Die Stimme der Basis in der Bolivarischen Revolution
Venezuela von unten
Dario Azzellini ist einer der beiden Regisseure des neuen Dokumentarfilms „Venezuela von unten“. Jorge Martin hat ihn für Hands Off Venezuela zum Film und seinen Eindrücken der Bolivarischen Revolution interviewt.
Jorge Martin (JM): Wie bist du auf die Idee gekommen, diesen Film zu drehen, und welche Verbindung besitzt du zur Bolivarischen Revolution?
Dario Azzellini (DA): Seit 1980 arbeite ich in und reise nach Lateinamerika und interessiere mich für die politischen und sozialen Entwicklungen. Außerdem mache ich seitdem ich 12 Jahre alt bin, und mittlerweile bin ich 37, aktiv linke Politik. Bevor ich den Film gedreht habe, habe ich Venezuela schon mehrfach bereist. Was mich am meisten beeindruckt hat, war die enorme Stärke der Basis und ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation, ihre eigenen Angelegenheiten im Transformationsprozess, der gerade in Venezuela stattfindet, selber in die Hand zu nehmen.
Es gibt bereits einige gute Dokumentarfilme zu den Entwicklungen in Venezuela, aber allen mangelt es (meiner und der Meinung meines Co- Regisseurs Oliver Ressler nach) an Darstellungen, wie die Menschen selbst diesen Prozess beurteilen, wie sich ihr Leben seit dem Beginn des Prozess verändert hat. In den anderen Filmen wurde der Schwerpunkt mehr auf die Erklärung der Rahmenbedingungen und die Ereignisse während des Putsches gelegt. Und wenn etwas zu den einzelnen Programmen erzählt wird, die derzeit umgesetzt werden, kommen für gewöhnlich PolitikerInnen oder „Repräsentanten“ zu Wort.
Wir wollten die Menschen zeigen, wie sie die Entwicklungen erklären, wie sie sich fühlen, wie sie leben, damit zumindest ein wenig von ihrem Streben nach Veränderung vermittelt werden kann. Wir wollten außerdem darstellen, dass die Menschen die Ereignisse sehr bewußt wahrnehmen. Sie wissen, was sie wollen und welche Bedürfnisse erfüllt werden müssen – und dass sie niemanden brauchen, der/die für sie spricht. Sie sind durchaus in der Lage, für sich selbst zu sprechen.
JM: Ja, das ist eine der auffälligsten Tatsachen, und dass ist, unserer Ansicht nach, der Aspekt, der eine Revolution definiert, dass die Menschen sich in Zehntausenden revolutionären Organisationen verschiedener Art selbst organisiert und ihre Zukunft selbst in die Hand genommen haben. Darum haben wir euren Dokumentarfilm interessant gefunden, er basiert hauptsächlich darauf, dass Menschen von der Basis, aus den Gemeinden, den ArbeiterInnenorganisationen etc. ihre Erfahrungen erzählen.
DA: Das ist ein entscheidender Aspekt. In der Tat, die unterschiedlichen linken Organisationen, jede mit ihrer eigenen Analyse der Revolution, haben uns die Ereignisse in Venezuela mit Erstaunen betrachten lassen. Es ist ein Prozess, der konkret organisiert werden muss, weil er keiner vorangegangenen Analyse folgt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die selbst- organisierten Massenmobilisierungen an der Basis den Prozess gerettet haben – gegen den Putsch, während der Aussperrung in der Ölindustrie und in allen anderen Situationen, in denen er bedroht wurde. Das kann nicht unterschätzt werden. Ich denke, dass darin die einzige Hoffnung liegt, dass der Prozess fortgesetzt, vertieft und überleben wird.
JM: Der zweite Schwerpunkt in eurem Film ist die Partizipation der ArbeiterInnenbewegung. Es werden Interviews zu Venepal, der CNV, und der Rolle der ÖlarbeiterInnen bei der Niederschlagung der Aussperrung gezeigt.
DA: Dies ist ein anderer bedeutender Teil des Films. Ein zentrales Moment in einem tiefgreifenden sozialen Transformationsprozess ist immer die Frage, wer die Produktionsmittel besitzt. Wer kontrolliert sie? Es muss eine Verteilung des Reichtums stattfinden, aber das Problem muss an der Wurzel angepackt werden. Deswegen sind die Fragen nach Land und Arbeit fundamental. Es sind nicht die einzigen. Die Angelegenheiten der Indigenas, kulturelle und Probleme der Gemeinden usw. dürfen nicht außer acht gelassen werden, aber ohne die Frage nach dem Eigentum und der Kontrolle der Produktionsmittel kann kein allgemeiner Transformationsprozess umgesetzt werden. Aus diesem Grund ist es so wichtig, den Kampf der besetzten Fabriken zu zeigen. Wir können auch eine Regierung, die revolutionär sein will, von dem Standpunkt aus beurteilen, inwiefern sie den Forderungen dieser ArbeiterInnen und Bauern entspricht.
JM: Wir haben auch mit hohem Interesse verfolgt, dass Chávez in den vergangenen Monaten deutlich gesagt hat, dass das Elend, die Ungleichheit und die Armut nicht innerhalb der Rahmenbedingungen des Kapitalismus gelöst werden könnten. Er hat darauf hingewiesen, dass der Weg des Sozialismus beschritten und die Debatte über den Sozialismus im 21. Jahrhundert eröffnet werden müsse.
DA: Davon bin ich schon immer überzeugt gewesen. Alles was bislang geschehen ist, hat meine Zuversicht in Chávez bestärkt. Er hat den Prozess geschickt geleitet und vertieft, den Basisbewegungen Räume gegeben und ist gleichzeitig immer offen für neue Ideen gewesen. Nun müssen wir aber genau untersuchen, wie diese Debatte in Venezuela geführt wird.
Wir wissen alle, dass es eine sehr breite Bewegung ist, deren Flügel von einer sozialdemokratischen bis zu einer revolutionären Linken reichen. Ich denke, dass sie sehr interessante Beiträge leisten werden. In Europa gibt es ja zahlreiche Führungsköpfe, die von „neuem Sozialismus“ reden und tatsächlich Neoliberalismus meinen. Bei Chávez wird dies aber wohl nicht der Fall sein.
Nachdem Chávez Position gefestigt ist, sehen wir, wie andere, zum Beispiel Zapatero aus Spanien, versuchen, den Prozess mit ihrer eigenen Vision von „Sozialismus“ zu beeinflussen, weil sie wissen, dass er noch einige Zeit sein Amt inne haben wird.
Ich bin außerdem der Ansicht, dass es höchst interessant zu beobachten ist, dass der Prozess seinen heutigen Stand niemals erreicht hätte, wenn mensch sich vor sechs Jahren auf diese Weise zum Sozialismus bekannt hätte.
Zuversicht verleiht mir darüber hinaus die Tatsache, dass dies einer der wenigen Prozesse ist, die ich in der gesamten Welt beobachtet habe, der vertieft worden ist. Er ist mit weitaus geringeren Versprechungen begonnen worden. Im Laufe der Zeit ist eine Vertiefung der sozialen Transformation erreicht worden.
JM: Vermutlich hängt das mit den gemachten Erfahrungen zusammen. Chávez ist mit der Idee zahlreicher sozialen Verbesserungen angetreten, die nicht besonders radikal waren, die aber ausreichten, um auf offene Ablehnung und einen bewaffneten Aufstand der Oligarchie und des Imperialismus zu stoßen.
DA: Das ist zutreffend. Mensch kann sagen, dass die ersten Maßnahmen der Regierung Chávez weder revolutionär noch kommunistisch waren sondern eher traditionell sozialdemokratisch (die neue Sozialdemokratie betreibt nicht einmal Reformen). Und nichtsdestotrotz kam es zu einem Zusammenstoß mit dem Imperium, den multinationalen Konzernen und dem IWF, die überzeugt waren, dass die Absichten zu weit gingen.
Deshalb bestand nach dem Zusammenstoß auch keine Möglichkeit mehr für ein Sozialdemokratie. Sozialdemokratie und Reformismus haben funktioniert, weil sie das Kapital „bedroht“ haben. Wenn nicht die Mindestreformen umgesetzt worden wären, die sie vorgeschlagen hatten, wäre es möglich gewesen, dass die Basis einen „falschen“ Weg eingeschlagen hätte, nämlich den der Sowjetunion (lassen wir an dieser Stelle mal außen vor, ob das, was in der Sowjetunion entstanden ist, Sozialismus war oder nicht). Diese „Bedrohung“ gibt es aber nicht mehr. Und zudem ist es ziemlich offensichtlich, dass das Kapital nicht einmal ein Hauch Interesse an den geringsten Reformen hat, die die Sozialdemokratie vorschlägt. Die Chance für den Reformismus ist verschwunden.
Auch das hat der Prozess in Venezuela in den letzten Jahren geleistet. Am Anfang ist er mit der gesammelten Gewalt und Propaganda des Kapitals, der transnationalen Konzerne und des Imperiums attackiert worden, obwohl nur wenige Reformanstrengungen unternommen wurden. Deswegen erkannten die Menschen, dass sie ebenso gut einen anderen Weg einschlagen könnten.
JM: Welches sind, deiner Meinung nach, die größten internen und externen Bedrohungen für die Bolivarische Revolution?
Beginnen wir mit den externen Faktoren. Ich denke, dass es durchaus zum einem Contra- Aufstand kommen könnte. Allerdings gehe ich nicht davon aus, dass die USA kurz- oder mittelfristig direkt intervenieren werden. Gleichzeitig bilden sie aber in zunehmenden Maße eine Armee von Konterrevolutionären aus, eine Art Contra wie in Nicaragua. (Heute haben sie bekannt gegeben, dass sie im Departement Amazonas fünf kolumbianische Paramilitärs festgenommen hätten.) Ihnen geht es jedoch nicht um einen militärischen Sieg sondern um eine Destabilisierung der politischen Situation in Venezuela. Und ihnen ist daran gelegen, diese bis zu den nächsten Wahlen so weit zu schwächen, dass die Menschen annehmen, sie hätten nur die Wahl zwischen einem Krieg und dem bourgoisen Kapitalismus anstatt zwischen einem sozialen Transformationsprozess und bourgoisem Kapitalismus.
Sie werden mit der Unterstützung der Großgrundbesitzer und Viehrancher (insbesondere jetzt, da die Regierung momentan damit beginnt, Land ernsthaft zu enteignen und neu zu verteilen) kolumbianische Gruppen aktivieren und versuchen, sie nach Venezuela einzuschleusen. Auf diese Weise könnte eine Contra aufgebaut werden.
Außerdem wird die Propagandakampagne fortgesetzt werden. Acción Democratica wird wohl in die politische Arena zurückkehren und dort die Rolle einer „vernünftigen „Opposition spielen, die sich offen für einen Dialog mit der Regierung gibt (so dass sie sie beeinflussen kann), um derart die Unterstützung der internationalen Sozialdemokratie zu erhalten.
Eine weitere Bedrohung von außen ist die Werbung und Finanzierung einer regionalistischen Bewegung im Departement Zulia. Darüber wird bereits gesprochen und die historischen Vorläufer sind ebenfalls vorhanden. Zulia steht unter der Kontrolle der Opposition. Aus ökonomischen Gesichtspunkten ist Zulia wegen der Ölreserven und der geographisch- strategischen Lage an der Grenze zu Kolumbien eine der bedeutendsten Regionen des Landes.
Eine weitere Gefahr habe ich schon in Zusammenhang mit Zapatero und der internationalen Sozialdemokratie erwähnt. Nachdem ihre VertreterInnen realisiert haben, dass sie Chávez nicht umgehend loswerden können, werden sie versuchen, den Prozess von außen zu beeinflussen. Sie werden die Bewegung mit ihren „Stiftungen“ und ihren BeraterInnen belästigen, um den Kurs des Prozesses in eine andere Richtung zu lenken.
In Venezuela ist die Korruption sicherlich einer der Hauptfeinde des Prozesses. Unter den venezolanischen PolitikerInnen gibt es zu viele, die auf den fahrenden Zug aufgesprungen sind, um von ihm persönlich zu profitieren und um an Geld zu kommen. Jede/r weiß das. Chávez selbst hat das bereits angeprangert. Die Korruption ist weit verbreitet und viele der Menschen werden ihren Rollen nicht gerecht, aber treten trotzdem nicht zur Seite, um anderen Platz zu machen, weil sie Angst haben, ihre kleine Macht zu verlieren.
Ein weiteres internes Problem ist die Notwendigkeit, echte Macht an die Basis abzutreten, damit sie Macht ausüben kann. In den bürokratischen Strukturen befinden sich aber viele Personen, die dies nicht wollen, weil sie wissen, dass sie persönlich dann Machtbefugnisse abgeben müssten. Deshalb unterbrechen sie den Prozess gegen den Druck von unten.
Das sind, meiner Ansicht nach, die gefahren, Schwierigkeiten und Aufgaben, denen der revolutionäre Prozess kurz- und mittelfristig begegnen muss.
Andererseits sind andere Aspekte positiv hervorzuheben; die Wirtschaft, der Beginn einer ernst zu nehmenden Landreform – es gibt dazu mittlerweile ein Agrarministerium, das endlich die Dinge umsetzt, die schon 1999 passieren sollten (nicht durch Zufall ist es mehrmals verändert worden). Zugleich lernt die Regierung weiterhin, wie sie Dinge angehen muss. Mensch darf nicht vergessen, dass sie in ihre Ämter katapultiert wurde, ohne viel Erfahrung zu haben, wie Dinge angepackt werden müssen.
JM: Meine letzten Fragen. Was ist die Hauptaufgabe der internationalen Solidaritätsbewegung? Und welchen Rat würdest du den Leuten geben, die bei Hands Off Venezuela und anderen Solidaritätsorganisationen, internationalen Bolivarischen Zirkeln, etc. organisiert sind?
DA: Ich denke, es gibt unterschiedliche Aufgabe zu erfüllen. Der Prozess in Venezuela überlebt, weil er von einer breiten Basis gestützt wird und davon müssen wir lernen. Wir mögen verschiedene Analysen haben, aber wir müssen trotzdem zusammenarbeiten, wenn wir etwas erreichen wollen. Die Solidaritätsbewegung mit Venezuela unterscheidet sich allerdings in Teilen stark von denen mit Nicaragua und El Salvador. Nicaragua besaß nichts, so dass die Solidaritätsbewegungen auch etwas zum schwachen wirtschaftlichen Sektor beitragen mussten. In Venezuela können wir wieder zu der ursprünglichen Bedeutung von Solidarität zurückkehren, d.h. wir können unsere eigenen Kämpfe zusammen mit denen Anderer entwickeln. Es ist eine sehr politische Solidarität, ein politischer Diskussionsaustausch.
Außerdem müssen Informationen zu Venezuela verbreitet werden. Wir müssen in Europa klarmachen, was in Venezuela geschieht. Was in den europäischen Nachrichten und Medien präsentiert wird, hat sehr wenig mit der Realität zu tun.
Parallel dazu ist es sehr wichtig, weiter in den akademischen Bereich einzudringen. Obwohl wir Fortschritte auf dem politischen Feld gemacht haben, wird der akademische Bereich weiterhin von Rechten (die sich manchmal als linke geben) dominiert, so dass es in Europa nahezu keine AkademikerInnen gibt, die den Prozess positiv einschätzen oder wenigstens seine Errungenschaften korrekt anerkennen.
Diese Informationen müssen zudem bis in die europäischen Gewerkschaften vordringen. Sie müssen verstehen, was in Venezuela passiert und direkte Verbindung dorthin aufbauen. Venezuela ist ein sehr großes und vielfältiges Land, so dass jede/r, der/die in Europa aktiv ist, als MechanikerIn, als ChemikerIn, UniversitätsprofessorIn, Studierende/r oder Homosexuelle/r, eine/n Gegenüber finden kann, der/die Teil des Prozesses ist.
Es ist entscheidend, dass es in Venezuela nicht um Venezuela geht sondern dass es als ein Beispiel für den Rest der Welt dient. Es werden im Gesundheits-, Ausbildungsbereich und an den sozialen Sicherungssystemen Dinge verändert, die in den reichen Staaten Europas als unbezahlbar bezeichnet werden. Studiengebühren werden eingeführt, „weil der Staat nicht für die Universitäten aufkommen kann – sie sind zu teuer“. Mensch soll für die Gesundheitsversorgung zahlen, „weil der Staat sie nicht bezahlen kann“, usw.. Und dennoch werden alle diese Dinge, die in Europa nicht erschwinglich sein sollen, in Venezuela eingeführt, obgleich es ein ärmerer Staat ist. Dies ist äußerst bedeutsam, um den neoliberal- kapitalistischen Diskurs in Europa zu erklären.
JM: Danke.
Der Film ist auf spanisch mit den deutschen oder englischen Untertiteln erhältlich. Nähere Infos unter: www.ressler.at