Auf der Schattenseite von Caracas. Unsicherheit, wie es nach der Unterschriftensammlung gegen Chávez weitergeht
»Plan B« und die Reaktion der Armen
Venezuela in diesen Tagen. Die Hälfte der Amtszeit von Hugo Chávez, des linksorientierten Präsidenten, ist abgelaufen, die Opposition besitzt verfassungsgemäß das Recht, ihn durch ein Volksbegehren in Frage zu stellen. Vier Tage blieben Zeit, um 2,4 Millionen Unterschriften zusammenzubekommen, vier Tage, um ein Referendum einzuleiten. Am Montag vergangener Woche war Deadline, termingerechtes Ende der Zeichnungsfrist. Eine unruhige Zeit mit ungewissem Verlauf stand bevor. Und steht weiter bevor.
Am frühen Nachmittag des Mittwochs stürmten in der Altstadt von Caracas plötzlich 150 Angehörige der Stadtpolizei »Policía Metropolitana« (PM) die mit Verkaufsständen übersäten Straßen. Sie seien auf der Suche nach illegalen Feuerwerkskörpern, hieß es offiziell. Tatsächlich wirkte der Übergriff wie eine Strafaktion. Ohne ersichtlichen Grund wurden Tränengasgranaten verschossen, die Straßenhändler geschlagen und angebrüllt: Schließlich war im staatlichen Fernsehen zu sehen, wie ein Polizist eine Waffe zog und in die Menge schoß. Zeitgleich versuchten Angehörige des regierungsoppositionellen Stoßtrupps »Bandera Roja« die Bevölkerung zum Plündern aufzustacheln. Erst als die Nationalgarde kam, ergriff die Hauptstadtpolizei die Flucht.
Ähnliche Zwischenfälle spielten sich auch in anderen Teilen von Caracas und Städten Venezuelas ab, und immer stärker verdichtet sich der Eindruck, daß eine gezielte Destabilisierungskampagne des ganzen Landes angelaufen ist. Abgeordnete der Chávez-Regierung hatten bereits vor zwei Wochen auf entsprechende Pläne der Opposition hingewiesen. In Videos und Aufzeichnungen von Telefonaten zwischen Führern des gegnerischen Lagers war die Rede von einem »Plan B«, den es nach der Unterschriftensammlung in Gang zu setzen gelte. Auseinandersetzungen, Straßenschlachten und Chaos sollten provoziert werden. Mit welchem Ziel, wurde zwar nicht erwähnt, doch liegt es auf der Hand.
Wieviel Anti-Chávez-Voten die Opposition tatsächlich zusammen tragen konnte, ist bis heute unklar. Zum Abschluß der Sammlung am vergangenen Montag abend erklärte Oppositionsführer Henry Ramos Allup, es seien vier Millionen. Am Dienstag morgen dann waren es, so die große Tageszeitung El Nacional, nur noch 3,8 Millionen. Diese schmolzen am Mittag in einer Erklärung von Enrique Mendoza, Sprecher des Oppositionsbündnisses, auf 3,6 Millionen zusammen, um schließlich durch das oppositionelle private Propagandaunternehmen »Sumate« und die US-Institutionen National Endownment for Democracy (NED) sowie USAID mit 3,4 Millionen benannt zu werden. Der Oppositionsführer Henrique Salas Römer meinte dann, es seien 2,8 Millionen. Derweil berichteten die von Chávez-Anhängern benannten Beobachter von »unter zwei Millionen gesammelten Unterschriften« – zuwenige also angesichts des zu erreichenden Limits von 2,4 Millionen.
Die Kontroverse um Zahlen spitzte sich zu. Während Oppositionssprecher verkündeten, genug Unterschriften zu haben, um 27 der 33 angestrebten Volksabstimmungen gegen Regierungsabgeordnete durchzuführen, erklärte der Oppositionsabgeordnete Guillermo Palacios vor laufenden TV-Kameras, in seinem Bundesstaat Lara sei das Ziel, 20 Prozent der Wahlberechtigten gegen die Abgeordneten unterschreiben zu lassen, gescheitert. Insgesamt sei auch nur bei zwölf Abgeordneten die notwendige Unterschriftenzahl erreicht worden.
Auffällig war auch, daß trotz des angeblichen Triumphes der Opposition kaum jemand auf den Straßen feierte. Selbst die wohlbetuchten Stadtviertel im Osten Caracas schienen weitgehend verlassen, so wie in den Tagen vorher die Unterschriftensammelstellen. Dabei schien noch in der Vorwoche, als die Chávez-Anhänger nach eigenen Angaben vier Millionen Unterschriften gegen Oppositionsabgeordnete sammelten, das halbe Land auf den Beinen gewesen zu sein. Der unterschiedlich starke Andrang an den Sammelstellen war augenscheinlich, und dennoch wollten beide Seiten in etwa gleich viele Unterschriften vereint haben?
Stutzig macht auch, daß sich die oppositionellen Medien sehr ruhig verhielten. Nachdem zu Beginn noch der Triumphalismus die Berichte prägte, gingen die oppositionellen TV-Sender am vergangenen Wochenende dazu über, lediglich Unterhaltungsprogramme auszustrahlen, anstatt über den Verlauf der Referendumskampagne sowie die zahlreichen Unregelmäßigkeiten zu berichten – ein nicht weiter verwunderlicher Vorgang angesichts der meist menschenleeren Sammelstellen.
Angesichts Tausender gemeldeter Unregelmäßigkeiten – von Arbeitnehmern, die unter Entlassungsdrohungen zum Unterzeichnen gezwungen wurden, bis hin zu Verstorbenen, die gegen Chávez unterschrieben – wollen die regierungsnahen Kräfte ab Beginn kommender Woche nun 2 700 Stände im gesamten Land aufbauen – diesmal allerdings, um Beschwerden zu sammeln. Der Nationale Wahlrat beschränkte sich indes auf die Ankündigung, er werde allen Beschwerden nachgehen, wobei die Überprüfung der Listen voraussichtlich bis Ende Dezember dauern würden.
Indes ist die Stimmung in den Armensiedlungen der Hauptstadt gut. Die meisten Bewohner scheinen sicher, daß Chávez Präsident bleibt. So auch weit oben über der Stadt in Las Casitas / Quinta Terraza, auf Deutsch »Die Häuschen / Fünfte Terrasse«. Die Armensiedlung, in der 30 Familien leben, ist Teil des Bezirks La Vega des Municipio Libertador, einer der fünf administrativen Distrikte Caracas’. Venezuelas Hauptstadt liegt in einem Tal und ist umgeben von hohen Bergen. Entlang der Hänge ziehen sich die Armensiedlungen. Je höher man kommt, desto ärmer sind die Viertel und ihre Bewohner.
Unter der heißen Mittagssonne arbeiten acht junge Frauen auf einem winzigen Feld mit bestenfalls 15 Quadratmetern. Sie lockern mit Spaten die Erde auf, ziehen Furchen und säen vorsichtig Saatgut aus kleinen Gläsern. Ambar Centeño, Agraringenieurin des »Nationalen Instituts für erzieherische Kooperation« (INCE), erteilt Ratschläge, erklärt in welchem Abstand und wie tief die Aussaat der Samen erfolgen soll. Wenn alles klappt, sollen hier in wenigen Wochen Tomaten, Zwiebeln, Salat, Paprika und Gurken wachsen.
Der kleine Acker, auf dem die Frauen schuften, ist ein »Übungsfeld«, ein Pilotprojekt des Programms für urbanen Gemüseanbau »Alle Hände zur Aussaat«, das Anfang 2003 in Zusammenarbeit mit der Welternährungsorganisation FAO gestartet wurde. Damit soll sowohl die Lebensmittelversorgung der armen Bevölkerung verbessert, wie auch die Produktion insgesamt gesteigert werden, denn Venezuela importiert 60 Prozent der Lebensmittel.
Auch in Caracas selbst sind zahlreiche mit Gemüse bebaute Freiflächen zu sehen. Direkt hinter dem Hilton Hotel, mitten im modernen Zentrum der Stadt, befinden sich zwei mittelgroße Felder, auf denen bereits seit April von einer Kooperative Gemüse angebaut und in einem kleinen Laden verkauft wird. Das INCE stellt Werkzeug, Saatgut, garantiert Beratung und Ausbildung durch Fachkräfte, und wenn Interesse besteht und genügend Land vorhanden ist, wird auch die Möglichkeit zur Kooperativenbildung und zum lokalen Vertrieb der Produkte erwogen. Das wird in Las Casitas nicht der Fall sein. Das Land reicht bestenfalls zur besseren Befriedigung der eigenen Versorgung. Der Anbau hat hier vor 15 Tagen begonnen. Etwa 20 Personen, bis auf einen Jugendliche alles Frauen, lernen auf dem Versuchsfeld. Anschließend sollen dann sieben kleine Felder gemeinschaftlich bebaut werden.
Die Arbeit wird von der Stadtteilinitiative »Ateneo Caribes de Itagua« organisiert. »Wir sind hier seit 20 Jahren, unsere Arbeit im Stadtteil ist viel älter als die Chávez-Regierung«, erklärt Edgar Pérez, »aber wir unterstützen unseren Präsidenten, denn unsere Arbeit wird von der Regierung gefördert, auch wenn wir nicht in der Regierungspartei MVR (Bewegung V. Republik) sind«. Edgar Pérez bezeichnet sich als libertär, sein Ansatz sei die Politik der täglichen Praxis. »Politik bedeutet das eigene Leben zu organisieren. Mit dieser Regierung ist Politik auch keine Expertensache mehr, wie es früher immer dargestellt wurde. Heute ist klar, daß man keinen Doktortitel in Soziologie braucht, um über Politik zu reden«, unterstreicht Pèrez. Die Forderungen der Stadtteilversammlungen seien heute Regierungspolitik. »Wir haben für unsere Arbeit drei zentrale Achsen ausgemacht: Erziehung, Gesundheit und Ernährung. Die drei zentralen Programme der Regierung decken genau diese drei Bereiche ab!«, meint Pèrez, und er klingt begeistert.
Mit dem Programm »Barrio adentro«, »im Innern des Stadtteils«, sind 500 kubanische Ärzte in die Armenviertel geschickt worden, um die Bevölkerung medizinisch zu betreuen und Vorsorgeuntersuchungen vorzunehmen. Die Opposition schimpft auf die Kubaner, erklärt, Venezuela hätte selbst genügend Ärzte. Die betroffene Bevölkerung ist gegenteiliger Ansicht, waren doch venezolanische Ärzte bisher nicht dazu bereit, in diesen Stadtteilen zu leben und zu arbeiten. Insgesamt sollen 1000 kubanische Ärzte zwei Jahre in Venezuela bleiben. Anschließend ist geplant, das Programm mit Venezolanern fortzusetzen. Hunderte von Jugendlichen aus den ärmsten Vierteln Caracas studieren bereits seit einigen Jahren mit Stipendien versehen Medizin auf Kuba und in Venezuela.
Im Stadtteil Carretera Vieja / Plan de Manzano, Sektor Las Torres, ebenfalls im Distrikt Libertador, hat ein altes Ehepaar den vorderen Teil ihres Hauses für eine Arztpraxis zur Verfügung gestellt. Die Anwohner haben alles gereinigt, frisch gestrichen und der kubanischen Ärztin ein kleines Zimmer hergerichtet. Während diese gerade ein Kind mit Bauchschmerzen untersucht, sitzt die nächste Patientin, eine junge Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht, im Wartezimmer. »Ich war schon mehrmals hier, alleine und mit meinen Kindern«, erzählt Odali. »Diese Ärztin ist ein Segen! Früher gab es keinen Arzt. Bei ihr war ich schon zweimal nachts mit meinen Kindern, und meinem Mann hat sie das Leben gerettet, als er im Januar eines Nachts mit einer schweren Viruserkrankung von einem Hospital in der Stadt abgewiesen wurde, weil die Oberärzte dort den Oppositionsstreik unterstützten.«
Die Kubanerin Maria Elena Alfonso kam wie alle anderen freiwillig nach Venezuela: »Als Ärztin will ich armen Menschen helfen, die ansonsten keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben, und das ist hier der Fall.«
Zugang zu ärztlicher Versorgung, Zugang zu Bildung – so der zweite Schwerpunkt der Chávez-Leute. Dieser sorgt entscheidend mit für die positive Haltung der Armenviertel gegenüber der Präsidentschaft. Am 1. Juli begann mit der »Misión Robinson« ein ehrgeiziges Alphabetisierungsprogramm. Basierend auf der Befreiungspädagogik wurde das kubanische Modell der Realität Venezuelas angepaßt. In siebenwöchigen Kursen erlernten bereits über eine Million Menschen lesen und schreiben. Zehntausende Freiwillige unterrichten weiter die Lernwilligen. In den Kursen sitzen Teilnehmer jeden Alters, von Neunjährigen, die aus Armut keine Schule besuchen, bis zu Rentnern, der Älteste 102 Jahre. Zum erfolgreichen Abschluß erhält jeder Teilnehmer ein Zertifikat und eine »Familienbibliothek«, eine Sammlung mit 25 Werken der Weltliteratur.
Ende Oktober lief unter dem Namen »Ja, ich kann weiter machen« die zweite »Robinson«-Phase an. Ein Schulabschluß mit Grundkenntnissen in Geschichte und Geografie, Naturwissenschaften, Mathematik, Englisch und im Umgang mit Computern. Im November dann eröffneten auch die ersten »Bolivarianischen Universitäten«, ein neues Hochschulsystem, in dem all jene unterkommen sollen, die sich bisher das Studium an den teuren Privatuniversitäten nicht leisten konnten und die auch zu der elitären Zentraluniversität keinen Zugang fanden – eine nicht zu unterschätzende Zahl angesichts der Tatsache, daß nur etwa zehn Prozent der Abiturienten Venezuelas der Zugang zu einer Hochschule gelingt.
So die Wirklichkeit der Vergangenheit. Sie wirft nicht nur ein Licht auf die aktuellen Interessengegensätze, sondern verdeutlicht auch die Kontroverse, gegenwärtig und in Zukunft.