Anhänger der PRI massakrieren 45 Tzotzil-Indianer
Massaker in Chiapas
Sie stehen sich direkt gegenüber, keine zwei Meter voneinander entfernt: Die Trauergemeinde mit den drei Gitarristen am Straßenrand, die triste Melodien mit kämpferischem Inhalt singen - über den Aufstand der EZLN 1994, über Kampfflugzeuge und Maschinenpistolen, die sie aufhalten wollen. Und der Lastwagen der "Seguridad Publica", der chiapanekischen Polizei, auf dem rund vierzig Uniformierte genau jene Maschinenpistolen im Anschlag halten. Sie haben den Tzotzil-Indianern des Bezirks Chenalho ihre Toten zurückgebracht - jene 45 Frauen, Kinder und Männer, die am 22. Dezember 1997 von bewaffneten Anhängern der Regierungspartei PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) massakriert worden waren. Nach der Obduktion in Tuxtla Gutierrez, der Hauptstadt des Bundesstaates, sind sie nun wieder hier - aufgeteilt auf drei kleine Lastfahrzeuge der Polizei, verpackt in schwarze Plastiksäcke. Ein leichter, aber unverwechselbarer Leichengeruch liegt in der Luft. Eine ausreichende Kühlung der Leichname bis zur Beerdigung haben die Behörden in diesem Fall wohl für unnötig erachtet.
Vom größten Massaker an Frauen, Kindern und Zivilisten seit 1968 spricht die mexikanische Tageszeitung La Jornada im Zusammenhang mit dem vorweihnachtlichen Überfall auf das Flüchtlingslager von Acteal, Bezirk Chenalho im Hochland von Chiapas. Das etwa 70 Kilometer nordöstlich von San Cristobal de las Casas gelegene Chenalho hat in den letzten Monaten häufig für Schlagzeilen gesorgt: der ländliche Bezirk, in dem 30.000 Menschen auf 61 comunidades verteilt leben, ist seit August 1995 gespalten, in eine Verwaltung der Regierungspartei PRI und eine autonome Gemeinde, die sich dem korrupten Verteilungssystem des mexikanischen Staates entziehen wollte und sich seitdem als zivile Unterstützungsbasis der EZLN versteht.
Die PRI-Verwaltung beruft sich auf die Wahlen vom Oktober 1995, zu deren Boykott die EZLN als Konsequenz aus dem Wahlbetrug von 1994 in Chiapas aufgerufen hatte, und bei denen die Wahlbeteiligung unter 25 Prozent lag. Beide Bezirksverwaltungen agieren seit nunmehr zweieinhalb Jahren parallel, wobei die autonome Verwaltung von Polho jegliche staatliche Hilfe ablehnt. Neben diesen beiden Widersachern lebt auch noch eine dritte Gruppe im Bezirk Chenalho, die sich 1993 aus Protest gegen behördliche Willkür gegründet hat, sich aber nicht der EZLN zuordnen möchte und gegen jede Gewalt ausspricht. Sie nennt sich "Sociedad civil Las Abejas". Dieser Gruppe gehörten ausnahmslos die Opfer von Acteal an.
Das Vorspiel
Mit der Spaltung des Bezirks Chenalho begann auch der Terror: Nach Informationen des Menschenrechtszentrums Fray Bartolome de las Casas in San Cristobal zwingen PRI-Gemeindevorstände die ansässigen Familien, Schutzgelder zu bezahlen, von denen Waffen und Munition gekauft werden sollen. In zahlreichen Gemeinden wurden BewohnerInnen, die derartige Maßnahmen verweigerten, von paramilitärischen Gruppen oder bewaffneten PRI-Anhängern gezwungen, ihre Häuser zu verlassen.
Anfangs pflegten die Aggressoren selbst die verlassenen Hütten zu beziehen und sich als reine PRI-Gemeinden neu zu konstituieren. Doch in den letzten Monaten eskalierte die Gewalt: Auf Plünderungen folgten immer häufiger Brandstiftungen, Einzelne oder kleine Gruppen, die sich nicht explizit zur PRI bekannt hatten, wurden ermordet aufgefunden. Bereits vor dem Massaker von Acteal hatte der Konflikt mindestens 29 Tote gefordert, 6.000 bis 7.000 Menschen, also rund die Hälfte der gesamten Einwohnerschaft von Chenalho, sind auf der Flucht. Sie leben zu Hunderten in notdürftig errichteten Flüchtlingslagern, unter Sonnendächern aus Bananenblättern oder Plastikplanen, ohne Latrinen, gesundheitliche Versorgung oder ausreichende Nahrung. Manche sind seit Monaten da, manche erst seit ein paar Tagen. Viele sind aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit und der nächtlichen Kälte erkrankt, die unterernährten Kinder graben Wurzeln aus dem weichen Boden, um sie zu essen. Die autonome Gemeinde Polho verteilt die Hilfsgüter, die zuweilen mit LKWs aus der Hauptstadt kommen, so gut es geht, doch einige der Lager sind nur zu Fuß auf langen Märschen durch den Schlamm zu erreichen, und das Dorf Polho, wo üblicherweise wenige hundert Menschen lebten, hat mittlerweile selbst ca. 3.000 Flüchtlinge zu versorgen.
Der Angriff
Eines dieser Lager gleich neben der Gemeinde Acteal war es, das die PRI-Anhänger gemeinsam mit Parteigängern der Frente Cardenista, einer von der PRI aufgebauten Scheinopposition, am 22. Dezember angegriffen haben. Etwa 800 Familien, die zuvor schon aus ihren angestammten Dörfern vertrieben worden waren, lebten hier. Gegen elf Uhr morgens - gerade wurde in der kleinen Holzkapelle Kleidung vom Roten Kreuz verteilt, während einige der sehr katholischen "Abejas"-Mitglieder für den Frieden beteten - ertönten die ersten Schüsse. Auf die Kapelle, in der und um die sich an die 350 Menschen drängten, ging von verschiedenen Seiten ein Kugelhagel nieder.
Als der Trauerzug aus Polho drei Tage später in Acteal zur Beerdigung eintrifft, sind die Spuren des Massakers noch gut zu erkennen: die Kleidungshaufen in der panikartig verlassenen Kapelle, Einschußlöcher in den Holzplanken und Baumstämmen. Nur die Blutspuren an den Bäumen hat das Militär, das den Ort drei Tage lang besetzt und abgeriegelt hielt, zum Teil mit Machetenhieben abgeschält. Doch in einer Mulde am Hang, in der einige vor den Schüssen Zuflucht gesucht hatten, liegt noch blutgetränkte Kleidung, ein Kinder- und ein Frauenschuh, Tüten mit hastig zusammengerafften Sachen.
Hier, so erzählt uns ein Mann, habe er in der Nacht vom 22. auf den 23. September gut dreißig Tote gefunden, die kreuz und quer übereinander lagen. "Ich stand oben an der Kante vor diesem schrecklichen Bild und habe heruntergerufen, ob noch jemand lebt. Eine Frau hatte sich auf ein kleines Mädchen geworfen und es so vor den Kugeln geschützt, und zwei verletzte Frauen habe ich noch aus dem Leichenberg gezogen. Alle anderen waren tot." Die Ärzte berichten nach der Autopsie davon, daß die meisten Opfer Einschußlöcher im Genick und im Rücken aufweisen. Sie müssen aus etwa vier Meter Abstand in der Mulde, in der sie Schutz gesucht hatten, erschossen worden sein. Direkt an der Kante fand man die Patronenhülsen. Nur neun der Opfer waren Männer, alle anderen Frauen und Kinder, darunter ein Neugeborenes.
Bereits um 12 Uhr mittags des 22.12. - also während des Massakers - haben italienische Fotografen aus der Ferne einen Polizeitransporter mitten in Acteal fotografiert. Doch der örtliche Polizeichef, Comandante Jesus Rivas, will mit seinen Leuten erst um vier Uhr nachmittags ins Dorf gekommen sein - zu dem Zeitpunkt also, als die Zeugen aus Polho von einem Ende der Detonationen berichten. Alles sei ruhig gewesen, so Rivas, die Menschen hätten sich bei seinem Eintreffen in den Häusern verschanzt und sich geweigert, mit ihm zu sprechen. Das hat ihn nicht weiter erstaunt: "Diese Indios haben kein Vertrauen zu uns, obwohl wir für ihre Sicherheit zuständig sind." Woran das läge, wisse er auch nicht, gibt der blauäugige Beamte sich ahnungslos. "Vielleicht, weil ich nicht denselben Dialekt spreche wie sie." Erst mitten in der Nacht habe man ihm mitgeteilt, daß es Tote gegeben habe. Wer ihm nicht vertraue, den könne er auch nicht beschützen. Und obwohl die Kaserne der Polizei zwischen Polho - wo alle die Schüsse gehört haben - und Acteal liegt, will die Polizei nichts Derartiges vernommen haben.
Die Überlebenden
Zwei Tage nach dem Überfall auf Acteal sind vierzig Verdächtige festgenommen. Ein Teil davon befand sich auf einem Lastwagen, der dem Trauerzug entgegenkam. Angehörige der Toten erkannten Einzelne, die an dem Massaker beteiligt waren. Um einen Aufruhr zu verhindern, griff die "Seguridad publica" ein und rettete die Verdächtigen vor der aufgebrachten Menge ins Polizeifahrzeug.
Jacinto Arias Cruz, Bürgermeister des Bezirks Chenalho, leugnete am ersten Tag öffentlich, daß es in Acteal Tote oder Verletzte gegeben habe. Seitdem verweigert er jede Information. Doch die Anschuldigungen gegen den PRI-Bürgermeister sind deutlich. Er soll der Drahtzieher des Massakers und der seit Monaten anhaltenden Vertreibungen und Morde im Chenalho sein. Arias Cruz verfügt über hervorragende Verbindungen zu der Regierung des Bundesstaates Chiapas, vor allem zu seinem Cousin Antonio Perez Hernandez, Mitglied der chiapanekischen Regierung und als Hardliner in der ohnehin berüchtigten Führung des südmexikanischen Bundesstaates bekannt. Flüchtlinge und Überlebende berichten von einer Versammlung, die Arias Cruz am Samstag vor dem Massaker einberufen hat und an der die Vorstände von fünf PRI-Gemeinden des Bezirks teilgenommen haben.
Inmitten einer Gruppe von JournalistInnen und Schaulustigen steht auf dem Hauptweg des Dorfes Polho "Luciano", der Repräsentant der autonomen Zapatistengemeinde und örtliche Verbindungsmann zur EZLN. Sein Gesicht spärlich mit einem Halstuch verdeckt, übersetzt er für die Presse immer neue Berichte von Augenzeugen aus dem Tzotzil. Unter Tränen erzählt beispielsweise Maria Perez Perez, der Bürgermeister habe die fünf Gemeindevorstände angewiesen, jeweils 25 bewaffnete Männer für den Überfall auf Acteal zur Verfügung zu stellen. Der Koordinator der Paramilitärs sei Tomas Mendez, ein ehemaliger Militär aus der Gemeinde Los Chorros, die auch als Zentrale der Paramilitärs bekannt ist. Von dem geplanten Angriff erfuhr Maria Perez Perez noch am Samstag selbst von ihrem Ehemann, der Mitglied des Rates von Chenalho ist. Die ursprünglich aus Acteal stammende, etwa vierzig Jahre alte Tzotzil-Indianerin wollte daraufhin ihre Familie vor dem bevorstehenden Angriff warnen. Doch auf dem Weg wurde sie von der Polizei von Chenalho verhaftet und verbrachte die Zeit bis Mittwoch Mittag im Gefängnis. Das Gesicht der Frau ist eingefallen, es fällt ihr augenscheinlich schwer, sich auf den Beinen zu halten. Das Kind an ihrer Brust schaut ausdruckslos in die sie umringende Menge. Sie zeigt ihre geschundenen Arme und Beine: "Ich bin von der Polizei geschlagen worden, und seit Samstag habe ich weder zu Essen noch zu Trinken bekommen."
Juana Vasquez Perez, eine nicht einmal zwanzigjährige Tzotzil-Indianerin aus Acteal, denunziert ihren eigenen Ehemann als Mörder und Paramilitär. Sie hält ein Foto hoch, wahrscheinlich ihr Hochzeitsfoto, von dem sie ihr eigenes Konterfei abgerissen hat. Zu sehen ist ein junger Mann. "Das ist er, Armando Vasquez Luna aus Quextic, er ist ein Mörder!", ruft sie schluchzend. Sie hat bei dem Massaker ihre Mutter, eine jüngere und eine ältere Schwester verloren und ist nun zu ihrem Bruder nach Polho geflohen. Ihr Mann sei bei der PRI, berichtet sie schluchzend, und auch sie sei bei der PRI gewesen, der Großteil ihrer Familie gehöre zu "Las Abejas", während ihr Bruder in Polho - wie die gesamte Gemeinde - zu der zivilen Unterstützungsbasis der EZLN gehört. Die junge Frau berichtet weiter, daß die Angreifer, die sie erkannt habe, alle Presbyterianer gewesen seien, also von der protestantischen Religionsgemeinschaft, der auch Bürgermeister Arias Cruz angehört. Bereits im schmutzigen Krieg in Guatemala hatte der US-amerikanische Geheimdienst CIA protestantische Sekten gezielt in Strategien zur Aufstandsbekämpfung eingeplant und ihre Verbreitung gefördert. Daß Juana Vazquez Perez die Angreifer erkennt, ist kein Einzelfall. Da die Angreifer aus den Nachbargemeinden rekrutiert wurden, kann "Luciano" noch am selben Nachmittag eine komplette Namensliste der Männer verlesen, die an dem Massaker beteiligt waren. "Alle, die von der Gewalt der Paramilitärs und der Polizei betroffen sind, sind unsere Brüder und Schwestern, auch wenn sie mal bei der PRI waren oder von ,Las Abejas` sind, wir sind alle arme Campesinos", erklärt "Luciano" auf erstauntes Nachfragen verdutzter Journalisten. "Alle PRI-isten die nicht auf ihre Nachbarn schießen wollen, die sich weigern den Paramilitärs bei den Vertreibungen, Morden und Plünderungen Hilfe zu leisten, befinden sich in der gleichen Situation wie die anderen."
Das Nachspiel
Bereits einen Tag nach dem Massaker von Acteal gibt es wieder Gerüchte, daß Bewaffnete ein weit abgelegenes Flüchtlingslager namens X'Cumumal umzingeln würden. Die Aussagen widersprechen sich: Tzotziles, die nach Polho kommen, berichten von Schüssen und Verletzten, die Polizei behauptet, in X'Cumumal sei alles ruhig und unter Kontrolle. Zu überprüfen ist das kaum, denn das Militär hat die Straße nach X'Cumumal gesperrt, und auf den einsamen Bergpfaden fühlen sich mittlerweile nur noch die Paramilitärs sicher. Unterdessen richtet Präsident Zedillo eine Ansprache an die Nation, in der er die Gewalt verurteilt und eine bedingungslose Aufklärung der Verbrechen fordert. Die Oppositionspartei PRD macht hingegen die Regierung selbst für das Massaker verantwortlich. "Das Massaker von Chenalho ist kein Einzelfall", so die PRD in einer Erklärung. Die paramilitärischen Gruppen seien "vollständig identifiziert und bereits seit längerem den verantwortlichen Behörden bekannt gegeben worden", ohne Konsequenzen. Die PRD fordert den Rückzug des Militärs aus Chiapas und die Entwaffnung der Paramilitärs sowie die sofortige Absetzung der chiapanekischen Regierung. Selbst der Vorsitzende der Generalstaatsanwaltschaft, Jorge Madrazo Cuéllar, spricht von einem durchorganisierten Überfall mit zentraler Leitung.
Die Lage ist auch in San Cristobal gespannt, statt der Polizei patrouilliert dort nun das Militär. Am 25. Dezember, während die Überlebenden von Acteal lediglich von Bischof Samuel Ruiz, der die Messe spricht, ein wenig Trost bekommen bevor die 45 Toten in zwei eilig geschaufelten Massengräbern versenkt werden, fahren zahlreiche Militärkonvois auf der Bergstraße in die Gegend von Polho. Aus zwei mexikanischen Bundesstaaten sind alle Einheiten zur Verstärkung nach Chiapas gerufen worden. Die EZLN gibt bekannt, das Militär nutze die geringe öffentliche Aufmerksamkeit in der Weihnachtszeit, um weiter in Richtung der Stellungen der Aufständischen vorzurücken.