Ein neuer Sammelband lotet Erfahrungen, Möglichkeiten und Grenzen von Arbeiterselbstverwaltung aus – Fabrikbesetzungen und Arbeiterkontrolle, in vielen Ländern der Welt spielen diese Kampfformen auch heute eine wichtige Rolle. Erinnert sei an die Kachelfabrik Zanon und das Textilwerk Bruckmann in Argentinien. Aber auch in Venezuela fand die Bewegung der besetzten Fabriken bei einem Teil der Internationalismusbe-wegung eine starke Beachtung, vor allem bei jenen, die ihren Fokus weniger auf Chavez und die Regierung als auf die Selbstorganisation der Bevölkerung richteten. Der Soziologe und Politik-wissenschaftler Dario Azzellini war einer der wenigen deutschsprachigen Autoren, die mit Büchern und dem Film „5 Fabriken“ Feldforschung auf dem Gebiet der betrieblichen Selbstorganisation in Venezuela betrieben.
Jetzt hat Azzellini das Thema ausgeweitet und gemeinsam mit dem US-Gewerk-schaftsforscher Immanuel Ness einen voluminösen Band vorgelegt, an dem niemand vorbeikommt, der sich mit der Geschichte von Fabrikräten und Selbst-verwaltung auseinandersetzt. Mit dem titelgebenden Zitat von Marx, einem Kommentar zur „Pariser Commune“, wird dabei ein weiter Bogen gespannt. Auf 540 Seiten wird, oft mit theoretischem Hintergrund und trotzdem auch für Nicht-akademiker verständlich, die Geschichte der Arbeiterselbstverwaltung dargestellt. Erfreulich, dass das Buch seit Dezember 2012 in deutscher Sprache erhältlich ist. Die Erstausgabe ist 2011 unter dem Titel „Ours to master and to own, Workers Control from the Commune to the present bei Haymarket Books, Chicago, Illinois erschienen. Schließlich kommt auch hierzulande die Frage der Selbst-verwaltung in der Fabrik immer mal wieder auf die Tagesordnung. Meistens geht es dabei allerdings um den Erhalt bankrotter Betriebe. Erinnert sei nur an die kurze Phase, als die Beschäftigten einer thüringischen Fahrradfabrik in Selbst-verwaltung Fahrräder, die berühmten Strike-Bikes, herstellten. Solche Fälle erfahren schnell viel Aufmerksamkeit auch von Menschen, die sich sonst nicht be-sonders für Fabrikkämpfe interessieren. Das Buch kann jedoch durchaus auch Bil-dungslücken beim interessierten Fachpublikum schließen, insofern es theoretische Exkurse und geschichtliche Rückblicke auf Erfahrungen mit Arbeiter-selbstverwaltung in einer internationalen Perspektive gibt. So finden sich neben bekannteren Beispielen aus der Zeit des spanischen Bürgerkriegs, den Räten der Novemberrevolution in Deutschland oder den Experimenten mit „Arbeiter-autonomie“ im Heißen Herbst Italiens etwa auch Beiträge zur Transformation der algerischen Arbeiterselbstverwaltung in Richtung „Staatsbürokratismus“, zur Arbeiterkontrolle in Java, zum jugoslawischen ‚Modell’ oder zum Kampf um Arbeitermacht in Polen, zur Bedeutung der Arbeiterräte in der portugiesischen Nelkenrevolution oder zu Fabrikbesetzungen im Großbritannien der 70er Jahre.
Gleich in der Einleitung geben die beiden Herausgeber eine Begründung, warum es bisher relativ wenig Literatur zu diesem Thema gab: “Die Gewerkschaften, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegründet wurden und innerhalb der staatlichen Strukturen agierten, beanspruchen ein Monopol auf die Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie hatten kein Interesse daran, an unabhängige Arbeits-kämpfe zu erinnern und sie zu fördern, da deren bloße Existenz die traditio-nellen gewerkschaftlichen Strukturen und ihre gesellschaftliche Rolle in Frage stellt. Die meisten linken sozialistischen und kommunistischen Parteien haben Arbeiterkontrolle ebenfalls nicht unterstützt, da diese der zentralen Rolle widersprach, die die Parteien für sich beanspruchen“ (S. 9f.).
Diese Frontstellung gegen den größten Teil der Gewerkschaften und etatistische linke Parteien bestätigen die 23 Autoren in den folgenden Kapiteln dann im Detail, indem sie konkrete historische Ereignisse untersuchen, in denen Fabrikräte in Konflikt mit einer Linken geraten sind, die selbstorganisierte Strukturen entweder vereinnahmte oder unterdrückte. So schreibt der US-Wissenschaftler Victor Wallis zur Situation der in Russland nach der Februar-revolution besetzten Fabriken: „Die bolschewistische Führung behandelte sie nicht als Modell für den Übergang zum Sozialismus. Während Lenin Gehorsam einforderte, drängte er auf den Einsatz früherer Kapitalisten in zentralen Leitungspositionen“ (S. 24). Neben dem russischen Beispiel untersucht Wallis die kurze Geschichte der Arbeiterräte in Italien 1920, in Spanien 1936 und in Chile in der Regierungszeit der Unidad Popular zwischen 1970 und 1973.
Aus trotzkistischer Perspektive liefert der britische Gewerkschaftsaktivist Donny Gluckstein einen Überblick über die Geschichte der europäischen Rätebewegung von der Pariser Kommune bis zur Gegenwart. Er stellt sich die Frage, warum nach 1945 die Rätebewegung keine Rolle (mehr) spielte. Verantwortlich dafür macht er die Zerschlagung der Arbeiterbewegung im Nationalsozialismus und im italienischen Faschismus, den Terror gegen selbstorganisierte Bewegungen im Stalinismus sowie die Orientierung der meisten Kommunistischen Parteien auf ein klassenübergreifendes Bündnis im Rahmen der Volksfrontpolitik in der Phase zwischen Mitte der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts und Ende des zweiten Weltkriegs (ich habe das etwas präzisiert, weil die Volksfrontpolitik erst Mitte der 30 Jahre begann.
In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag der US-Gewerkschaftsaktivistin und -Forscherin Sheila Cohen, die die Arbeiterräte als Mittel revolutionärer Transformation (S. 66) bezeichnet. Ihrem mehr agitatorischen Beitrag schließt sich eine theoretische Auseinandersetzung des mexikanischen Soziologen Alberto Bonnet an, der sich mit den Rätevorstellungen dissidenter Kommunisten beschäftigt, die im Zuge der Stalinisierung der Kommunistischen Weltbewegung in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts marginalisiert, aus den Kommunistischen Parteien ausgeschlossen und schließlich weitgehend vergessen wurden. Dieses Vorgehen begann nicht erst mit dem Stalinismus. So erinnert Bonnet daran, dass Rosa Luxemburg wegen ihres Eintretens für einen Massen-streik von führenden Sozialdemokraten ihrer Zeit schon um 1905 als Anarchistin bezeichnet wurde (S. 92). Fast aktuell hören sich die Zitate an, die Bonnet in Schriften des Linkskommunisten Karl Korsch ausgräbt. Dieser befasste sich schon in seiner 1919 verfassten Schrift „Was ist Sozialisierung?“ mit dem Unterschied zwischen Verstaatlichung und Vergesellschaftung. Dabei mache Korsch „schon seine Präferenz der Sozialisierung als direkte Aktion und seine Zurückhaltung gegenüber der Vergesellschaftung als Staatsakt deutlich“ (S. 98). Auch einem sehr modern klingenden Problem habe sich Korsch schon 1919 gewidmet: „Korsch ging in diesen Schriften von 1919 noch davon aus, dass die zentrale Herausforderung der Sozialisierung in den Interessengegensätzen zwischen Produzenten und Konsumenten liege, und suchte nach einer Synthese, die sie aussöhnen könnte“ (S. 98).
Die von Korsch aufgeworfenen Fragen sind auch hier und heute noch oder wieder aktuell, ganz im Sinne der Herausgeber, die ausdrücklich kein rein historisches Buch schreiben wollten. „Wie sehen die Dynamiken der Arbeiterkontrolle im neoliberalen Zeitalter aus, und wie unterscheiden sie sich von denen des Fordismus? Deutet die in den Jahren 2000 bis 2010 angewachsene Welle von direkten Aktionen auf einen nachhaltigen Umschwung hin zu Arbeiteraufständen und -aktionen, die auf einem gewachsenen Klassenbewusstsein beruhen? Sind die Aussichten der Konzerne, sich der Arbeiterselbstverwaltung widersetzen zu können, im Kontext der neoliberalen Wirtschaftskrise geschrumpft?“ (S. 16) Darauf gibt es nicht die eine Antwort, aber Hinweise und Fingerzeige in fast allen der 22 Beiträge, gerade auch bei einer historisch vergleichenden Lektüre.
Besonders anschaulich ist Elaine Bernards Schilderung der Besetzung einer kanadischen Telefongesellschaft durch die Beschäftigten im Jahr 1981. Es wird verständlich, wie sich eine Bewegung konstituiert, die den Widerstand von Konsumenten gegen hohe Telefonpreise mit den Forderungen der Beschäftigten verbindet und damit eine Allianz schmiedet, die für einige Tage tatsächlich eine Gegenmacht ausübt. Nachdem die zuständige Gewerkschaft sich hinter die Besetzung stellte, schlugen die Medien Alarm: „Jetzt, wo der Präzedenzfall der Unterstützung für die Übernahme des Eigentums gesetzt worden ist, können wir in Zukunft nicht sehen, dass Docker die Hafenkais übernehmen? Dass Busfahrer die Busse an sich reißen? Dass Kassierer die Banken an sich reißen? All das könnte auf gleiche Weise gerechtfertigt werden“ (S. 436), wird die Province zitiert. Dieser Warnruf einer führenden kanadischen Tageszeitung wurde auch von Wirtschaft und Politik geteilt. Mit Hilfe einer juristischen Klage gelang es, den Streik zu beenden, bevor sich auch Beschäftigte diese Fragen praktisch stellen konnten. Weil die Gewerkschaft mit massiven Schadensersatz-forderungen und Strafen rechnen musste, wurde die Besetzung der Telefon-gesellschaft nach wenigen Tagen beendet. „Für eine kurze Zeitspanne, bevor die Gewerkschaft sich den Gerichten beugte, gab es die Chance sich vorzustellen, wie es laufen könnte, wenn nicht nur die Telefonarbeiter die Telefongesellschaft leiten würde, sondern auch die Docker die Hafenkais, die Busfahrer die Busse und die Kassierer die Banken übernehmen würden“ (S. 442), wandelt die Autorin, Direktorin des Harvard Trade Union Program, den Warnruf der Rechten in eine linke Utopie um. Doch wie in den meisten anderen im Buch behandelten Beispielen intervenierten Staatsapparate, und die Ausweitung der Besetzung scheiterte. In einem Kapitel werden zwei Aufsätze über Selbstverwaltungs-modelle in nominalsozialistischen Gesellschaften analysiert.Goran Music widmet sich den jugoslawischen Modell und kommt zu dem Schluss: „Es ist der jugoslawischen Arbeiterklasse nie gelungen, die institutionellen Möglichkeiten der Selbstverwaltung auszunützen, um sie von ei-nem Instrument der herrschenden Bürokratie zu einem authentischen Motor demokratischer Kontrolle von unten zu machen (S. 236). Weniger bekannt ist die von Zbigniew Marcin Kowalewski lange Geschichte des Kampfes um Arbeiter-kontrolle in Polen, die in den frühen 80er Jahren Einfluss auf den linken Flügel der Solidarnosc hatte, bevor sich diese Gewerkschaft mehrheitlich an Kapitalismus, Kirche und Marktwirtschaft ausrichtete.
Auch die Ergebnisse der im letzten Teil („Arbeiterkontrolle 1990–2010“) aufgeführten Beispiele von Arbeiterkontrolle in Westbengalen und einigen Länder Lateinamerikas bleiben widersprüchlich. Einerseits haben einige linksreformistische Regierungen die Möglichkeiten einer Übernahme der Fabriken vereinfacht. Andererseits werden am Beispiel der besetzten und selbstverwalteten Fabriken in Argentinien und Brasilien die Grenzen der Arbeiterkontrolle im Kapitalismus aufgezeigt.
„Nur ein sozialistischer Ansatz kann diese Fabriken in den Stand versetzen, ihr wahres Potential zu entfalten. Die gegenteilige Option, sie dem Einfluss der kapitalistischen Tendenzen zu überlassen, würde sie zwangsläufig einen der kapitalistischen Wege einschlagen lassen“. Dieser Hinweis von Marina Kabat in ihrem Beitrag über die Rolle der besetzten Betriebe in der argentinischen Krise (S. 476) ist sehr wichtig, weil er deutlich macht, dass bei der Debatte über Fabrikräte und Selbstverwaltung die Frage nach der Macht im Staat nicht vergessen werden darf . Hier wird aber auch deutlich, dass Arbeiterkontrolle und Besetzungen von Fabriken nur im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Umwälzung mehr sein können als bloße Mitverwaltung im Kapitalismus – und so schließt sich auch der Bogen zur Pariser Commune und dem Titel des Buchs.
Diesem Buch ist eine breite LeserInnenschaft, vor allem auch aus dem gewerkschaftlichen Spektrum, zu wünschen. Die Fülle der zusammengetragenen Informationen aus mehr als 100 Jahren Geschichte von Arbeiter- und Fabrikräten ist ein wichtiges Stück Geschichte einer anderen, vergessenen Arbeiterbewegung. Erst, wenn wir sie uns wieder aneignen, können wir entscheiden, was heute, im Zeitalter von Internet und Mikroelektronik, Verschwinden des „fordistischen Arbeiters“ und der zunehmenden Bedeutung des Reproduktions- und Dienstleistungssektors noch brauchbar und weiterzu-entwickeln ist. Ein gutes Forum dafür ist die Internetplattform Workerscontrol (http://www.workerscontrol.net/de), die von den Herausgebern des Buches und mehreren der Autorinnen und Autoren im letzten Jahr gegründet worden ist.
Dario Azzellini / Immanuel Ness (Hg.): “Die endlich entdeckte politische Form. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der russischen Revolution bis heute”, Neuer ISP Verlag, Karlsruhe 2012, 540 Seiten, 29,80 Euro, ISBN 978-3-89 900-138-9
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