Das Buch “Die endlich entdecke politische Form” (Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute) im ISP-Verlag 2012 erschienen, herausgegeben von Dario Azzellini und Immanuel Ness zu besprechen, ist eine Herausforderung der besonderen Art.
Der Umfang, obwohl gewaltig, ist nicht das Schwierige. Einleitung und 22 Beiträge auf 540 Seiten sind Lesestoff für längere Zeit. Dies führt dazu, dass auch für LeserInnen, denen das Thema keineswegs fremd oder neu ist, Themen dabei sind, Beispiele aus Ländern wie etwa Indonesien oder Algerien, die dann doch neu sind, die man, so überhaupt, bestenfalls am Rande wahrgenommen hat – von hier aus jedenfalls. Allein diese Vielfalt würde das Buch schon lesenswert machen (und weckt Interesse, den ungefähr angekündigten zweiten Band zu lesen, wie auch die Webseite workerscontrol.net zu besuchen, die zu praktischen Folgerungen führen soll, was hiermit ebenfalls empfohlen sein soll).
Die Herausforderung besteht vielmehr in der inhaltlichen Vielfalt: Sowohl, was die unterschiedlichen Situationen betrifft, in denen Arbeiterräte entstanden, als auch die unterschiedlichen Positionen von AutorInnen, mit denen sie jeweils die Grundprobleme, die immer wieder auftauchenden Fragen behandeln. Womit im wesentlichen zwei Fragenkomplexe gemeint sind: Arbeiterräte, Arbeiterselbstverwaltung und die, beziehungsweise in der Gesellschaft, sowie im besonderen das Spannungsverhältnis zu Gewerkschaften beziehungsweise (linken) politischen Parteien und die Frage der revolutionären Form – wie sie ja auch im Titel des Buches vorgestellt wird.
Naheliegend, dass die Grundfragen über das Verhältnis von Arbeiterräten und Gesellschaft sowie Parteien in der Oktoberrevolution allesamt auftauchen, wie sie es immer wieder in revolutionären Situationen (aber eben nicht nur) tun.
Eine Beurteilung dazu lautet so: “Trotz der unvergleichlich großen Flut an Fabrikübernahmen im Jahr 1917 sah die bolschewistische Führung darin vor allem einen Ausdruck des Aufruhrs gegen die Bourgeoisie. Die bolschewistische Spitze behandelte sie nicht als Modell für den Übergang zum Sozialismus. Während Lenin Gehorsam einforderte, drängte er auf den Einsatz früherer Kapitalisten in zentralen Leitungspositionen”. (Victor Wallis “Arbeiterkontrolle und Revolution” Seite 24).
Anders wird das hier gesehen: “Es war die unablässige Unterstützung für die arbeitereigene Räte-Organisationsform und revolutionäre Macht, die einzig und allein die Bolschewiki vollzogen, die diesen, zumindest während jenes kurzen und magischen Zeitabschnittes, die leidenschaftliche Gefolgschaft der russischen Arbeiterklasse einbrachte. Dies sollte nicht lange andauern”. (Sheila Cohen “Der Rote Maulwurf: Arbeiterräte als Mittel revolutionärer Transformation” Seite 84).
Daselbe Grundproblem anderswo und in anderer Zeit: “Das feindselige Verhalten der Industriellen und der Justiz gegenüber dem militanten Kampf der Kanoria-Arbeiter war zu erwarten. Die von der CPI(M) geführte Regierung der Linksfront hat ebenfalls eine feindselige Haltung gegen die Bewegung an den Tag gelegt. Ein Grund für dieses Verhalten liegt darin, dass die Kanoria-Arbeiter eine militante Gewerkschaft unterstützt haben und alle vier anerkannten Gewerkschaften verlassen haben, einschließlich derer, die der nationalen CITU angehören”. (Arup Kumar Sen “Arbeiterkontrolle in Indiens kommunistisch regiertem Bundesstaat” Seite 455).
Oder, nochmal anders: “Als Partner in der Provisorischen Regierung spielte die PCP sogleich ihre Trumpfkarte aus, ihren Einfluss in der Arbeiterbewegung. Sie distanzierte sich sofort von den wilden Streiks und den sie unterstützenden Arbeiterkomissionen (bei denen sie wenig Einfluss hatte). Binnen zwei Wochen organisierte sie eine Demonstration gegen die Streiks und klagte die Arbeiterkomissionen an, “ultralinks” zu sein, “das Spiel der Rechten zu spielen” und “Lakaien der Bosse” zu sein”. (Peter Robinson “Arbeiterräte in Portugal 1974-1975” Seite 331).
Immer wieder taucht diese Frage auf, am Ende des ersten Weltkrieges ebenso wie, konkret ganz anders, im Turin der 70er Jahre und im heutigen Venezuela.
Es gibt in verschiedenen Artikeln eine Tendenz, den “Stalinismus” für die Beendigung der Rolle von Arbeiterräten (mit)verantwortlich zu machen – was aber schon angesichts der Ereignisse in der Oktoberrevolution sehr kurz greift.
Denn bei Lektüre der Beiträge über Situationen, Gegenden und Zeiten hinweg, wird ein Muster deutlich: Dass die Bewegung von Fabrikräten (oder welche konkrete Form es dann auch immer annehmen sollte) sozusagen als ein Luxusgut betrachtet wird: In der zugespitzten aktuellen Lage ist das leider nicht möglich, später mal…vielleicht. Unabhängig davon, ob diese Positionierung ernst gemeint sei – wenn die Räte nur in “leichten Zeiten” taugen, werden sie eben niemals die “endlich entdeckte politische Form” sein, da kaum vorstellbar ist, dass revolutionäre Situationen in leichten Zeiten entstehen.
Eine Haltung, die in zahlreichen Beiträgen anhand verschiedener Sachfragen deutlich wird. Die von der besonderen Kompliziertheit je aktueller Situationen handeln – also die Frage der “Kompetenz” stellen, fachlicher oder politischer Natur – wie der proklamierten Notwendigkeit des Taylorismus in Russland, des Investoren-Programms in Westbengalen, oder des drohenden faschistischen Putsches in Portugal. Es wird dabei auch deutlich, welche Debatten sich eigentlich aufdrängen würden, ohne dass sie wesentlich weiter geführt worden wären: Was etwa die Arbeiter dafür begeistern soll, weiterhin im Taylorismus zu arbeiten, ihr Leben in dieser “Vorhölle” zu verbringen – oder andersherum gefragt, warum in revolutionären Organisationen so wenig darüber diskutiert wurde, ob es sinnvoll, zulässig oder auch nur möglich sei, eine andere Gesellschaft mit der im Kapitalismus entwickelten Produktionstechnik zu gestalten.
Diese Art Fragen stellen sich natürlicherweise umso mehr, je weiter es über die Betriebe hinaus geht – und auch dann, wenn es “nur” darum geht, einen selbstverwalteten Betrieb im kapitalistischen Ozean zu organisieren. In der Konkurrenzwirtschaft, die jede Marktwirtschaft ist – auch wenn sie in Jugoslawien war: In dem entsprechenden Beitrag wird die “Arbeiterselbstverwaltung” in Jugoslawien sehr ausführlich und konkret im Rahmen der sogenannten sozialistischen Marktwirtschaft analysiert.
Aber auch die anderen zentralen Fragen werden in dem Band diskutiert- wie die Organisation der Gesellschaft etwa, wobei der besondere Verdienst dabei vor allem in der “Wiederentdeckung” Karl Korschs liegt, der schon vor fast 100 Jahren den Unterschied zwischen Verstaatlichung und Vergesellschaftung hervorhob und Vorschläge zu einer vergesellschafteten Wirtschaft machte – was auch, ganz anders, in dem Beitrag von Elaine Bernard “Rezept für Anarchie: Die Besetzung von British Colombia’s Telephone 1981” wieder auftaucht.
Selbstverständlich kann solch ein Buch nicht die gesamten weltweiten Erfahrungen behandeln – aber die umfangreiche Auswahl dieses (esten?) Bandes ist gelungen und deckt auch die wesentlichen Konstellationen, sachlich wie zeitlich ab. Dass die AutorInnen unterschiedliche Standpunkte und Herangehensweisen haben ist eine positive Weichenstellung die eigentlich eine Debatte befruchten sollte.
Und es würde sich wirklich lohnen. sich darüber Gedanken zu machen, wie diese Debatte befördert werden kann oder könnte: Denn es ist eine notwendige Debatte. Nicht weil in einem Land wie der BRD in irgendeiner Weise eine entsprechende Bewegung abzusehen wäre. Sondern weil es eine programmatische Debatte ist – keine Parteiprogramme sind damit gemeint, sondern es geht um die Orientierung für all jene Kräfte, die Alternativen zum Kapitalismus suchen und entwickeln wollen. Dazu leistet das Buch einen wichtigen Beitrag, weshalb es jede und jeder, die mit dem Anspruch links zu sein leben und aktiv sind mit Gewinn lesen kann – gerade wenn der eine oder andere Beitrag Widerspruch hervorrufen.
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