Selbstständig Beschäftigte in Berlin
Die selbstständig Beschäftigten als Akteure
Im Bereich der Selbstständigkeit finden sich interessante und konkrete Formen gegenseitiger Unterstützung und Kollektivität. Dies steht im Widerspruch zu dem allgemeinen Bild der Selbstständigkeit als Herd des Individualismus und der Konkurrenz. Ein Großteil der Interviewten verfügt über ein ausgeprägtes soziales und politisches Bewusstsein und favorisiert kollektive und solidarische Arbeitsformen sowie entsprechende soziale Sicherungsmodelle. Etwa die Hälfte der Interviewten hat komplexe Vorstellungen bezüglich der Transformationsprozesse von Arbeit und Gesellschaft sowie bezüglich möglicher Schritte, um diesen eine solidarische Dimension zu verleihen. Dies nimmt in den meisten Fällen auch in konkreten Initiativen, Arbeitsformen, Lebensstilen und Verhaltensweisen Gestalt an. Vor allem deswegen sehen etwa 80% der Interviewten die zukünftige Entwicklung der eigenen Tätigkeiten positiv, obwohl sie bezüglich der allgemeinen Perspektiven pessimistisch sind. Auffällig ist vor allem ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber den Marktlogiken:
“Ich halte dieses Konkurrenzprinzip, das sich bis in die kleinsten Teile der Gesellschaft zieht, für fatal, da es Formen der Solidarität zerstört. Das wird zurück schlagen. Eine Gesellschaft, die lediglich aus konkurrierenden Individuen besteht, ist nicht überlebensfähig. Es wird immer schwerer soziale Bindungen zu erhalten, sogar die Kleinfamilie geht vor die Hunde. Wenn das A und O ist am Markt bestehen zu bleiben und alles andere, wie soziale Kontakte, muß nebenher organisiert werden, von 23:00 bis 1:00 nachts... Das kann nicht funktionieren.”[1]
Nur eine Befragte sieht Chancen in privaten sozialen Sicherungssystemen, alle anderen stimmen darin überein, dass das soziale Sicherungssystem eines grundlegenden Umbaus bedarf. Die meisten messen der Schaffung kollektiver Modelle, die den Veränderungen der Arbeitswelt und der Lebensstile entsprechen, eine zentrale Bedeutung zu: ”Es scheint mir wichtig auch für Selbstständige kollektive Kassen zu erschaffen. Die KSK[2] ist ein gutes Beispiel, da sie wieder spiegelt, das in dem ganzen Kulturbereich etwas geleistet wird, was nicht mehr im Einzelnen zurechnen ist. So etwas gehört ausgebaut, nicht nur für Selbstständige. Ich bin ja zugleich auch Hausmann und Kindererzieher, aber eben nicht in einer klassischen Familie, die man den Ämtern so darlegen könnte, sondern in einer Wohngemeinschaft. Da müsste aber trotzdem eine soziale Sicherung her.”[3]
Etwa ein Drittel der Befragten sieht in der Einführung eines Existenzgeldes (etwa 1500,- DM + Miete) die geeignetste Antwort auf die Transformationsprozesse und stellt die Forderung in den Kontext einer Neudefinition der Arbeit und ihrer Rolle in der Gesellschaft: ”Man müsste den Arbeitsbegriff an sich weiten. Es sollte mehr geschaut werden was die Menschen können und das muß anerkannt werden. Ich möchte dahin kommen, daß jeder arbeitet was er will. Aber es geht immer noch zu krass in die Richtung >du mußt dich auf dem Markt behaupten<. Das ist absurd, da es diesen Markt für die meisten Menschen nicht gibt.”[4]
Trotz der allgemein negativen Bewertung der Marktmechanismen sehen einige Interviewte auch Chancen in den Transformationsprozessen. Eine Verbesserung ihrer Situation erwarten sie allerdings nur in Folge ihrer persönlichen Initiative. Auffällig ist die Haltung den radikalen Transformationsprozessen den Aufbau und die Konsolidierung informeller solidarischer Netzwerke entgegenzusetzen, bei denen der Austausch von Dienstleistungen häufig nicht monetär erfolgt, sondern auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruht. Bezüglich der Arbeit tendieren viele dahin, kollektive Gegenstrategien in die Wege zu leiten, anstatt sich den eliminatorischen Marktlogiken zu ergeben. Mehr als ein Drittel der Befragten legt einen Schwerpunkt darauf, die eigenen Kooperationsnetze zu stärken. In einigen Fällen - sowohl im hoch, wie auch im niedrig qualifizierten Bereich - werden diese Netzwerke auch in Form von Unternehmen bzw. Mikrounternehmen formalisiert, jedoch immer in kollektiver und nicht-hierarchischer Form:
”Für mich ist es wichtig selbstständig zu sein. Es ist immer mein Wunsch gewesen einen selbstverwalteten Betrieb aufzubauen, in dem eine Unternehmensdemokratie herrscht. Außen bestimmt natürlich leider weiterhin der Markt, aber innerhalb des Betriebes wollen wir eine andere Arbeitsatmosphäre und das die Gelder arbeits- und nicht kapitalanteilig verteilt werden, ein Betrieb in dem es eine optimale Arbeitsatmosphäre gibt, nicht wie in meiner Lehre, wo jeder versucht hat dem anderen ein Bein zu stellen, um Karriere zu machen.”[5]
Die horizontalen Unternehmensformen werden aus Überzeugung gewählt. Zwei der Interviewten waren vorher in Familienbetrieben als traditionelle Unternehmer tätig (als Leiter einer Fabrik mit 400 Beschäftigten und in einem mittleren Handwerksbetrieb) und haben zu Gunsten einer individuellen selbstständigen Tätigkeit verzichtet. Ein weiterer hat eigene Erfahrungen als Kleinunternehmer:
“Mir hat die Situation als Arbeitgeber nicht geschmeckt. Das ist eine Situation wo man plötzlich Verantwortung für andere übernehmen muß und ich das nicht so richtig kann und will. Ich bin Selbstständiger mit Fleisch und Blut und ich will für mich sorgen und auf mich aufpassen und meine Sachen machen. Ich kann mir ehrlich gesagt auch nicht mehr vorstellen Leute anzustellen. Wohingegen ich mir sehr gut vorstellen kann mit anderen Freien zusammenzuarbeiten. Das ist meiner Meinung nach eine ideale Arbeitsform.”[6]
Alle Befragten lehnen Konkurrenzlogiken im eigenen Arbeitsumfeld ab:
“Das Instrument mit dem die Bezahlung am stärksten gedrückt wird, sind Informationshemmschwellen - >Du bekommst so und so viel, aber sag‘ es niemandem<. Viele lassen sich auf das Spiel ein. Mit anderen Tätigkeiten verglichen verdienen wir vielleicht gar nicht wenig, aber das kommt weil wir viel arbeiten und nicht das bekommen was wir arbeiten, so funktioniert Kapitalismus. Ich muß Leute finden, die nicht mehr bereit sind, sich den Mehrwert abschöpfen zu lassen und wir müssen dahinter kommen, wie man das verhindern kann. Das geht aber nicht indem ich sage >Ich will mehr Geld<, weil dann sagen die >OK, dann hole ich eben andere<. Wenn sich aber alle solidarischer erklären, dann könnten wir gemeinsam eine Preispolitik gestalten.”[7]
Ein guter Teil knüpft auch bewusst solidarische Netze und Beziehungen:
“In dem Kreis in dem ich mich aufhalte gibt es keine Konkurrenz, man gibt sich gegenseitig Tipps, sogar auf Bewerbungsmöglichkeiten wird hingewiesen. Das auch weil wir uns alle bewußt sind, daß wir strukturell in einer beschissenen Situation sind und nicht persönlich individuell. Es wäre fatal das nur noch auf einer individuellen Ebene mittels Konkurrenz zu bewältigen. Das ist das vom System Erwünschte und das sollte man durchbrechen.”[8]
Kooperation spielt für den Großteil der Befragten eine zentrale Rolle. Das gilt auch für die eigene Fortbildung, die die meisten als lebenslangen Prozess begreifen, der auf Kollektivität und Gegenseitigkeit beruhen sollte: “Die Kinder in der Schule müssten heute lernen, wie sie mit anderen zusammen ihr Leben lang weiter lernen. Man müsste ihnen den Floh ins Ohr setzen, daß es Spaß macht im Sinne von Lernen ein ganzes Leben lang zu expandieren. Ich sehe das was Richard Sennet als den flexiblen Menschen im Kapitalismus definiert, der immer >muss, muss, muss<, sehr dialektisch. Mir macht es auch Spaß Neues zu lernen. Ich hielte kleine Kooperationen, von vier oder fünf Leuten, die sich regelmäßig Treffen und gegenseitig etwas beibringen, für ideal. ”[9]
Insgesamt sieht der Großteil der Interviewten in der selbstständigen Arbeit tendenziell einen Akt der Befreiung: ”Meine Arbeit gibt zum einen ein hohes Maß an persönlicher Befriedigung, weil ich zum großen Teil meine eigenen persönlichen Interessen verwirklichen und politische Ziele, die mir wichtig erscheinen einbringen kann. Ich habe einen ganzheitlichen Arbeitsprozeß, habe keine übergeordnete Instanz, die mir sagt was ich zu tun habe, noch bin ich in einem Umfeld, das mir unangenehm wäre und die Arbeitsumstände finde ich zusätzlich auch noch angenehm. Diese Kombination von einer inhaltlich befriedigenden Arbeit und einem angenehmen Arbeitsumfeld ist das wichtigste für mich.”[10]
Doch auch wenn die ”Befreiung” in vielen Fällen auf Grund der ökonomischen und sozialen Umstände unvollendet bleibt, sind die meisten nicht bereit ihre selbstständige Tätigkeit gegen eine abhängige Beschäftigung zu tauschen. Sie setzen eher auf eine Veränderung der Umstände und messen sich dabei die zentrale Rolle zu. Es widerstrebt ihnen jedoch zu viel zu delegieren. Sie verspüren zwar die Notwendigkeit einer Organisierung, eine geeignete Organisationsform ist aber bisher nur vereinzelt und kaum ausgeprägt erkennbar. Hier liegt eine zentrale Herausforderung an die Linke.
[1] Michael S., 35 Jahre, Sozialforscher und Dozent, Jahresnettoeinkommen 20.000 DM
[2] Künstlersozialkasse, Krankenkasse und Rentenversicherung für freiberufliche KünstlerInnen, JournalistInnen, MusikerInnen usw. Die Beiträge setzen sich wie folgt zusammen: 25% pauschalisiert von den Unternehmen des Sektors über einen Topf, 25% vom Staat und 50% vom Versicherungsnehmer.
[3] Thomas G., 43 Jahre, Computergrafiker, Jahresnettoeinkommen 20.000 DM
[4] Silvia M., 32 Jahre, Beraterin für Berufsplanung, Jahresnettoeinkommen 15.000 DM
[5] Dirk N., 31 Jahre, handwerklicher Kleinstunternehmer, Jahresnettoeinkommen 20.000 DM
[6] Günther K., 44 Jahre, Informatiker, Jahresnettoeinkommen 50.-100.000 DM
[7] Stefan W., 35 Jahre, Kleinhandwerker, Jahresnettoeinkommen 35.000 DM
[8] Michael S., 35 Jahre, Sozialforscher und Dozent, Jahresnettoeinkommen 20.000 DM
[9] Thomas G., 43 Jahre, Computergrafiker, Jahresnettoeinkommen 20.000 DM
[10] Richard F., 36 Jahre, Journalist, Jahresnettoeinkommen 30.000 DM
Links zu diesem Artikel: