Genua – Italien, Geschichte, Perspektiven
Eingeleitet wird dieser Sammelband mit einem Artikel von Dario Azzellini zu den Ereignissen in Genua vom 19. bis zum 21. Juli 2001 und den Aktionen ein Jahr später an denselben Orten. Orte, wie die Diaz-Schule, die in der Nacht vom 20. auf den 21. von der Polizei gestürmt wurde und Schauplatz einer in Europa seit Jahren, ja Jahrzehnten nicht mehr gekannten Prügelorgie wurde. „Um 23.56 Uhr stürmten Sonderreinheiten der italienischen Polizei die Schule A. Diaz, in der G8-GegnerInnen und Journalisten übernachteten. Von 93 in dem Gebäude anwesenden Personen mußten über 60 blutüberströmt auf Krankentragen heraus getragen werden: Sie waren so schwer geschlagen worden, dass sie nicht mehr laufen konnten. Einige waren ins Koma geprügelt worden, mehrere Personen wurden lebensgefährlich verletzt.“(15) Dieser beispiellose Übergriff war nur ein Element in einer ganzen Reihe von Aktionen der Demütigung, des Hasses und einer unglaublichen Brutalität der italienischen Polizeieinheiten. Zu diesen Übergriffen zähen nicht nur die Todesschüsse auf Carlo Giuliani, das „1,2,3 – via Pinochet“ der siegestrunkenen Polizeikräfte Gebrüll aus der Sporthalle „Palasport“, sondern auch das menschenverachtende Vorgehen gegenüber den wahllos Verhafteten. „Eine herausragende Rolle spielte die zum Gefängnis umfunktionierte Kaserne Bolzaneto außerhalb von Genua. Dort wurden Inhaftierte tagelang geschlagen und gefoltert. Gefängnisärzte rissen ihnen Piercings aus und Aufseher schlugen die Köpfe der Gefangenen an den Wänden blutig. Die Übergriffe waren so heftig, dass in der italienischen Presse nur noch vom ‚Lager Bolzaneto’ die Rede war.“ (18)
Doch Azzellinis Artikel ist mehr als eine Darstellung von Fakten, der Hinweis auf laufende Prozesse, etwa jenes, der von den Eltern Carlo Giulianis gegen den italienischen Staat geführt wird, und in dem Widerspruch um Widerspruch in den offiziellen Verlautbarungen zu Tage tritt. Er zeigt auch den Kampf der italienischen Linken gegen das verordnete Vergessen und Vertuschen, um die Wiedergewinnung von Würde und Selbstbewußtsein. „Am Jahrestag des Todes von Carlo Giuliani beteiligten sich über 1500.000 Menschen an der zentralen Großdemonstration: Viermal so viele wie von den optimistischsten Organisationen erwartet.“(30) Entscheidend war jedoch nicht nur die zahlreiche Teilnahme an den Demonstrationen und Veranstaltungen ein Jahr nach den Ereignissen, sondern offenbar die Fähigkeit der italienischen Linken über ihre eigene Situation, über ihre Probleme und Perspektiven konkret zu sprechen. In diesem Sinne stellt auch der vorliegende Aufsatzband einen Beitrag zur dieser Aufarbeitung dar.
In den weiteren Artikeln wird ein großer Bogen gespannt; von der Niederlage de linken Partisanen um 1945, der Entwicklung der sozialen Kämpfe der 60er und 70er Jahre, bis hin zu den politischen und sozialen Grundlagen der ultrarechten, ja offen faschistischen Tendenzen im italienischen Staatsapparat. Verbunden ist diese Reflexion mit Artikeln zu Entstehung und Entwicklung der Lega Nord, dem Aufstieg Berlusconis und der Weg der offen faschistischen MSI zur Regierungspartei AN (Alleanza nazionale) unter der Führung Finis. Neben den geschichtlich orientierten Beträgen finden sich Interviews mit VertreterInnen wichtiger linker Organisationen und zwar der Rifondazione Comunista (aus der aufgelösten KPI hervorgegangen), den Cobas (comitati di base – „Basiskomitees“) und vor allem den Tute Bianche, in denen unter anderem die Beweggründe für ihre Transformation in die „Disobbedienti“ (die „Ungehorsamen“) dargestellt werden. Diese Gespräche sind eng mit der Entstehung des Buches verknüpft. Oliver Ressler gestaltete in Zusammenarbeit mit Dario Azzellini ein sehr empfehlenswertes Video über die „Disobbedienti“, ein lebendiges und beeindruckendes Dokument über Entwicklung und Stand jener Gruppe, die sich wohl am stärksten von allen linken Kräften Italiens an Negri und Hardts Thesen im „Empire“ orientieren. Über oliver.ressler@chello.at kann Kontakt mit dem Filmemacher aufgenommen und eine Vorführung des Videos organisiert werden; unbedingt empfehlenswert!
Insgesamt stellt das Buch eine gute Einführung in die sozialen und politischen Verhältnisse Italiens dar und zeigt, zumindest ansatzweise, den Stand der Linken in diesem Lande. Eine Linke die, verglichen mit jener hierzulande aber auch in Deutschland, bezüglich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung doch eine Stufe weiter ist. Daraus erklärt sich das weitgehende Fehlen von Scheuklappen und jener 110% Überzeugung, den Nabel der Welt erkannt zu haben, das bei so manchen Strömungen in deutschen Landen leider nicht zu übersehen ist. Natürlich können und sollen wir nicht einfach die italienische Linke imitieren, aufgrund der völlig anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen würde das auch gar nicht funktionieren. Aber hie und da einen Blick auf die italienische Entwicklung zu werfen, würde ich doch sehr empfehlen. Und dieses Buch mag ein möglicher Einstieg dazu sein.