Ein Jahr Vicente Fox in Mexiko
Fortgesetztes Elend
Entschlossen die Probleme anpacken und das ganze Land umkrempeln wollte Vicente Fox, als er Anfang Dezember vergangenen Jahres in Mexiko als erster Oppositioneller die über 70 Jahre dauernde Herrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) bei Präsidentschaftswahlen brechen konnte. In seiner Wahlkampagne hatte der ehemalige Coca-Cola-Manager versprochen, die grassierende Korruption zu bekämpfen, den Konflikt in Chiapas schnell zu lösen, die Menschenrechtssituation unmittelbar zu verbessern und Arbeitsplätze zu schaffen. Er versprach 7% Wirtschaftswachstum und eine großartige Zukunft für Mexiko. Ein Jahr später fällt die Bilanz verheerend aus.
Die Situation in Chiapas ist verfahren. Das im Frühjahr verabschiedete Autonomiegesetz verdient ihren Namen nicht und wird von den indianischen Gemeinden Mexikos abgelehnt. Die Wirtschaft stagniert, die Arbeitslosigkeit steigt, die Militarisierung nimmt zu und die Menschenrechtssituation ist geradezu katastrophal. Ernüchterung hat sich auch unter den vielen Fox-Fans breit gemacht, die seinen Regierungsantritt anfänglich mit Sympathie sahen, darunter viele ehemalige Linke.
Weltweites Aufsehen verursachte die Ermordung der Menschenrechtsanwältin Digna Ochoa am 19. Oktober. Die 37-jährige Juristin war in ihrem Büro mit zwei Schüssen regelrecht exekutiert worden. Digna Ochoa zählte in Mexiko zu den bekanntesten und engagiertesten MenschenrechtsaktivistInnen. Jahrelang arbeitete sie mit dem kirchlichen Menschenrechtszentrums Augustín Pro zusammen. Durch ihre Aktivitäten griff sie regelmäßig die Interessen lokaler Machthaber in ländlichen Regionen und Mitglieder der staatlichen Apparate an.
Menschenrechtsanwältin exekutiert
In den vergangenen Jahren hatte Ochoa immer wieder Morddrohungen erhalten und war bereits 1999 zwei Mal überfallen und wegen vermeintlicher Beziehungen zu Guerillagruppen verhört worden. Vieles deutet darauf hin, dass Mitarbeiter staatlicher Repressionsorgane hinter diesen Überfällen steckten. Eine Anzeige ihrerseits führte zu keinem Ergebnis. Als sie sich im vergangenen Jahr in Mexiko immer stärker bedroht sah, flüchtete sie für sechs Monate in die USA. Bei ihrer Rückkehr hatte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt. Nur einen Monat später wurde sie ermordet.
Die Anwältin beschäftigte sich aktuell vorwiegend mit zwei Fällen. Einerseits vertrat sie zwei Jugendliche aus Mexiko Stadt, denen unbelegt die Mitgliedschaft in der Guerilla FARP und Beteiligung an zwei Anschlägen auf Banken vorgewurfen wird. Andererseits verteidigte sie die Bauern Rodolfo Montiel und Teodoro Cabrera, die aktiv gegen illegale und maßlose Waldrodungen im Bundesstaat Guerrero kämpfen. Armee und Großgrundbesitzer, die an den Rodungen verdienen, bezichtigen die Bauern, Verbindungen zur "Guerilla" und zum "Drogenhandel" zu unterhalten - das Totschlag-Argument in Guerrero, einem der gewalttätigsten Bundesstaaten Mexikos, in dem unter dem Vorwand der Guerilla und Drogenbekämpfung in der Vergangenheit zahlreiche Oppositionelle inhaftiert oder ermordet wurden. Die bisherigen Ermittlungen deuten darauf hin, dass der Tod von Digna Ochoa mit dem Fall der Umwelt-Aktivisten zusammen hängt.
Situation in Chiapas verfahren
Während in Mexiko die Ermordung Digna Ochoas die Schlagzeilen dominierte und weltweit verschiedene Organisationen wie amnesty international, die UNO, die katholische Kirche und selbst die US-Regierung ihre Besorgnis über den Fall ausdrückten und einen schweren Rückschlag für die Lage der Menschenrechte ausmachten, dauerte es drei lange Tage, bis das Präsidentenbüro offizielles Bedauern bekundete. Statt eine energische Verfolgung der Mörder einzuleiten, schieben die Behörden die Verantwortung beiseite. Fox hält die Exekution für ein "gewöhnliches Verbrechen". Er meinte lakonisch: "Es kann sein, dass es ein Schlag gegen die Menschenrechte ist; bevor der Fall jedoch nicht aufgeklärt ist, werden wir nicht genau wissen, um was es sich handelt." Die von der Fox-Regierung zur Menschenrechtsbeauftragten ernannte Marie Claire Acosta nahm denn auch nicht als Regierungsvertreterin, sondern als Privatperson an der Trauerfeier teil.
Nicht nur der versprochene Demokratisierungsprozess steckt in der Krise; auch die Friedensaussichten in Chiapas haben sich nach anfänglicher Euphorie über Fox, Annäherung an die EZLN wieder verdunkelt. In fünfzehn Minuten würde er das Problem mit EZLN lösen, tönte Fox noch im Wahlkampf. Ein Jahr später verkündet er nun zwar: "Die Flüchtlinge sind alle in ihre Gemeinden und Häuser zurückgekehrt und alles ist friedlich und ruhig", doch mit der Realität hat dies wenig gemein. Während zehntausende Flüchtlinge immer noch darauf warten, in ihre Gemeinden zurückzukehren, haben Polizei, Militär und Paramilitärs immer noch freie Hand in Chiapas und vertreiben weiterhin Anhänger der Zapatistas, brennen ihre Hütten nieder und eignen sich ihren bescheidenen Besitz und die mühsam eingebrachte Ernte an. Da das von der Fox-Regierung im Frühjahr verabschiedete Autonomiegesetz sowohl den Forderungen der indianischen Gemeinden wie auch vorherigen Vereinbarungen mit der EZLN widerspricht, zapatistische Gefangene weiterhin inhaftiert sind und in den zapatistischen Gebieten keine Entmilitarisierung, sondern lediglich eine Umstrukturierung der Truppen erfolgt ist, herrscht seit Monaten Funkstille zwischen EZLN und Regierung. Nun kündigte Fox auf seiner Europa-Reise im Oktober zwar an, er wolle die vor einem knappen halben Jahr verabschiedeten Gesetze einer "Überprüfung unterziehen", doch schon einen Tag später wiesen die Abgeordneten seiner Partei PAN, die das Gesetz verabschiedeten, eine erneute Revision weit von sich.
Auch ein weiteres der großen Versprechen Fox` blieb bisher unerfüllt. Hatte er im Wahlkampf und nach der Amtsübernahme noch großspurig angekündigt, eine Verfassungs- und Staatsreform in die Wege zu leiten, liegen der seit acht Monaten arbeitenden Parlamentarischen Kommission für die Staatsreform immer noch keine diesbezüglichen Vorschläge der Regierung vor. "Ich kann mich an keine Regierung erinnern, die so lange nach ihrer Machtübernahme noch kein Projekt politischer Reformen in die Wege geleitet hat", beklagt Diego Valadés, verantwortlich für eine der sechs Unterkommissionen. "Das ist sehr schlimm, wo doch von Veränderung geredet wird ... Es gibt keine Veränderung."
Tatsächlich ist es Fox nicht einmal gelungen, das Regime der ehemaligen Staatspartei PRI zu demontieren. Struktur, Funktionsweise und sogar die meisten Amtsinhaber des alten klientelistischen Systems sind unter Fox unverändert geblieben. Hinter Fox steht der gleiche Kreis mexikanischer Unternehmer mit transnationaler Reichweite, der auch den vorangegangenen Präsidenten Ernesto Zedillo an die Macht gebracht und gestützt hatte.
Auf Kritiken reagiert Fox jedoch stets gereizt. "Ich habe schon aufgehört, eine Menge Zeitungen zu lesen, da sie mir den Tag verderben", äußerte er in seiner samstäglichen Radiosendung und forderte seine Zuhörer auf, gedruckten Medien keine Vertrauen mehr zu schenken. "Sie verdrehen die Meldungen, erfinden, betrügen und lügen", so der Präsident.
Je größer die Probleme in Mexiko selbst werden, desto mehr Zeit verbringt Fox auf Auslandsreisen. 72 Tage seiner ersten elf Monate als Präsident verbrachte er im Ausland. Im eigenen Land wächst der Unmut über seine ständige Abwesenheit, zumal die Ergebnisse seiner Unternehmungslust eher bescheiden sind. Spöttisch verzeichnen Kommentatoren der mexikanischen Presse, das deutlichste Resultat sei die mittlerweile kontinuierliche Präsenz des Präsidenten und seiner ehemaligen Sprecherin Martha Sahagún, die er kürzlich heiratete, auf den Titelseiten der weltweiten Boulevardpresse.
Tatsächlich scheint Vicente Fox auch die Realität außerhalb des Glanzes festlicher Empfänge kaum zu kennen. "Die Situation Mexikos ist, verglichen mit fast jedem anderen Land der Welt, viel besser!", erklärte er gleich mehrmals während einer Asienreise Ende Oktober und erntete in Mexiko Staunen und Unverständnis. Es herrsche ein "sicheres Investitionsklima mit einer sehr stabilen und soliden Wirtschaft", fügte der Präsident hinzu. Die Analytiker des Sistema de Información Regional de México (Sirem) hingegen warnten zeitgleich davor, dass sich die mexikanische Wirtschaft momentan in der gleichen Situation wie Ende 1994 befände. Damals hatten Investoren und Unternehmer innerhalb weniger Tage ihr Kapital aus Mexiko abgezogen und den folgenschweren "Tequila-Crash" provoziert, der zu einer drastischen Entwertung des mexikanischen Peso, dem Zusammenbruch kleiner und mittlerer Unternehmen und zu einer massiven Verarmung der Bevölkerung führte.
Die Sirem-MitarbeiterInnen warfen Fox vor, im wesentlichen die Wirtschaftspolitik von Carlos Salinas - der das Land von 1988 bis 1994 regierte - fortzusetzen, und übten vehemente Kritik am Vorgehen der Regierung, das sich darauf beschränke, den Finanzsektor durch anti-inflationäre Politik und die Überbewertung des Peso stabil zu halten. Diese Maßnahmen würden den weiteren Rückgang der Produktion beschleunigen und seien für die mexikanische Wirtschaft auf mittlere und lange Sicht nicht tragbar.
Vor neuem "Tequila-Crash"?
Tatsächlich ist die wirtschaftliche Situation geradezu desolat. Hatte in den zwei Jahrzehnten vor der Amtsübernahme von Vicente Fox das Wirtschaftswachstum jährlich durchschnittlich über 2% betragen, in den zwölf Monaten vor seiner Präsidentschaft sogar fast 7%, sank es im laufenden Jahr rapide und stagniert etwa bei null. Finanzminister Francisco Gil Díaz musste Ende Oktober zugeben, dass seit dem Amtsantritt Fox' in Mexiko etwa 500.000 Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Die Gründe für die schlechte ökonomische Situation liegen teilweise an der vor allem nach den Anschlägen vom 11. September erlahmenden US-Wirtschaft; immerhin wickelt Mexiko 85% seines Außenhandels mit dem nördlichen Nachbarn ab. Doch die Ursachen sind auch in Mexiko selbst zu suchen, denn sogar die privaten Inlandsinvestitionen sind im Verlauf des Jahres um 5,3% gefallen.
Selbst Picard del Prado, Vorsitzender des größtes Unternehmerverbandes Mexikos CANACINTRA, der 30.000 Firmen des verarbeitenden Gewerbes vertritt, äußert sich besorgt: "Unter den Industriellen herrscht die Ansicht vor, dass es in der Regierung keine klaren Erkenntnisse über die aktuelle Situation und das, was wirklich vor sich geht, gibt." Dass die Kassen auf Grund der verminderten Steuereinnahmen leer sind, hat Fox allerdings bemerkt, und so wurde ein Sparprogramm für die laufenden Kosten verkündet. Es ist bereits das dritte in diesem Jahr insgesamt wurde das ursprüngliche vorgesehene Budget um ca. 1,5 Mrd. Dollar gekürzt. Jede Kürzung hat jedoch direkte Konsequenzen für den Binnenmarkt und heizt so einen Teufelskreis an. Die Auslandsschuld Mexikos beträgt mittlerweile 77,3 Mrd. Dollar, ein Prozent mehr als bei Fox Amtsantritt, und die Binnenverschuldung etwa 649 Mrd. Peso (ca. 60 Mrd. Dollar), satte 3,6% mehr als im vergangenen Dezember.
Die Lösung sieht die Regierung im IWF, dessen Richtlinien die Wirtschaftsplanung der Regierung für die verbleibenden fünf Jahre ihrer Amtszeit bestimmen. Das Programm soll dem Abgeordnetenhaus in der zweiten Novemberhälfte vorgelegt werden. Das Programm sieht auch mögliche weitere Kredite des IWF in Höhe von 17 Mrd. Dollar vor. Diese sollen jedoch laut Finanzminister Francisco Gil Díaz nur in Anspruch genommen werden, wenn die Teilrückzahlung von Schulden und Zinsen nicht geleistet werden kann.