Ende 2012 brachten Dario Azzellini und Immanuel Ness ein bemerkenswertes Buch heraus. Es schildert in Beiträgen von 22 Autoren (darunter vier Autorinnen) die vielfältigen Erfahrungen mit Arbeiterkontrolle, Arbeiterräten und Arbeiterselbst-verwaltung. Sicher mag der Umfang des Buches zunächst abschrecken, aber es ist eine Fundgrube an Berichten und Analysen. Es richtet sich nicht nur an betriebliche Aktivisten, sondern an die gesamte Linke, im Besonderen an jene mit revolutionärem Anspruch.
Arbeiterräte gab es nicht nur in der russischen Revolution. An den Anfang stellen die Autoren deshalb einen historischen Überblick und eine Kurzdarstellung der seit über hundert Jahren laufenden theoretischen Debatte. Wir zitieren aus der Einleitung:
«In den vergangenen hundert Jahren haben Arbeiterinnen und Arbeiter Fabriken und Betriebe besetzt; Arbeiterräte und selbstverwaltete Unternehmen in fast allen Weltregionen gegründet. Unter allen möglichen Regierungssystemen und Machtverhältnissen haben Arbeiter für Mitbestimmung in den Betrieben gekämpft, in denen sie arbeiten. Sie haben sich bemüht, Formen der Mit- und Selbstverwaltung oder der Arbeiterkontrolle zu entwickeln. Sie haben Genossenschaften und Räte gegründet und damit ihre historischen und materiellen Interessen unmittelbar ausgedrückt und manifestiert. Ohne selbst um frühere Erfahrungen mit Rätestrukturen zu wissen, schienen die einfachen Arbeiterinnen und Arbeiter in vielen Fällen die kollektive Verwaltung in Räteversammlungen für die am nächsten liegende Lösung zu halten. Unterstützer solcher Kämpfe haben früher wie heute auf die emanzipatorische Kraft autonomer Verwaltungsformen hingewiesen, die die Entfremdung und die autoritäre Kontrolle, die in kapitalistischen Arbeitsverhältnissen herrscht, durch demokratische Praxis überwinden können. Karl Marx betonte in seiner Analyse der Pariser Kommune, die er in Der Bürgerkrieg in Frankreich vornimmt, die Kommune sei ‹wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte›.»
Alsdann werden Erfahrungen dokumentiert, «die bisher weitgehend im Dunkeln lagen». Sie sind nur beispielhaft und bei weitem nicht erschöpfend. So ist z.B. kein Beitrag den Ereignissen des Mai 68 in Frankreich gewidmet, wo etwa die «Volksmacht» in Nantes oder das zentrale Streikkomitee von Saclay sehr fortgeschrittene Beispiele für Selbstorganisation und Selbstverwaltung in räteähnlichen Strukturen waren. Dennoch liegt das besondere Verdienst dieses Buches in der Dokumentation der Breite dieser Bewegungen. So werden Beispiele aus Deutschland, Spanien, Polen, Indonesien, Jugoslawien, Algerien, Argentinien, Russland, Portugal, Großbritannien, Kanada, den USA, Italien, Indien, Venezuela und Brasilien gebracht.
Die zusammengetragenen Berichte (sie wurden zum großen Teil für dieses Buch entweder aktualisiert oder neu verfasst) lassen auch Verallgemeinerungen zu: So entwickeln sich Betriebsbesetzungen und Räte in Umbruchsituationen und in Phasen zugespitzten Klassenkampfs. Ausgangspunkt ist zumeist ein Abwehrkampf gegen drohende oder stattgefundene Entlassungen. Die meisten Besetzungen finden allerdings statt, wenn der Betrieb schon Konkurs gegangen ist. Die Zielsetzung der Belegschaften ändert sich auch im Laufe der Kämpfe und ist stark abhängig vom jeweiligen ökonomischen und politischen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen.
Für mich am interessantesten waren die Beiträge von David Mandel (zu Russland) und von Marina Kabat (zu Argentinien). David Mandel arbeitet vor allem die Bedeutung der gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus, die Arbeiterräte entwickeln müssen, wenn sie nicht in die Sackgasse von selbstverwalteten Betrieben innerhalb des kapitalistischen Systems geraten wollen. Räte bilden sich oft spontan, doch für ihre politische Weiterentwicklung spielen organisierte revolutionäre Kräfte eine entscheidende Rolle (dies war schon 1905 deutlich zu beobachten).
Arbeiterkontrolle
Gerade am Beispiel Russlands (wie auch am Gegenbeispiel Spanien 1936/37) wird deutlich, dass Arbeiterkontrolle letztlich ein Instrument zum Sturz des kapitalistischen Systems sein muss, wenn sie auf Dauer wirken soll. In der jüngeren Geschichte zeigt Portugal 1974/75, dass ein revolutionärer Prozess sich nicht beliebig lange hinziehen kann. Entweder es gelingt der Arbeiterklasse, auch die politische Macht zu erobern, oder aber die Ansätze von Arbeiterkontrolle und Arbeiterselbstverwaltung werden wieder zerstört.
Forderungen nach Arbeiterkontrolle und Erfahrungen bei ihrer Durchsetzung – etwa die Verhinderung von Entlassungen, die Bestimmung des Arbeitstempos, gegebenenfalls die Öffnung der Geschäftsbücher usw. – haben allerdings auch dann eine Berechtigung, wenn ein Sturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung nicht absehbar ist. Das zeigen ebenfalls viele Berichte: Die Belegschaften wachsen zusammen, können Verbindungen zur breiteren Bevölkerung aufbauen, sie durchschauen leichter das kapitalistische Rentabilitätsprinzip (und bringen sich beispielsweise gegenseitig «vorher sorgsam gehütete Geheimnisse» bei), sie stellen Hierarchien in Frage und setzen oft auf egalitäre Entlohnungsformen, auf organisierte Bildungs- und Weiterbildungsprogramme usw. Allein die Tatsache, dass Entscheidungen kollektiv gefällt werden, löst gewaltige politische Lernprozesse aus. So können Veränderungen im Arbeitsprozess in Gang gesetzt werden, die etwa auf die Überwindung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit zielen.
Arbeiterräte haben dann eine systemüberwindende Perspektive – zu dieser Schlussfolgerung muss man nach der Lektüre kommen –, wenn sie nicht nur isoliert in diesem oder jenem Betrieb existieren, sondern sich vernetzen und den Kampf für eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufnehmen.
Argentinien 2001 bis heute
Ganz aktuell ist die Auswertung der vielfältigen Betriebsbesetzungserfahrungen in Argentinien, die Marina Kabat vornimmt. Wie entscheidend die allgemeinen Kräfteverhältnisse sind, führt sie beispielsweise so aus: «Eine der erdrückenden Beschränkungen besteht in der Betriebsverfassung, die sie sich zulegen müssen, um innerhalb des Kapitalismus legalen Status zu erhalten, also die Form von Kooperativen. Viele übernommene Fabriken haben sich dieser Lösung verweigert, es war jedoch die einzige für die Regierung akzeptable Option. Die übernommenen Fabriken entstanden nicht als Kooperativen. Im Gegenteil, sie entstanden als Arbeiterräte; das war bei den wichtigsten übernommenen Fabriken, darunter Zanón und Brukman, der Fall. Doch unter ökonomischem und politischem Druck sowie aufgrund von Repression beschlossen diese Arbeiterräte, sich in Kooperativen umzuwandeln.»
Innerhalb des kapitalistischen Systems sind selbstverwaltete Betriebe den Zwängen der Konkurrenz unterworfen – sie werden von Lieferanten und Abnehmern boykottiert, bekommen nur schlechte Teile geliefert, haben nicht genug Kapital oder eigene Mittel für technologische Neuerungen und werden früher oder später gnadenlos ausgehungert oder niederkonkurriert.
Arbeiterselbstverwaltung
«Die letzte Sammlung von Texten, die unterschiedliche Erfahrungen mit Arbeiterkontrolle behandeln, stammt aus dem Jahr 1971 und wurde unter dem Titel Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte, Arbeiterselbstverwaltung von Ernest Mandel herausgegeben», heißt es in der Einleitung. Ernest Mandel schrieb damals in der Einführung zu seiner Anthologie: «Das jedoch, was für den Staat gilt, gilt noch viel mehr für die Wirtschaft. Die kapitalistische Ökonomie kann nicht anders funktionieren als auf der Grundlage der Profitmaximierung. Jegliche ‹Beteiligung› von Arbeitervertretern an der Verwaltung der Wirtschaft verpflichtet sie, sich in diesem Rahmen an den ständigen Anstrengungen zur Rationalisierung des Betriebs zu ‹beteiligen›, die vor allem zu periodischen Einschränkungen der Zahl der Arbeitsplätze führen wird.»
Arbeiterkontrolle im Betrieb muss mit der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen usw. kombiniert werden. Für Mandel war die Arbeiterkontrolle, im Gegensatz zur Arbeiterselbstverwaltung, eine zentrale Achse eines Übergangsprogramms. Letztere gewann für ihn erst in einer revolutionären Situation und im Zusammenhang mit dem unmittelbaren Kampf um die politische Macht an Bedeutung.
Azzellini/Ness unterscheiden dies nicht so streng. Aber auch für sie ist Arbeiterkontrolle nicht einfach ein Instrument im Kampf um die Macht in Wirtschaft und Gesellschaft, sondern Vorbote einer wirklich sozialistischen Gesellschaft. Mandel drückte sich so aus: «Arbeiterkontrolle wird in einer vergesellschafteten Produktion nicht etwa überflüssig, sondern wird hinüberwachsen in eine tatsächliche Planung aller gesellschaftlichen Bereiche durch die Betroffenen selbst.» Welche Sprengkraft diesem Anspruch auch in nichtkapitalistischen Gesellschaften innewohnt, davon berichtet u.a. Zbigniew Kowalewski in seinem Beitrag über die Rolle der Arbeiterräte in Polen.
Der Band von Azzellini/Ness ist eine wertvolle Fortschreibung von Mandels Anthologie.
«Die endlich entdeckte politische Form». Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute (Hrsg. Dario Azzellini, Immanuel Ness). Köln: Neuer ISP-Verlag, 2012. 540 S., 29,80 Euro
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