Venezuela
Kritische Solidarität
Eine Vereinigung von Rentnern besetzt das lokale Büro einer ehemaligen Regierungspartei und richtet dort ein Zentrum ein, in dem sie Tanzkurse, Kulturveranstaltungen und Geburtstagsfeiern abhalten. Der besetzte Seniorenclub befindet sich in einem Armenstadtteil von Caracas und ist Teil einer Rätestruktur in Venezuela. In der öffentlichen Diskussion über dieses Land steht immer der telegene Präsident Hugo Chavez im Mittelpunkt. Die im letzten Jahrzehnt ausgebauten Elemente einer partizipativen Demokratie hingegen werden selten erwähnt. Der Berliner Publizist Dario Azzellini hat jetzt in einem Buch eine wissenschaftliche Untersuchung über diese Formen der Selbstverwaltung in Venezuela vorgelegt, an der niemand vorbeikann, der sich gründlicher mit der Situation in dem Land befassen will. Schon in den vergangenen Jahren hat Azzellini die bolivarische Revolution in Venezuela in Büchern und Filmen mit kritischer Solidarität begleitet. Von diesem Prinzip ist das auch das aktuelle Buch geleitet. Es beginnt mit einen Überblick über die venezolanische Gesellschaft, bevor Chavez mit einen gescheiterten Militärputsch auf der politischen Bühne erschienen ist. Er zeigt auf, wie zerstritten und marginalisiert die Linke in dieser Zeit waren. In dieses Vakuum stieß die von Chavez mitbegründete linke Bewegung in den Streitkräften, die mit Stadtteilkomitees, den Resten von Guerillagruppen der späten 70er Jahre nicht aber mit Parteien und Gewerkschaften kooperierte. Azzellini zeigt auf, dass die Forderung nach einer neuen Verfassung mit Selbstverwaltungselementen von Beginn an ein zentraler Diskurs dieser neuen Bewegung war. Doch erst nach dem knapp gescheiterten Putschversuch im Jahr 2002 und mehreren Unternehmerstreiks in den folgenden Monaten entwickelte der Prozess der Selbstverwaltung eine besondere Dynamik. Azzellini liefert viel Zahlenmaterial über die Stadtteilorganisationen, die Arbeiterselbstverwaltung in den Fabriken und die dem Präsidenten direkt unterstellten Missiones mit denen Fortschritte im Bereich der Bildung, der Gesundheits- und Lebensmittelversorgung und des Städtebaus vorangetrieben werden sollte. Dabei betont er die Erfolge, ohne die Fehler und Schwierigkeiten zu verschweigen. Bürokratische Tendenzen gehören ebenso dazu, wie die Korruption, aber auch eine Passivität sich bei Teilen der Bevölkerung.
„In den neuen Institutionen... besteht die Gefahr, Logiken der konstitutionellen Macht zu reproduzieren, wie etwa Hierarchien... und Bürokratisierung.“, schreibt Azzellini, benennt aber auch die Gegenkräfte. Es sind oft Menschen, die sich in den letzten Jahren durch die partizipative Demokratie politisiert haben und sie in den Stadtteilen, Fabriken und den Missiones selbstbewusst auch gegen die Bürokratie verteidigen.
„Wer hier wirklich den Prozess führt, das ist die Basis“, zitiert Azzellini eine dieser Stadtteilaktivisten. Er hat für seine Arbeit Befragungen in verschiedenen Stadtteilen durchgeführt. Das Buch ist eine mit Fakten untermauerte Gegenrede gegen eine oft auf Halbwissen beruhende Aburteilung des bolivarischen Prozesses. Erfreulich, dass sich der Autor trotzdem den kritischen Blick bewahrt hat und auch die Gefahren nicht unerwähnt lässt, die einer emanzipatorischen Entwicklung in Venezuela drohen könnten Ausgespart bleibt in dem Buch die mehr als fragwürdige Bündnispolitik von Chavez, wie seine Unterstützung für Gaddafi und Achmadinedschah. Auch hier dürfte die Partizipation der Bevölkerung nicht enden.
Azzellini Dario, Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Commune, Bewegungen und soziale Transformation am Beispiel Venezuela, VSA-Verlag, Hamburg, 2011, 24,80 Euro, 406 Seiten, ISBN 978-3-89965-422-6