Interview mit dem Politikwissenschaftler Dario Azzellini zur Situation in Venezuela vor den Wahlen
"Erhebliche Ressentiments gegenüber der Regierung"
Dieser Artikel ist Teil des Dossiers: Präsidentschaftswahlen in Venezuela 2012
In Venezuela wird sich am 7. Oktober entscheiden, wer als neuer Präsident das Land für die nächsten sechs Jahre regieren wird. Welche grundlegenden Spaltungslinien bestimmen bis heute die gesellschaftlichen Verhältnisse in dem südamerikanischen Land?
Dario Azzelini: Die grundlegendste Spaltungslinie macht sich vor allem an der Frage fest, wovon man eigentlich lebt. Die Quelle des eigenen Einkommens bestimmt immer noch hauptsächlich, zu welchem gesellschaftlichen Sektor man gehört. Da sind zum einen die Bevölkerungsgruppen, die nach wie vor von dem alten und bis heute vorherrschenden Modell der rohstoff-fixierten, exportorientierten Rentenökonomie profitieren. Und eben die Mehrheit, welche dabei außen vor bleibt.
Die traditionell sehr enge Verzahnung der Rentenökonomie mit dem Staatsapparat ist ja wesentliche Ursache dafür, dass der von der bolivarischen Regierung angestrebte Umbau der venezolanischen Wirtschaft bisher eher schleppend voranging. Obwohl es z.B. bezüglich der Frage der Partizipation von Belegschaften und Marginalisierten mittlerweile eine ganze Menge von Selbstverwaltungsinitiativen unterschiedlichster Art im Lande gibt, nur um auf diesen wesentlichen Punkt kurz einzugehen.
Wie groß sind denn die sozialen Unterschiede zwischen diesen beiden grob skizzierten Sektoren?
Im Stadtbild von Caracas manifestiert sich diese grundlegende Spaltung innerhalb der venezolanischen Gesellschaft auf sehr eindrucksvolle Weise. Die moderne Innenstadt liegt in einem langgezogenen Tal, die Armenviertel erstrecken sich auf den Hängen darüber. Auf einer Anhöhe im Osten der Metropole wiederum konzentrieren sich die Villen der Reichen. In den Armensiedlungen wohnen allerdings etwa 80 Prozent der 5 bis 8 Millionen Einwohner der Metropole. Wobei es innerhalb dieser Viertel natürlich ebenfalls erhebliche Unterschiede gibt. Also da gibt es eben Leute, die faktisch nichts besitzen und solche, die durchaus über einen bescheidenen Besitz verfügen.
Bei letzteren handelt es sich z.B. um Eigentümer von einem oder mehreren Häusern, Wohnraum, der häufig untervermietet wird. Aber trotz dieser Unterschiede teilten in der Vergangenheit alle Bewohner eines Armenviertels die Erfahrung der Marginalisierung. Das bedeutete ganz konkret Folgendes: Früher konnte man als Einwohner eines Armenviertels z.B. de facto kein Bankkonto eröffnen. Schon allein aus diesem Grund hatte man kaum Chancen einen halbwegs einträglichen Job zu bekommen. Grundlegende Bildungsangebote waren häufig kaum wahrnehmbar, die medizinische Versorgung war äußerst schlecht, die Wasser- und Stromversorgung ebenso usw. usf. Das hat sich in den letzten 14 Jahren erheblich zum Besseren gewandelt.
Wie sieht die Situation derzeit in den industriellen Ballungsräumen aus?
Zunächst einmal muss man festhalten, dass es neben den immer schon staatlichen Unternehmen (z.B. PdVSA) und dem traditionellen privaten Sektor eine ganze Reihe wichtiger Firmen gibt, die jetzt wieder teilweise oder völlig in öffentlicher Hand sind (z.B. Siderúrgica de Orinoco C.A. / Sidor, die Telefongesellschaft Cantv, Banken), nachdem sie in den 80er und 90er Jahren privatisiert worden waren. Im Zuge der Privatisierungen hatte sich auch in den industriellen Leitsektoren Venezuelas innerhalb der Arbeiterschaft eine Zweiklassengesellschaft herausgebildet: Auf der einen Seite sind da die besser verdienenden und sozial einigermaßen abgesicherten Kernbelegschaften in den Staatsbetrieben, auf der anderen Seite die Beschäftigten in den privatisierten Firmen, die häufig als ausgegliederte Subunternehmen der Großbetriebe fungieren.
Die Arbeiter in den privatisierten Unternehmen mussten über Jahre hinweg eine erhebliche Verschlechterung bei den Realeinkommen, Arbeits- und Lebensbedingungen hinnehmen. Sie sind im hohen Maße prekär beschäftigt. Im Zuge der Neuausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik vollzieht sich heute ein grundlegender Wandel. Trotz aller Schwierigkeiten geht der jetzige Transformationsprozess zweifelsohne viel schneller vonstatten als Reformprozesse in anderen demokratischen Staaten. Hinsichtlich der sozialen Situation der Mehrheitsbevölkerung sind nicht zu übersehende Fortschritte erreicht worden. Zahlreiche Berichte der UNO und anderer internationaler Organisationen sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Venezuela verzeichnet in ganz Lateinamerika die größten Erfolge bei der Verbesserung der sozialen Lage seiner Bevölkerung.
Aber auch im internationalen Vergleich ist seine Entwicklung vorbildlich. Venezuela ist heute z.B. eines der zehn Länder mit dem höchsten Anteil von Studierenden an der erwachsenen Bevölkerung. Ebenso beeindruckend sind die Erfolge bei der Verbesserung der medizinischen Versorgung. Ich war vor nicht allzu langer Zeit in Griechenland und ich war schockiert. Es geht den Menschen in Venezuela heute zweifellos besser als in Hellas. Soviel sichtbares Elend auf den Straßen, wie in Athen z.B., so niedrige, ja häufig absurd geringe Reallöhne wie dort gibt es heute in Venezuela und zum Teil auch in anderen lateinamerikanischen Ländern nicht.
Welche Bevölkerungsgruppen repräsentieren die beiden Präsidentschafts-kandidaten Hugo Rafael Chávez Frías und Enrique Capriles Radonski? Wie hoch ist reale Mobilisierungsfähigkeit?
Radonski repräsentiert ohne Zweifel die wohlhabende, weiße und europäisch-stämmige Elite, die traditionell auch über das größte ökonomische Kapital verfügt. Hugo Chávez hingegen die ärmere Bevölkerungsmehrheit, häufig wie er afro-indigener Herkunft. Er steht aber auch für ein auf die umfassende wirtschaftliche wie infrastrukturelle Entwicklung des Landes ausgerichtete Strategie. Interessant ist ja, dass zu allererst weite Teile der Mittelschicht von dieser Politik profitieren. Wenn z.B. irgendwo eine neue Brücke gebaut wird, woher kommen dann die Ingenieure? Sie kommen natürlich aus der Mittelschicht.
Nichtsdestotrotz gibt es gerade in den gebildeten Mittelschichten nach wie vor erhebliche Ressentiments gegenüber der jetzigen Regierung. Da spielt vor allem die Angst vor dem Verlust des eigenen gehobenen Status eine Rolle: Die Eltern gebildeter Akademiker z.B. mussten früher enorme finanzielle Aufwendungen auf sich nehmen, um ihre Kinder zum Studium schicken zu können. Je mehr Leute aus den Unterklassen heute studieren können, desto weniger exklusiv ist die gesellschaftliche Stellung eines Absolventen einer höheren Bildungseinrichtung. Und so bleibt man trotz materiellen Gewinns gegenüber der Regierung auf Distanz. Glaubt man jedoch den aktuellen Umfragen, so hat Chávez eine Stammwählerschaft von etwa 40 Prozent, während hinter Capriles Radonski etwas weniger als 20 Prozent stehen.
Es wird vor allem darauf ankommen, wer von den beiden wie viele der bisher unentschlossenen Wählerinnen und Wähler für sich mobilisieren kann. Wenn nichts Außergewöhnliches passiert, müsste eigentlich Chávez die Wahl gewinnen, so die einhellige Meinung der Beobachter. Aber genau das ist der springende Punkt: Man muss damit rechnen, dass die Opposition mit Hilfe der USA, Kolumbiens etc. alles daran setzen werden, das zu erreichen: Unvorhergesehene Zwischenfälle provozieren, damit sich die Stimmung gegen Chávez wendet.
Der Politikwissenschaftler Dario Azzellini arbeitet an der Johannes Kepler Universität Linz (Österreich)
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