Vorwort von Dario Azzellini und offener Brief an Hugo Chávez von Santiago Arconada

"Die alte Art der Politik verschluckt uns" und "Der andere Dialog"

»Die alte Art der Politik verschluckt uns«

Vorwort von Dario Azzellini zum offenen Brief von Santiago Arconada:
Der andere Dialog – Offener Brief an den Präsidenten Hugo Chávez Frías

Santiago Arconada gehört zu den bekannteren Basisaktivisten der Linken in Venezuela und ist seit Jahrzehnten Teil des bolivarianischen Prozesses. Er ist radikaler Gewerkschafter gewesen und Dozent, Sozialforscher und Autor, Berater des Umweltministeriums und der Wasserwerke (Hidroven). Arconada ist einer der zentralen Aktivisten im Aufbau einer partizipativen Wasserverwaltung gewesen und hat dafür bereits Anfang der 1990er Jahre mit der damaligen Stadtverwaltung des linken Bürgermeisters Aristóbulo Isturriz in Caracas Stadt zusammen gearbeitet. Die Besorgnis und Kritik, die er in seinem offenen Brief an Chávez ausdrückt, ist Teil einer breiten und öffentlichen Kritik, die im Verlauf der vergangenen zwei Jahre und vor allem der letzten Monate, immer stärker aus Basisorganisationen, Bewegungen und Gewerkschaften, von Einzelpersonen und auch der Kommunistischen Partei Venezuelas am aktuellen Kurs des bolivarianischen Transformationsprozesses geäußert wird. Kaum einer der Kritiker und Kritikerinnen stellt sich dabei außerhalb des Transformationsprozesses, fast alle begreifen sich als aktiver Teil davon. Einige der von Arconada angesprochenen Punkte sind von einer Komplexität, die eine einfache Erläuterung kaum zulassen. So ist die Kritik an der Extraktionsökonomie sicher richtig und vor allem im Norden der Welt gerne gehört. Doch das Dilemma ist riesig, denn ohne das Geld aus der Ausbeutung der Naturressourcen in Venezuela, Bolivien und Ecuador könnten die Regierung die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht zufriedenstellen und würden auch keine weiteren Wahlen mehr gewinnen. Die Alternative wäre dann sicher nicht ökologischer. Venezuela hatte noch 1998 einen Gini-Index von 0,4865 und war mit Brasilien und Haiti eines der ungleichsten Länder Lateinamerikas; 2009 war Venezuela, nach Uruguay und Costa Rica zu einem der am wenigsten ungleichen Länder der Region avanciert und wies einen Gini-Index von 0,3928 auf. Die Umverteilung, die Steigerung der Produktion, die Umstellung auf Ganztagsschulen, die Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten usw. haben zu einem massiven Anstieg des Energieverbrauchs und Konsums geführt. Weder das Bewusstsein auf einen gewissen Konsum, und damit auch auf Gelder aus der Extraktionsökonomie zu verzichten, noch die realen Alternativen zu derselben sind besonders weit gediegen. So sehr die Kritiker auch Recht haben, für eine ökologischere Politik müssen gesellschaftliche Mehrheiten gewonnen werden.

Die Demarkation der indigenen Territorien ist in den vergangen 12 Jahren tatsächlich nur sehr langsam vorangeschritten. Dafür verantwortlich sind traditionelle Kräfte wie Großgrundbesitzer, Viehzüchter, Unternehmer und die oft genug weiterhin mit diesen verbündeten Vertreter aus der lokalen und regionalen Justiz, Repressionsapparaten und Verwaltung, wirtschaftliche Interessen, bürokratische Verwaltungen und staatszentrierte Linke, aber auch die fehlende Einigkeit und Mobilisierungsfähigkeit unter den 43 Indígena-Gruppen sind dafür verantwortlich. Die drei im offenen Brief erwähnten indianischen Autoritäten sind mittlerweile aus der Haft entlassen worden, und auch die Anklage wurde fallen gelassen. Als Hintergrund der Verfolgung ist sicher das Engagement von Sabino Romero im Kampf um die Landdemarkation und der Konflikt mit Landbesitzern zu sehen. Umstritten war, ob die staatliche venezolanische Justiz zuständig ist, oder ob – wie es ein Teil der Indígenas und ihrer Unterstützer (die sich auch zum größten Teil zum bolivarianischen Transformationsprozess zählen) es fordert – gemäß der indianischen Sitten und Gebräuche über sie gerichtet werden soll. Dies ist zwar in der Verfassung als Möglichkeit festgehalten, jedoch bisher nicht von venezolanischen juristischen Instanzen anerkannt und umgesetzt worden. Allerdings gab es am 20. Oktober 2010 auch eine Versammlung der Yukpa-Kaziquen der Region in der sich der Konflikt zwischen den beiden verfeindeten Indígena-Gemeinden ereignete und die Versammlung, die in verschiedenen Teilen auch im staatlichen TV-Kanal Vive-TV ausgestrahlt wurde, wies zwar auf Fehler der Revolution hin, erklärte aber auch ihre Unterstützung für die laufende Landdemarkation und -verteilung. Zudem wies die Versammlung auch daraufhin, dass es die indigenen Kaziquen der Region gewesen waren, welche beschlossen die Indianer an die reguläre Justiz zu übergeben, da gemäß ihrer eigenen Sitten und Gebräuche die Schuldigen mit ihrem eigenen Leben hätten bezahlen müssen, was wiederum gegen die venezolanischen Verfassung verstößt.

An einem Punkt ist die Kritik von Arconada allerdings mehr einer individuellen Erfahrung geschuldet und schwer verallgemeinerbar. So bestehen zwar durchaus Kooptationsversuche gegenüber den Consejos Comunales (CC) von Seiten der PSUV, doch die allgemeine Erfahrung sowie verschiedene Untersuchungen zeigen, sowohl dass die meisten CC sich dagegen zu wehren wissen, wie auch dass die meisten CC auch Nicht-Chavistas akzeptieren. Viel drängender ist der Konflikt mit den Institutionen, vor allem mit dem Ministerium für die Comunas und der Projektbegleitenden Institution Fundacomunal: Mir ist kaum ein CC – und ich habe in den vergangenen Jahren sicher mit mehr als 300 gesprochen – der keine Probleme mit Fundacomunal hat, während sich das Ministerium für Comunas zu einem der größten Hindernisse im Aufbau von Comunas entwickelt hat. Dies liegt ebenfalls an der beschrieben Machtasymetrie zwischen konstituierender und konstituierter Macht und der immanenten Tendenz von Institutionen sich zu reproduzieren: Mit jeder Comuna, der das Ministerium eine Eigenständigkeit zusprechen würde, nimmt die Macht des Ministeriums ab.

Nach 12 Jahren sozialer Umwälzung spitzen sich die Widersprüche zwischen Institutionen und Basis in Venezuela immer weiter zu und so vermehren sich auch die Konflikte. Es gehört zwar zu den Kernideen des venezolanischen Prozesses einen „Aufbau von zwei Seiten“ zu betreiben, also „von oben“ und „von unten“, und nicht im Staat (als Produkt des Kapitalismus), sondern in den Bewegungen den Akteur der sozialen Transformation zu sehen, doch die Machtasymmetrie zwischen konstituierender und konstituierter Macht zu Gunsten der letzteren bremst seit 2007 die Initiative von unten immer stärker aus. Zwar gab es in der Zwischenzeit immer wieder konjunkturelle Impulse, die eine Vertiefung der Transformation möglich machten (unter anderem Consejos Comunales, Comunas, Ernennung von Arbeitern als Fabrikdirektoren in der staatlichen Schwerindustrie und zuletzt Anfang des Jahres die Zustimmung von Chávez zu den Gesetzesinitiativen der Urbanen Landkomitees (CTU), Mietervereinigung und Hausmeisterorganisation), doch die Tendenz ist die der Bürokratisierung der Institutionen in denen Partizipation zunehmend unerwünscht ist. Das verläuft nicht ohne Widerstand, sowohl die Konflikte mit den Institutionen, wie auch in den Institutionen selbst haben zugenommen, wo es nicht ungewöhnlich ist, das eine Abteilung Mit- und Selbstverwaltung für neue, enteignete und staatliche Betriebe schult, während eine andere Abteilung die Umsetzung blockiert. Das ist letztlich aber weder verwunderlich noch unbedingt schlecht. Es ist offensichtlich, dass die Institutionen des weiterhin bestehenden bürgerlichen und bürokratischen Rentenstaates weder dazu geschaffen wurden die soziale Revolution zu organisieren noch dazu sich selbst zu überwinden. Da Venezuela weiterhin ein kapitalistisches System ist, ist also nun Klassenkampf entstanden, wo es vorher keinen gab. Das ist gut so.

Dennoch sind einige der Entwicklungen mit Sorge zu betrachten. Viele davon sind Folge eines nach wie vor ungelösten zentralen Problems des bolivarianischen Transformationsprozesses: Die fehlende Ebene der politischen Mediation. So ist Chávez weiterhin die einzige Ebene der politischen Mediation mit der Basis des Transformationsprozesses.

Die Folge der fehlenden politischen Mediation ist, dass die Loyalität von Amtsträgern nicht eine politische Integrität gegenüber einem Gesellschaftsprojekt ist, sondern den Vorgesetzten und informellen machtpolitischen oder wirtschaftlichen Interessensgruppen gilt. Entsprechend werden auch viele Arbeitsplätze und politische Aufgaben nicht gemäß Qualifikation (politisch und beruflich) vergeben, sondern auf personalisierter Loyalität basierend. Die Konsequenzen dessen liegen auf der Hand. Selbst Chávez warnte am 17. April 2011 die Regionalvertretungen seiner sozialistischen Partei PSUV: „Die alte Art der Politik verschluckt uns, die Korruption der Politik. Die alten kapitalistischen und kleinbürgerlichen Werte, die überall einsickern und sich weiterhin in unsere Partei infiltrieren, zerstören uns. […] Hört nicht auf den Gesang der Meeresjungfrauen der Korruption und wenn es notwendig sein sollte, macht es wie Odysseus und fesselt euch. Und wenn ihr das nicht könnt, dann verlasst das Schiff und verlasst die Führung. […] Schaut was mit der großen russischen Revolution geschah, sie endete im Nichts. Die Prinzipien wurden vergessen, die Politik korrumpiert“.

Der bolivarianische Transformationsprozess befindet sich in einer schwierigen und kritischen Phase, doch es sollte dabei nicht vergessen werden, dass dies dem Umstand geschuldet ist, dass der Anspruch des anderen, partizipativen und demokratischen Sozialismus und des Aufbaus einer antikapitalistischen Alternative weiterhin besteht und mittlerweile auch eine breite Bewegung entstanden ist, die dies von unten einfordert und die vor zwölf Jahren nicht existierte.

Dr. Dario Azzellini
Abt. Politik- und Entwicklungsforschung
Institut für Soziologie
Johannes Kepler Universität Linz

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Der andere Dialog. Offener Brief an den Präsidenten Hugo Chávez Frías
Caracas, 2. Februar 2011
Von Santiago Arconada Rodríguez.


Verehrter Genosse Präsident,

am 15. Januar 2011, nach Ihrer Regierungserklärung zum Jahr 2010 wurde in der Nationalversammlung einmal mehr die Möglichkeit eines Dialogs verpasst. In der polarisierten Debatte zwischen der Regierung und der Opposition wurde die Position derjenigen, die immer schon, aber verstärkt seit Anfang 2007, Kritik am bolivarianischen Prozess formuliert haben, um von innen heraus Impulse zu geben und den Prozess zu stärken, wieder nicht gehört.

Ich habe den Eindruck, dass Ihre Rede an diesem Tag ein konkretes Beispiel für die Toleranz gegenüber Andersdenkenden war. Ihre Worte waren: „Meine Damen und Herren Abgeordnete, falls ich bei einer Gelegenheit harte Worte wie Freund und Feind benützt habe, dann ist das in der Politik nicht korrekt. Wir sind Gegenspieler, sie sind politische Gegenspieler, aber keine Feinde ”.

Sie haben kritisch über ein Konzept reflektiert, auf dem viele in der bolivarianischen Regierung und in der PSUV[1] ihre politische Praxis aufgebaut haben: Das Konzept einer Hegemonie, das auf der Ausschaltung des Gegners, oder besser ausgedrückt, des Feindes beruht. Aber der zulässige Kampf um die Hegemonie darf nicht auf der Auslöschung derjenigen beruhen, die die Prinzipien, die eingeführt werden sollen, nicht teilen. Sie haben gesagt: „Insofern bitte ich, dass wir dieses Freund-Feind Muster hinter uns lassen. Hier sind wir auf einem politischen Spielfeld”. Sie haben einem Prozess neue Impulse gegeben, der durch Konfrontation zum Erliegen gekommen war. Dieser Brief, den ich Ihnen heute schreibe, ist ein bescheidener Versuch, das Angebot des Dialogs anzunehmen. Vor dem 15. Januar hätte ich Ihnen keinen Brief geschrieben, weil es mir sinnlos erschienen wäre.

Jetzt aber schreibe ich Ihnen und es geht um das Problem, das ich zu Beginn dieses Briefes angerissen habe. Die Polarisierung, die durch die Medien sowohl der Opposition als auch der Regierung vorangetrieben wird, verunmöglicht einen Dialog. Die Opposition hat nicht das geringste Interesse an einem Dialog, weil sie darauf spekuliert zu punkten, wenn sie Ihre Regierung als Diktatur darstellen kann. Die Vertreter des MUD[2] sagen, dass sie Ihnen nicht mal ein Vaterunser auf Knien glauben. Also gibt es keinen Dialog.

Ich vertraue darauf, dass Ihr Aufruf zum Dialog vom 15. Januar uns alle einschließt. D.h. auch diejenigen, die zur politischen Opposition gezählt werden, weil sie sich einerseits fundamental gegen die brutalste Form des Kapitalismus, den Neoliberalismus, aussprechen, sich andererseits aber auch nicht in diesen Schubladen-Sozialismus einpferchen lassen, der auf den Reklametafeln präsentiert wird. Und der sich als Sozialismus bezeichnet, nur weil der Staat kapitalistische Unternehmen aufkauft. In diesem Sinne will ich im Folgenden vier Probleme ansprechen, die ich in der gegenwärtigen Lage für entscheidend halte.

 
Die Macht des Volkes

Hier eine Anekdote, um die Krise zu verdeutlichen: Ich bin Mitglied des Leitungsgremiums des kommunalen Rates von Terepaima-Parte im Stadtviertel Santa Ana in Caracas. Ich nehme regelmäßig an den Treffen der kommunalen Räte des Viertels teil. Bei einem der sonntäglichen Treffen im Oktober 2010, beschimpfte ein Funktionär des Ministeriums für die Comunas[3] die Anwesenden wegen der mangelhaften Beteiligung an den Versammlungen. Leider liegt der Vertreter des Ministeriums mit seiner Kritik nicht falsch. Knapp fünf Jahre, nachdem durch ein Gesetz der Versammlung der Bürger und Bürgerinnen die Macht den kommunalen Räten übertragen wurde, ist die Theorie das eine, die Praxis aber das andere.

Ich leugne nicht, dass von der bolivarianischen Regierung bedeutsame Schritte initiiert wurden, durch die das Volk mehr Macht erhalten hat. Ich bin stolz darauf, Mitbegründer des kommunalen Rates für die Wasserversorgung im Bundesstaat Sucre zu sein. Sieben Jahre nach seiner Gründung ist der Rat weiterhin ein Ort des öffentlichen Informationsaustausches über das Aquädukt „Luisa Cáceres de Arismendi” und hier findet die Organisierung und die Mitbestimmung des Volkes statt. Aber ich muss auch davon berichten, wie es im Bezirk Libertador, in der Gemeinde, in der ich wohne, aussieht. In fast zwölf Jahren bolivarianischer Regierung haben wir nicht die Informationen erhalten, die notwendig gewesen wären, um unsere Probleme zu lösen. Wenn das Volk also nicht die Macht hat, die wichtigsten Informationen wie z.B. die über den Haushalt zu erlangen, wie kann sich dann eine Kontrollfunktion entwickeln? Was hat das Volk für eine Macht, wenn es noch nicht mal das Recht auf einen Zugang zu den elementarsten Informationen hat?

Unverblümt wird vom „Ministerium für die Comunas” die Weisung ausgegeben, dass wenn ein Vertreter der PSUV an einer Versammlung eines kommunalen Rates teilnimmt, ein Vertreter der Oppositionsparteien so z.B. von Un Nuevo Tiempo, Copei, AD oder MUD[4] nicht anwesend sein darf. Mehr noch: Niemand, der nicht zur PSUV oder ihrem Umfeld gehört, darf teilnehmen. Durch diese Aneignung des öffentlichen Raumes, vor allem aber die Aneignung der öffentlichen Ressourcen, die die PSUV als revolutionäre Aktion darstellen will, wird die Macht des Volkes abgewürgt. Eine revolutionäre Organisation – die die PSUV zu sein vorgibt – instrumentalisiert aber nicht, frisst nicht die eigene Basis auf. Nicht, weil sie es nicht könnte, sondern weil sie es nicht will. Und weil sie weiß, dass wenn sie aus den Basisorganisationen ein Anhängsel der politischen Organisation macht, beide Ebenen geschwächt werden. Es ist unabdingbar, dass die Räume in der Gesellschaft, die die Pluralität und die Freiheit garantieren, dauerhaft erhalten bleiben. D.h. dass das Politisch-Revolutionäre niemals verpflichtend sein kann und dass das Öffentliche, das jedem und jeder gehört und dadurch ursprünglich vielfältig und hochpolitisch ist, niemals von einer Partei kontrolliert werden darf. Es ist nicht verwunderlich, dass diejenigen, die innerhalb der bolivarianischen Regierung und innerhalb der PSUV auf diese Art denken, eine Geschichte in der AD oder beim Copei haben. Das sind diejenigen, die nichts weiter als Macht ausüben wollen und die alles unter den Teppich kehren wollen.

 
Der Sozialismus

Erinnern wir uns an die jüngste Geschichte in unserem Land. 1998, während Ihres ersten Wahlkampfs für die Präsidentschaftswahlen, antworteten Sie auf die Frage der Medien, ob Sie eher kapitalistisch oder sozialistisch orientiert seien, dass Sie Anhänger eines „Dritten Weges” sind, der allerdings seine Wurzeln in der Befreiungsgeschichte der Völker Lateinamerikas haben müsse. Das ideologische Gerüst, auf dem sie ihre Kampagne aufbauten, nannten sie „den Baum mit den drei Wurzeln” Simón Bolívar, Simón Rodríguez und Ezequiel Zamora.[5]

Ich glaube nicht nur, dass Sie es ernst meinten. Ich glaube darüber hinaus auch, dass ihre Herangehensweise sehr logisch war. 1998 waren die Folgen des Zerfalls der Sowjetunion immer noch spürbar. Gerade neun Jahre waren seit dem Fall der Berliner Mauer vergangen und viele von uns waren sehr skeptisch, weil die russischen Eliten, die bis vor kurzem die sowjetischen Eliten waren, es in neun Jahren geschafft hatten, sich zu den heißhungrigsten und blutrünstigsten Kapitalisten zu wandeln, die Marx sich vorstellen konnte. Vom Neuen Menschen und von den sozialistischen Idealen blieb rein gar nichts übrig. Aber halten wir fest, 1998 waren sie kein Sozialist. 2006 sagten Sie dann aber bei Ihrem dritten Wahlkampf um die Präsidentschaft: „Wer mich wählt, der wählt den Sozialismus.“ Zu dieser Zeit entstand die theoretische Konstruktion, für die Heinz Dieterich das intellektuelle Eigentum beansprucht:  Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts.

Wenn man darauf beharrt, dass die Bekämpfung des Kapitalismus eine Theorie braucht, die auf der Infragestellung der westlichen Kultur als dem einzig gültigen zivilisatorischen Erbe basiert, dann eröffnet der Sozialismus des 21. Jahrhunderts die Möglichkeit, mit dem Sozialismus des 20. Jahrhunderts abzurechnen. Und zwar in dem Sinne, dass bekräftigt wird, dass dieser kein effektives Instrument dafür war, den Kapitalismus zu besiegen. Denn er stellte ihn nicht nur nicht in Frage, sondern teilte mit dem Kapitalismus darüber hinaus auch die räuberischsten Paradigmen der westlichen Kultur wie die grenzenlose Entfaltung der produktiven Kräfte, den Fortschritt und das Wachstum.

Dadurch dass der Sozialismus des 21.Jahrhunderts den Geist der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit aufgenommen hat, den die sozialistische Tradition von der Französischen Revolution geerbt hat und dadurch, dass er sich auch auf ein ökologisches Verständnis beruft, das davon ausgeht, dass wir in einer endlichen Welt leben, werden die westliche Kultur und ihre sehr speziellen Kriterien von Glück und Überfluss, die auf einem unendlichen Krieg gegen die Natur basieren, in Frage gestellt. Unter Mitwirkung aller Kräfte, die das Debakel des Sozialismus des 20. Jahrhunderts vereinzelt und sprachlos zurückgelassen hat, könnten wir so einen neuen politischen Raum schaffen. Und dabei auch diejenigen einbeziehen, für die der Klimawandel ein Beleg für das Scheitern des Kapitalismus ist, weil er durch seine Gewinnmaximierung die Luft, die wir atmen, verpestet.

Seit 2009 allerdings wird immer weniger vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts” gesprochen, wenn vom Sozialismus die Rede ist. Was wir jetzt haben, ist der Sozialismus eines Gouverneurs des Bundesstaats Sucre, der anordnet, dass alle Polizeifahrzeuge der Region Rotgelb angemalt werden und ganz groß die Aufschrift „Sozialistische Polizei“ tragen müssen. Keine der fragwürdigen Methoden der Polizei wurden jedoch dadurch verändert, keine der hierarchischen, vertikalen und repressiven Strukturen, keine der autoritären Entscheidungsmechanismen wurden revidiert. Die nicht transparente Amtsführung und der ebenso undurchschaubare Mitteleinsatz blieben unangetastet. Aber durch eine Anordnung des Gouverneurs, der selbst im bolivarianischen Umfeld des Machtmissbrauchs und der Korruption beschuldigt wird, wurde die Polizei über Nacht zu einer „Sozialistischen Polizei”.

Das ist kein Sozialismus, nicht wahr, Herr Präsident? Weder des 21. Jahrhunderts noch überhaupt einer Zeit. Deshalb ist es absolut zulässig und notwendig, den Sozialismus zu diskutieren. Wie ist es um den Sozialismus von CORPOZULIA[6] und PDVSA[7] bestellt, die schamlos, ohne Wenn und Aber, die extraktivistische Litanei herunterbeten, dass wenn es Erdöl gibt, es auch gefördert  werden muss; wenn es Coltan gibt, wenn es Uran, wenn es Gold gibt, muss es abgebaut werden etc.? Für ein Land, das durch die Deformationen, die die Extraktionsökonomie hervorgebracht hat, erschöpft ist, schlagen CORPOZULIA und PDVSA nur eine weitere Verstärkung der Extraktionsökonomie vor, trotz der Umweltzerstörungen, die das nach sich zieht. Und sie sind trotzdem immer noch Sozialisten? Wenn dieser Extraktivismus von einem kapitalistischen System propagiert wird, ist das nicht weiter erstaunlich, aber dass der in Bezug auf die Umwelt aggressivste Extraktivismus im Namen des Sozialismus durchgezogen wird, scheint mir eine Infamie zu sein. Wenn das sozialistisch ist, will ich kein Sozialist mehr sein.

Wie sieht der Sozialismus der Ministerien für die populare Macht aus? Wurde schon einmal der kapitalistische Wesenszug ihrer hierarchischen Strukturen und die Privilegien, die sie haben, in Frage gestellt? Wie kann der Sozialismus auf persönlichen Entscheidungen, bei denen niemand konsultiert wird und die keinerlei kollektive und demokratische Grundlage haben, aufgebaut werden?

 
Die Lage der indigenen Völker

Die Anekdote, mit der ich meine tiefe Sorge um die Lage der indigenen Völker illustrieren will, kann man beim Fernsehsender VTV[8] im  Archiv finden. Am 12. Oktober 2008, dem Tag des indigenen Widerstands, übertrug VTV eine Feierlichkeit, die im Bundesstaat Amazonas in Anwesenheit der Ministerin für die indigenen Völker, Nicia Maldonado und des damaligen Vizepräsidenten der Republik, Luis Reyes Reyes, durchgeführt wurde. An diesem Tag wurde an einen Indígena und seine Familie ein möbliertes Haus übergeben. Die Kamera begleitete die Ministerin und den Vizepräsidenten auf ihrem Rundgang durch das Haus, alle Möbel, der Hausrat und alle Geräte wurden gezeigt. So ein Kühl- und Gefrierschrank, ein Mixer, ein Fernseher, ein Telefon etc. Als der wunderliche Rundgang durch die westliche Konsumwelt, der den Anspruch, multiethnisch und plurikulturell zu sein, für den unsere bolivarianische Verfassung steht, mit Füßen trat, zu Ende war, übergab der Vizepräsident mit großem Pomp dem Mann den Besitztitel für das Haus.

Würden Sie sagen, dass dieser westliche Asistentialismus, der ein Haus verschenkt, damit der Indigene wie wir Hispanoamerikaner lebt, der eine Kühlkombination, damit er sich so wie wir ernährt, einen Fernseher, damit er sich wie wir unterhält, ein Telefon, damit er wie wir kommuniziert. verschenkt und der einen Besitztitel vergibt, damit er wie wir lebt, die Mission der bolivarianischen Revolution für das indigene Leben erfüllt? Dies ist ein westlicher Asistentialismus, der dafür anfällig macht, sich politisch zu unterwerfen und der sich für den Wohltäter in Wählerstimmen auszahlt.

In der Nationalversammlung und in der Bolivarianischen Verfassung erreichten die Indigenen Völker, dass ihre Territorien demarkiert werden sollten und es wurde ein Zeitraum von zwei Jahren formulierte, um diese Demarkierung zu verwirklichen. In der Realität sieht es aber so aus, dass diese Frist abläuft. Mehr noch, es gibt nicht das geringste Anzeichen dafür, dass diese Übergangszeit beendet wird oder dass es Fortschritte geben wird. Für die indigenen Völker bleibt die Bolivarianische Verfassung eine bloße Absichtserklärung. Weil das Ziel der „Nationalen Kommission für die Demarkation des Lebensraumes und der Gebiete der indigenen Völker und Gemeinschaften“, die Festlegung des Lebensraumes der indigenen Völker nicht realisiert wurde, gibt es keine Anerkennung der Existenz der indigenen Völker und noch weniger einer speziellen indigenen Gerichtsbarkeit.

So ist auch jeder Tag, mit dem Sabino Romero, Olegario Romero und Alexander Fernández (die ersten beiden sind Kaziken der Yukpa-Gemeinden in Chaktapa und Guamo Pamocha in der Sierra von Perijá) in Haft sind[9], ein Tag der Nichtanerkennung und Verletzung der Bolivarianischen Verfassung, die im Kapitel VIII, Art. 119 festlegt: „Der Staat erkennt die Existenz der indigenen Völker und Gemeinschaften, ihre soziale Organisation, ihre Politik und ihre Wirtschaft, ihre Kulturen, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Sprachen und Religionen an. Sowie ihren Lebensraum und ihre ursprünglichen Rechte über die Gebiete, die sie seit der Zeit ihrer Ahnen traditionell bewohnen und die notwendig sind, damit sie ihre Lebensformen entwickeln können und diese garantiert sind.” Wenn zwei Yukpa-Familien wie in diesem Falle wegen Landstreitigkeiten miteinander in einen Konflikt geraten, ist dieses Land nicht ihr Eigentum, denn ihre Siedlung hat zu keinem Zeitpunkt aufgehört, ihr angestammter und vererbter Lebensraum zu sein und insofern müsste der Konflikt zwischen diesen Yukpa-Familien durch die spezielle indigene Gerichtsbarkeit gelöst werden, die in der Verfassung und im Gesetz über die indigenen Völker und Gemeinschaften vorgesehen ist. Aber wenn noch nicht einmal ihr angestammter Lebensraum anerkannt wird, dann sind diese Familien keine Yukpas, sondern nur Venezolaner und sie leben nicht in ihren ursprünglichen Gebieten, sondern in einer Gemeinde im Bundesstaat Zulia. Das heisst, die übliche Gerichtsbarkeit ist für sie zuständig, weil der Staat in offener Verletzung des Kapitels VIII der Verfassung sie nicht als indigenes Yukpa-Volk anerkennt.

 
Der 200. Jahrestag der Unabhängigkeit

Angesichts von Problemen wie dem der Sicherheit, der Wohnraumversorgung und der Eindämmung der steigenden Inflation, erscheint es unangebracht, die Politik der bolivarianischen Regierung in Bezug auf die Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit, die am 19. April 2010 begonnen haben, zu diskutieren. Für mich nicht. Das Thema des Bicentenario[10] ein Schlüsselthema.

Es fällt mir schwer, das so zu formulieren, aber ich glaube, dass die bolivarianische Regierung mit der Politik zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit eine zwiespältige Haltung an den Tag legt. Der koloniale Schwindel, der von der herrschenden Politik über Jahrzehnte hinweg als offizielle Politik konstruiert wurde, wird nicht entlarvt. Ich glaube, dass der Bicentenario die aggressivste epistemologische neokoloniale Kampagne seit den Feiern zum 500. Jahrestag der „Entdeckung“ Lateinamerikas am 12. Oktober 1492 ist. Kampagne, weil sie ein Logo, Publikationen, eine institutionelle Verankerung hat und von nie ruhenden Werbemaßnahmen unterstützt wird. Erkenntnistheoretisch, weil sie sich auf das Bewusstsein bezieht, auf die Idee, die ein Volk von seiner Geschichte hat. Und neokolonial, weil unsichtbar bleibt und nicht anerkannt wird, was vor 1810 passierte, von Guaicaipuro[11] bis Manuel Gual und José María España[12] über José Leonardo Chirino[13] und den Aufstand der Comuneros in den Anden[14]. Ich glaube, dass diese Bewertung von 200 Jahren ein Blick aus einer eurozentristischen und kolonialen Perspektive ist, der darauf gerichtet ist, die schlimmsten sklavenhaltenden Oligarchien als alleinige Autoren der wahren Geschichte anzuerkennen. Ich glaube, dass wir dadurch, dass wir auf den Bannern der offiziellen Propaganda sagen „Wir bekämpfen seit 200 Jahren das Imperium“, die Menschen beleidigen, deren Blut beim Kampf gegen das spanische Imperium ab dem 12. Oktober 1492 bis zum 19. April 1810 vergossen wurde. Wir haben den 12. Oktober vom „Tag der Rasse“ in den „Tag des Indigenen Widerstandes“ verwandelt, den 19. April 1810, den Tag, an dem die spanischstämmige Elite von Caracas ihren König Fernando VII hochleben ließ[15], aber nicht angetastet. Ich glaube, dass die Diskussion darüber noch aussteht.

Ich ende damit, dass ich glaube, dass Dialog nicht heisst, persönlich mit Ihnen zu sprechen. Etwas von dem ich ausgehe, dass Sie es auch so sehen. Sondern dass Dialog heisst, zu hinterfragen, ob das, was ich hier gesagt habe richtig oder falsch ist, ob es etwas damit zu tun hat oder nicht, was uns im bolivarianischen Prozess passiert, ob diese Punkte es wert sind, im öffentlichen Raum diskutiert zu werden oder nicht.

Mit brüderlichen Grüßen

Santiago Arconada Rodríguez

 

Aus dem Spanischen von Stefan Thimmel
Anmerkungen

[1] Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (Anmerkung des Übersetzers).

[2] MUD: „Tisch der demokratischen Einheit“, die gemeinsame Plattform der Opposition (Anmerkung des Übersetzers).

[3] In Venezuela tragen alle Ministerien den Zusatz „Poder Popular“, also hier „Ministerio del Poder Popular para las Comunas“. Ich übernehme von Dario Azzellini die Übersetzung „popularer Macht“, da weder „populär“ noch „volksnah“ zutreffend erscheinen. Siehe Azzellini, Dario (2010): Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Commune. Bewegungen und soziale Transformation am Beispiel Venezuela. VSA. Hamburg. Comunas meint weder eine kommunal noch kommunitär, sondern bezieht sich auf eine, in der Theorie, weitgehende autonome, selbstbestimmte Einheit (laut den versch. Gesetzen zur Mitbestimmung). Insofern bleibt der Ausdruck hier im Original (Anmerkung des Übersetzers).

[4] Copei (Christdemokratische Partei), Un Nuevo Tiempo (sozialdemokratisches Bündnis), AD-Acción Demócrata (Sozialdemokraten), die zuletzt mit Carlos Andrés Perez von 1989 bis 1993 den Präsidenten stellte (Anmerkung des Übersetzers).

[5] Simón Bolívar führte die südamerikanische Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanischen Kolonialherren an, Simón Rodríguez war sein Privatlehrer, Ezequiel Zamora war Führer der Liberalen in den venezolanischen Bürgerkriegen des 19. Jahrhunderts (Anmerkung des Übersetzers).

[6] Corpozulia ist eine Regierungsorganisation im Bundesstaat Zulia (Anmerkung des Übersetzers).

[7] Die staatliche Petróleos de Venezuela S. A. (PDVSA) ist die größte Erdölgesellschaft Lateinamerikas (Anmerkung des Übersetzers).

[8] Venezolana de Televisión (VTV) ist ein landesweit ausstrahlender, staatlicher Fernsehsender in Venezuela (Anmerkung des Übersetzers).

[9] Die drei Angeklagten wurden des Mordes an  zwei Nachbarn in ihrer indigenen Gemeinde angeklagt. Am 16. März 2011 wurden sie von einem Richter des Bundesstaats Trujillo auf Kaution entlassen (Anmerkung des Übersetzers).

[10] 2010 und 2011 wird in vielen Ländern Lateinamerikas das 200. Jubiläum der Gründung gefeiert, der „Bicentenario“ (Anmerkung des Übersetzers).

[11] Guaicaipuro war ein Kazike (Stammesführer) im Gebiet des heutigen Venezuela, der im 16. Jahrhundert lebte. Er führte ein Bündnis an, um gegen die Konquistadoren aus Spanien zu kämpfen (Anmerkung des Übersetzers).

[12] 1797 führten Manuel Gual und José María España den ersten Unabhängigkeitskampf an (Anmerkung des Übersetzers).

[13] José Leonardo Chirino führte 1795 in der Stadt Coro eine Rebellion an, die von Spaniern und Großgrundbesitzern gemeinsam niedergeschlagen wurde (Anmerkung des Übersetzers).

[14] Der Comuneros-Aufstand in Neugranada (spanisches Vizekönigreich, das die heutigen Staaten Venezuela, Kolumbien, Panama und Ecuador umfasste) fand zwischen März und Oktober 1781 statt (Anmerkung des Übersetzers).

[15] Am 19. April 1810 wurde in einer Ratsversammlung in Caracas der Vertreter der spanischen Kolonialmacht abgesetzt. Diese Absetzung gilt als erster Schritt hin zur Selbstbestimmung. Der 19. April wird in Venezuela heute als Nationalfeiertag begangen.


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