoritarismus und Totalitarismus ab, können besonders in Demokratisierungsbestrebungen große Fortschritte verbucht werden, so der Tenor des neuen Buches von Dario Azzellini Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Commune. Bewegungen und soziale Transformation am Beispiel Venezuela.
Azzellini ist hiermit ein wichtiger Beitrag zur deutschsprachigen Venezuela-Forschung gelungen. Ausgehend von einer historischen Erzählung der Ursprünge des bolivarianischen Projekts im ersten Teil des Buches, werden die Transformationsprozesse seit Amtsantritt des Präsidenten Hugo Chávez genau untersucht, in denen eine durchgreifende Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche angestrebt wird.
Im zweiten Teil des Buches beschreibt der Autor die Eingliederung großer bisher ausgeschlossener Bevölkerungsteile. Traditionelle und liberale Demokratiekonzepte verstehen Demokratie nicht als Gesellschaftsform sondern als Regierungstyp. Wahlen waren die einzige Partizipationsform, eine kapitalistische Elite teilte die Pfründe unter sich auf. Laut Azzelini führte dies zu einer starken Ablehnung der Mehrheitsbevölkerung gegenüber repräsentativer Demokratie und Marktwirtschaft. Dem entgegen wird von der bolivarianischen Bewegung ein Konzept propagiert, welches die Bevölkerung, el pueblo, als protagonistisch und souverän versteht. Von ihnen werden radikale, direkte und partizipative Demokratiekonzepte verfolgt. Die Trennung zwischen Lebenswelt und politischen System sei nun aufgehoben, konstatiert Azzelini. Dies habe dazu geführt, dass nun in immer mehr Lebensbereichen Demokratie erfahrbar sei und diese somit auch im Ansehen der Bevölkerung erheblich gewonnen habe.
Azzelini greift zur Unterscheidung von Basis und Regierung auf die theoretischen Konzepte von konstituierender und konstituierter Macht zurück, die Antonio Negri begründet hat. Auch in Venezuela selbst wird diese Konzeptionalisierung angewandt. Bevölkerung und soziale Bewegungen bilden demnach eine konstituierende Macht, die das System begründet. Die konstituierende Macht wird in die konstituierte Macht, welche die Regierung darstellt, integriert, sobald sich beispielsweise eine Verfassung gegeben wird und der Prozess innerhalb des Rechts administrativ weitergeführt wird. In diesem durchaus konfliktiven Verhältnis bleibt für eine protagonistische Demokratie jedoch die konstituierende Macht die souveräne Basis. Von Seiten der venezolanischen Regierung werden in diesem Modell Sozialprogramme aufgesetzt, die der Stärkung der konstituierenden Macht dienen sollen.
Eben diese Sozialpolitik der Regierung sowie die begonnenen Demokratisierungen der Wirtschaft und die Förderung von Unternehmen solidarischer Ökonomie sind zentrales Thema des dritten Teils. Umverteilung und ökonomische Transformation sind wichtige Bestandteile der Revolution.
Außergewöhnlich sei in Venezuela, dass die Regierung von oben die Entwicklung der konstituierenden Macht tatsächlich stärkt und fördert. In ganz besonderer Weise zeigt sich dies laut Azzelini in der Entstehung der Kommunalen Räte (CC), die sich vervielfachten, nachdem der Präsident deren Entstehung von oben propagierte. Hier zeige sich das Zusammenspiel zwischen gewachsenen sozialen Bewegungen als politische Akteure und der Regierung, die in der Manier eines potentiell revolutionären Populismus deren Stärkung befördert.
Seit Regierungsantritt werden Formen von Selbstverwaltung und Selbstregierung diskutiert, die Parallelstrukturen zur repräsentativen Demokratie schaffen und diese ablösen sollen. Nach dem Scheitern anderer Ansätze griff Chávez das von unten entstandene Konzept der Räte auf. Seit 2006 gewinnt diese Form lokaler Partizipation im Räteprinzip an Bedeutung. Im November 2009 wurden die CC gesetzlich verankert, denen sich Azzellini im vierten Teil widmet.
In einem CC können sich Menschen eines Stadtviertels oder einer ländlichen Region zusammenschließen. Anfangs wird mit Hilfe von PromotorInnen die Situation der Kommune diagnostiziert. Daraus wird ein Plan entwickelt, was getan werden muss. Aus diesem Plan wird eine Prioritätenliste erstellt und die wichtigsten Projekte werden aus öffentlichen Geldern fi nanziert. Entscheidungsgremium ist die Versammlung aller AnwohnerInnen ab 15 Jahren – also die Bevölkerung selbst. Laut dem Ministerium für Basismacht betrug die Anzahl der CC im April 2009 gut 30.000, während 10.000 weitere in Planung waren. Vorgesehen sind Zusammenschlüsse aus mehreren CC zu Kommunalen Städten. So soll mittelfristig eine Basis-Rätestruktur von unten nach oben entstehen.
Im empirischen Kapitel über die Räte gelingt es Azzelini ein sehr anschauliches Bild über die basisdemokratischen Organisierungsprozesse zu vermitteln. Begünstigt wird dies durch die Nähe. die der Autor zu seinem Forschungsgegenstand hat. Da Azzelini die Hälfte des Jahres in Caracas lebt, hatte er die Möglichkeit an lokalen Prozessen selbst teilzunehmen und so einen tiefen und ausgewogenen Einblick zu gewinnen.
Seine Forschungsergebnisse stellen eine wirkliche Neuheit dar und werden sogar in Venezuela selbst rezipiert. Durch zahlreiche Interviews mit BasisaktivistInnen kann der Blick auf Strukturen, Prozesse sowie um subjektive Perspektiven der Akteure erweitert werden. Von den Interviewten wird eine ungemeine Qualität an Selbstermächtigung beschrieben.
Selbstverständlich gibt es auch hier, neben den üblichen Problemen der Basisorganisierung, Spannungsfelder zwischen Regierung beziehungsweise Verwaltungen und den Forderungen der Räte. Auch das Verhältnis zu Verwaltungen in oppositionell regierten Bundesstaaten birgt Konfliktpotential. Zusammensetzung, Nutzung, Formen und Effektivität der Räte sind höchst unterschiedlich.
Es erstaunt angesichts dieser höchst lesenswerten Zwischenergebnisse auf dem Weg zu einer tiefgreifenden Demokratisierung der Gesellschaft, dass von Seiten nationaler und internationaler KritikerInnen immer wieder ein Verschwinden der Demokratie illusioniert wird. Die im allgemeinen schwache rechte Kritik kann in den meisten Fällen leicht widerlegt werden. Azzellini tut dies, spart aber selbst nicht an Kritik. Deutlicher als in seinem mit Oliver Ressler produzierten Film La Comuna werden im vorliegenden Buch die Heterogenität und die Probleme im Aufbau kommunaler Städte aufgezeigt. Ob sich dieses Konzept trotzdem in dem Sinne durchsetzen kann, dass immer mehr Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen, eine sozialistische Alternative von unten bilden und die traditionellen repräsentativen Regierungen abgelöst werden können, ist allerdings völlig offen.
Hanno Bruchmann
Dario Azzellini // Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Commune. Bewegungen und soziale Transformationen am Beispiel Venezuela // VSA // 2010 // 416 Seiten // 24,80 Euro // www.vsa-verlag.de
Anhang | Größe |
---|---|
Rezension_LN_Azzellini_55-56.pdf | 44.25 KB |
Links zu diesem Artikel: