Gespräch mit der venezolanischen Parlamentsabgeordneten Iris Varela über Unterentwicklung und Überausbeutung, über Freihandel, Souveränität und die Interessen transnationaler Konzerne

“Die Integration braucht einen sozialen Inhalt”

Iris Varela ist Abgeordnete der Nationalversammlung Venezuelas für die »Bewegung Fünfte Republik« (MVR), der Partei des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Sie gehört zu den beliebtesten Abgeordneten und trägt den Spitznamen »fosforito«, »Streichhölzchen«, da sie in politischen Fragen sehr »feurig« ist. Die Rechtsanwältin gehörte bereits der Verfassunggebenden Versammlung an, die 1999 und 2000 tagte. Heute ist sie Vorsitzende der parlamentarischen ALCA-Kommission, die sich mit den Auswirkungen des geplanten amerikanischen Freihandelsabkommen ALCA beschäftigt. Diese untersucht alle auf dem amerikanischen Kontinent existierenden Wirtschafts- und Freihandelsabkommen, also auch Caricom (Antigua und Barbuda, Bahamas, Barbados, Belize, Dominica, Grenada, Guyana, Jamaika, Montserrat, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, St. Vicent und die Grenadinen, Surinam sowie Trinidad und Tobago), Mercosur (Argentinien, Uruguay, Brasilien und Paraguay), G-3 (Kolumbien, Mexiko und Venezuela), Comunidad Andina (Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela) und das nordamerikanische NAFTA (Mexiko, USA, Kanada), um eine Position zum ALCA zu entwickeln.

F: In Lateinamerika wächst der Widerstand gegen das geplante Freihandelsabkommen ALCA, das den ganzen Kontinent – mit Ausnahme Kubas – einschließen soll. Sie sitzen einer Parlamentskommission vor, die die Pläne untersucht. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Wir haben eine gemeinsame Erklärung verfaßt, die ich als Vertreterin Venezuelas auf einem interamerikanischen Treffen von Regierungsvertretern vorgestellt habe. Darin wird das ALCA grundlegend abgelehnt, und die lateinamerikanischen Regierungen aufgefordert, den Verhandlungstisch zu verlassen, wenn die Grundlagen der Verhandlungen nicht wesentlich verändert werden. Wir haben vorgeschlagen, das Datum des Inkrafttretens zu verschieben, und wenn die USA nicht bereit sind, über einige Dinge, vor allem die Subventionen für die eigene Landwirtschaft, zu verhandeln, dann wird Venezuela den Beitritt aussetzen. Zusammenfassend entspricht die Position der Kommission, trotz Oppositionsmehrheit, der Position der Regierung.

Die USA haben gewisse Regeln aufgestellt, um zu einer Einigung zu gelangen. Doch die aktuelle Situation ist besorgniserregend. Wenn die USA nicht einmal die Regeln der UNO beachten und im Irak machen, was sie wollen, warum sollten sie sich dann an die Vereinbarungen halten, die hier auf dem Kontinent getroffen wurden, um zu einer gemeinsamen Position bezüglich des ALCA zu kommen.

F: Die Oppositionsparteien greifen die genannte Erklärung als »falsche Regierungspolitik« scharf an. Wie äußert sich das innerhalb der Kommission?

Die Kommission besteht mehrheitlich aus Abgeordneten der Opposition. Allein aufgrund ihrer Zusammensetzung kann also niemand behaupten, sie würde nur im Sinne der Regierung arbeiten. Die Untersuchungen der Freihandelsabkommen und der Integrationsmechanismen sind so eindeutig gewesen, daß die Abgeordneten der Opposition nicht in der Lage gewesen sind, Positionen im Sinne des neoliberalen Projekts zu vertreten, das sie interessiert. Sogar ein Abgeordneter der früheren Regierungspartei Accion Democratica hat die Erklärung unterschrieben. Der kann schlecht behaupten, er habe von all dem nichts gewußt... Ich habe mir von ihm sogar noch einmal schriftlich bestätigen lassen, daß er die Position der Kommission unterstützt, denn ich habe mir schon gedacht, daß die Opposition einen Rückzieher machen wird. Ich habe auch Schreiben von Unternehmern und Regionalgouverneuren der Opposition erhalten, die sich im Sinne unserer Ergebnisse äußern.

F: Was wird am ALCA kritisiert?

Wir lehnen die expansionistische Politik der USA grundlegend ab. Es kann nicht sein, daß sich die Situation für 32 Länder weiter verschlechtert, um die wirtschaftliche Lage von zwei Ländern des Kontinents, den USA und Kanada, zu verbessern. Es gibt ja bereits ein Freihandelsabkommen kleinerer Dimensionen, das NAFTA zwischen Mexiko, den USA und Kanada. Die negativen Auswirkungen, die dieses für die Bevölkerung Mexikos und seine Wirtschaft hat, sind beispiellos in der Geschichte des Landes. Millionen Kleinbauern wurden gezwungen, ihr Land aufzugeben. Sie können nicht mit der hochsubventionierten Produktion der industrialisierten US-Landwirtschaft konkurrieren. Wir wollen nicht hinnehmen, daß das, was mit Mexiko im Rahmen des NAFTA geschieht, sich mit dem ALCA in anderen Teilen des Kontinents wiederholt.

Das ALCA ist faktisch eine Art kontinentale Verfassung für Amerika, mit Spielregeln, die auf dem gesamten Kontinent gelten sollen. Diese werden in den ALCA-Verhandlungskomitees diskutiert, häufig von Leuten, die nicht mal Regierungsvertreter sind, sondern transnationale Unternehmen repräsentieren. Ich habe selbst an solchen Gesprächen teilgenommen.

Wir fordern hingegen, daß die Diskussionen um das Freihandelsabkommen eine soziale Dimension erhalten. Ziel muß es sein, eine Annäherung der Entwicklungsniveaus zu erreichen. Wir wehren uns dagegen, »unterentwickelte Länder« genannt zu werden, wir sind nicht »unterentwickelt«, sondern überausgebeutet. Letztlich ist es die internationale Ordnung, mit ihren Komplizen in unseren Ländern, die die Entwicklung verhindert. Das ist zurückzuführen auf die unvollendete Unabhängigkeit dieser Länder.

Daraus folgt, daß die Ausübung der Souveränität umso wichtiger wird. Es ist eine Pflicht, unsere eigenen Kampfmethoden und Verhandlungsweisen zu erfinden und unsere Unterschiedlichkeiten anzuerkennen. Die USA wollen eine Integration, die sich an ihren Bedürfnissen orientiert, wir wollen hingegen eine, die unseren Bedürfnissen gerecht wird. Ein Mittel dazu wäre die Bolivarianische Alternative für die Amerikas, das ALBA. Das ist der Gegenvorschlag von Hugo Chávez zum ALCA.

F: Was sind die Hauptpunkte des ALBA?

Wir sind gerade dabei, einen Vorschlag zu entwickeln, der den lateinamerikanischen Ländern vorgelegt werden soll. Wir gehen davon aus, daß die Integration zunächst auf subregionaler Ebene, zwischen Ländern mit einem ähnlichen Entwicklungsstand, erfolgen muß, so daß eine wirkliche Symmetrie herrscht. Im ALCA herrscht eine enorme Asymmetrie, niemand kann Haiti mit den USA vergleichen. Wir können keiner Integration zustimmen, im Verlaufe derer sich letztlich der Größere den Kleineren einverleibt.

Was wir jetzt machen müssen, ist, auf Treffen und Kongresse zu gehen und das tun, worin die USA Experten sind: Lobbyarbeit betreiben. Wir müssen mit allen progressiven Strömungen des Kontinents sprechen, uns an den Demonstrationen der Bevölkerung beteiligen und die Alternative vorstellen.

F: Venezuela hat einen Antrag gestellt, als assoziierter Staat dem Mercosur beitreten zu können. Entspricht dieses Abkommen den Vorstellungen Venezuelas?

Nein, aber wir sind daran interessiert, Mercosur zu stärken. Doch der Mercosur hat für Argentinien, für die Bevölkerung dort, nichts Positives gebracht, sonst wäre sie nicht in der Situation, in der sie sich befindet. Das heißt, daß diese Handelsabkommen neu definiert und überarbeitet werden müssen. Wir wollen, daß die Integration einen sozialen Inhalt hat, daß das riesige Problem der Armut gelindert wird, die soziale Schuld gegenüber den Menschen bezahlt wird.

F: Wie soll das geschehen?

Zunächst, indem die Macht dem Volk übergeben wird. Das ist eines der Prinzipien der bolivarianischen Revolution. Wie wird die Macht übergeben? Indem das Volk an den Entscheidungen beteiligt wird. Ich glaube, selbst hier kann man von uns lernen. Die venezolanische Regierung hat auch in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die Anerkennung einer neuen Demokratieform vorgeschlagen: der partizipativen Demokratie, in der die Bevölkerung aktiv einbezogen wird. Das wurde natürlich abgelehnt, denn es herrscht Angst vor der Volksbeteiligung. Die Regierungen ziehen es vor, bei ihrem gemütlichen Schema der repräsentativen Demokratie zu bleiben, die in Wirklichkeit niemanden repräsentiert. Wenn diese Demokratien irgend jemanden repräsentieren würden, dann hätte der Irak-Krieg nicht stattgefunden oder wäre gestoppt worden.

Das System repräsentiert die Kapitalinteressen und nicht die breite Masse der Bevölkerung. Das ist ein Widerspruch, denn Demokratie bedeutet eigentlich Volksmacht, doch zugleich ist das Volk in der repräsentativen Demokratie jeder Macht beraubt. Daher glauben wir auch nicht an diese Demokratie, sie ist in Venezuela fast ein halbes Jahrhundert lang gescheitert: 80 Prozent der Venezolaner waren ausgeschlossen. Doch das Volk besiegte zunächst eine der wesentlichen Säulen der Macht: Die Unwissenheit. Bei uns wurde die Bevölkerung immer beherrscht, indem sie unwissend gemacht und gehalten, ihr keine Teilhabe ermöglicht wurde. Doch der Prozeß, den Hugo Chávez angestoßen hat, hat die Leute aufgeweckt. Heute kannst du mit jedem Venezolaner über Politik reden, sie ziehen die Verfassung hervor und verteidigen die partizipative Demokratie. Die Menschen begreifen nach und nach, was das bedeutet. Es ist noch ein weiter Weg, dessen sind wir uns bewußt. Aber auch die Bevölkerung ist sich bewußt, daß sie sich bilden und aktiv beteiligen muß. Das ist der Weg.

Daher zielt unser Vorschlag der lateinamerikanischen Integration auf einen Weg mit wichtigen menschlichen und sozialen Bestandteilen ab, dessen primäres Ziel der Kampf gegen die Unwissenheit sein muß, damit die Bevölkerung jeden Tag weniger abhängig ist und für die eigenen Belange kämpft, sich bewußt wird, daß sie eine enorme Entscheidungskraft hat. Daß ihnen bewußt wird, daß sie nicht einfach Vertreter haben, sondern selbst an der Entscheidungsfindung teilnehmen müssen.

F: Das ALCA stößt auf mehr Widerstand, als von den USA erwartet. Der ecuadorianische Präsident Lucio Gutierrez ist zwar schon wieder vor den USA eingeknickt, aber Lula hat verkündet, Brasilien werde das ALCA in der vorliegenden Form nicht unterschreiben. Wie geht es weiter?


Das Interesse der USA konzentriert sich darauf, den Konsumgütermarkt zu dominieren und billige Arbeitskräfte abzuschöpfen. Letztlich wollen sich die USA einen riesigen Markt sichern. Sie vergessen nur, daß diese 800 Millionen Amerikaner Kaufkraft haben müssen, wenn sie US-Produkte kaufen sollen. Sonst geht es wie in Argentinien. Einige lateinamerikanische Regierungen überlegen daher ernsthaft, ob das ALCA tatsächlich so vorteilhaft ist, wie die USA immer behaupten.

In Venezuela könnte das Abkommen gar nicht ohne weiteres in Kraft treten, denn eine solche Entscheidung, die die Souveränität des Landes betrifft, muß einer Volksbefragung unterworfen werden. Wir schlagen die Schlacht daher auch im Inland und tragen unsere Bedenken auf Diskussionen und Foren. Und wenn den Menschen klar wird, daß die transnationalen Unternehmen die einzigen sind, die dann einen garantierten Markt haben, dann sind selbst Leute dagegen, die der Regierung nicht nahe stehen. Die erste Schlacht werden wir also gewinnen. Wir werden die Aufschiebung fordern; wenn die anderen nicht einverstanden sind, dann wird das venezolanische Volk über die Beteiligung Venezuelas entscheiden.

Zugleich geht die internationale Schlacht weiter, in die wir die lateinamerikanischen Bewegungen integrieren wollen, die sich ja bereits geäußert haben, deren Positionen in der repräsentativen Demokratie aber keinen Ausdruck finden und nicht in die Verhandlungen getragen werden. Der soziale Druck wird entscheidend sein, um ALCA den Weg zu versperren. Wenn sich der aktuelle Prozeß des Aufwachens und Aufbegehrens in Lateinamerika fortsetzt, dann können wir sehr viel erreichen. Die Bevölkerungen werden diesen Vertrag ablehnen, wenn sie erst einmal wissen, was er alles beinhaltet. Wenn wir uns als Bewegungen zusammentun und einen Alternativvorschlag vorlegen, dann ist das kein Sprung ins Leere.