Vom Protest zum sozialen Prozess (Buchbesprechung)
Dario Azzellini geht in seinem neuen Buch »Vom Protest zum sozialen Prozess – Betriebsbesetzungen und Arbeiten in Selbstverwaltung« der Frage nach, ob es möglich ist, »im Kapitalismus ›anders‹ zu arbeiten und damit die Perspektive einer demokratischen und solidarischen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus aufzuzeigen und zu eröffnen«. Dafür untersucht er »Rückeroberte Betriebe unter Arbeiter*innenkontrolle« (RBAs) in Europa, im Nahen Osten, in Lateinamerika und den USA. Diese Betriebe unterscheiden sich von Kollektiven aus der Alternativbewegung und auch von Produktivgenossenschaften dadurch, dass sie aus Arbeitskämpfen entstanden sind, meist besetzt waren oder es bis heute sind und oft gegen Räumungsdrohungen durch die alten Eigentümer oder die Polizei verteidigt werden müssen.
Beispiele im ersten Kapitel sind die Teefabrik Fralib (heute Scop Ti) bei Marseille und – ebenfalls in Südfrankreich – die Speiseeis- und Joghurt-Fabrik Ex-Pilpa, in Italien die öko-soziale Fabrik Officine Zero in Rom und RiMaflow in Mailand, die beide unter anderem im Recycling tätig sind und freiberuflich Kreativen Arbeitsräume anbieten, sowie die transnational bekannte, besetzte Fabrik Vio.Me, die im griechischen Thessaloniki ökologische Reinigungsmittel produziert. In Kroatien fertigt ITAS Prvomajska Präzisionsmaschinen für die Industrie, und Dita in Bosnien-Herzegowina stellt Waschmittel her. Pullover und T-Shirts gibt es aus der Textilfabrik Kazova in Istanbul, und in Ägypten produzieren die besetzte Stahlfabrik Kouta sowie eine Niederlassung des großen Keramikunternehmens Kleopatra in Selbstverwaltung. Aus den USA wird New Era Windows vorgestellt, die in Chicago energieeffiziente Fenster herstellen.
Nachdem sich das zweite Kapitel mit RBAs aus Argentinien, Brasilien, Uruguay und Venezuela befasst, stellt der Autor im dritten Kapitel die These auf, dass Arbeitskraft ein Commons sei, und reflektiert dies anhand von Beispielen aus Europa und Lateinamerika. Im letzten Kapitel werden RBAs als globale urbane Proteste beschrieben, die schon heute als sozialutopische Vorwegnahme einer anderen Gesellschaft gesehen werden können.
So unterschiedlich diese Betriebe auch sind, spielen doch bei allen die sozialen Beziehungen eine wichtige Rolle – sowohl zwischen den Mitgliedern als auch zum solidarischen Umfeld und zu politischen sozialen Bewegungen. Auch ökologische Aspekte haben eine große Bedeutung.
Die dargestellten Projekte, ihre Erfahrungen und die Schlussfolgerungen des Autors, der auch einige Filme über besetzte Betriebe gedreht hat, sind interessant. In dem Buch steckt einiger Diskussionsstoff, beispielsweise zum Umgang mit Eigentum, zur Arbeitsteilung und betrieblichen Demokratie. Allerdings wird der Lesegenuss dadurch gemindert, dass das Buch nicht aus einem Guss ist. Nur das erste Kapitel wurde neu verfasst, die drei anderen erschienen bereits in wissenschaftlichen Zeitschriften. Sie enthalten viele Quellenhinweise im Text, und es gibt erhebliche Überschneidungen und Wiederholungen. Wer darüber hinwegsehen kann, wird mit Einblicken in die Vielfalt dieser sehr speziellen Arbeitswelt belohnt.
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