Seit Hugo Chávez 1999 seine erste Präsidentschaft antrat, ist die Anzahl der Genossenschaften in Venezuela explodiert. Der teilweise rasante Wandel in der Organisation hat wiederholt zu Problemen geführt, aber auch neue Möglichkeiten eröffnet.
Der Weg zum gesellschaftlichen Eigentum
Kaum betrete ich das Gemeinschaftszentrum «Sala de Batalla Alicia Benitez» in Petare, einem Armenstadtteil in Gross-Caracas, Venezuela, kommt mir Lorenzo Martini strahlend und mit ausgestreckten Armen entgegen: «Unsere Kommunen-Genossenschaften, die wir das letzte Mal als Du hier warst geplant haben, arbeiten schon». Zwischen Ende 2009 und Anfang 2010 hatte ich die selbstorganisierten Strukturen im Stadtteil mehrmals besucht. 30 Kommunale Räte (Consejos Comunales), eine auf Versammlungen und direkter Demokratie beruhende lokale Selbstverwaltung, sind dabei, sich in dem, was gemeinhin als «Lateinamerikas grösste Armensiedlung» gilt, zu einer Kommune (Comuna) zusammenzuschliessen. Die Namensverwandtschaft zur Pariser Kommune ist nicht zufällig. Auch in den venezolanischen Kommunen soll alles über ein Rätesystem von der Basis entschieden werden.
Die kommunalen Räte, die sich am Aufbau der gemeinsamen Kommune «Achse von Maca» beteiligen, haben in den vergangenen Jahren bereits eine Vielzahl kommunaler Genossenschaften gegründet, darunter Bäckereien, eine Schusterei, einen Gemüsegarten und einige andere Betriebe. Diese Art Genossenschaft ist, nicht wie in traditionellen Genossenschaft, Eigentum der in ihr arbeitenden Genossenschafte-rInnen, sondern gesellschaftliches Eigentum unter direkter Verwaltung der BewohnerInnen, in diesem Fall der gesamten Nachbarschaft, die in ihrem kommunalen Rat darüber entscheidet, welche Betriebe gebraucht werden, welche Struktur sie haben, wer in ihnen arbeitet und was mit dem erwirtschafteten Überschuss gemacht wird.
Ein Anwalt als Fahrer
Die zwei neu gegründeten Genossenschaften der Kommune sind eine Vertriebsstelle für das wesentlich zum Kochen verwandte Flüssiggas in Zylindern und ein kleines lokales Transportunternehmen, das die BewohnerInnen der höher gelegenen Stadtviertel in umgebauten und mit Sitzbänken ausgestatteten Jeeps rauf und runter fährt. Sie wurden beide auf der Ebene der Kommune gegründet, da ihr Aktionsradius weit über die einzelnen kommunalen Räte hinausgeht. Lorenzo Martini arbeitet mittlerweile als Fahrer und Buchhalter in der Transportgenossenschaft. Eigentlich ist er Anwalt, spezialisiert auf Unternehmensrecht, doch da er aus einem armen Viertel stammt, hat er nie einen besonderen Job gefunden. Er arbeitete als Firmenanwalt eines mittleren Unternehmens. Sein Lohn war schlecht und er verbrachte den ganzen Tag eingeschlossen in einem kleinen und stickigen Büro. Seine wirkliche Leidenschaft der vergangenen Jahre war, sich für seinen Stadtteil und seine Nachbarschaft einzusetzen. So war er von Anfang an daran beteiligt, die kommunalen Genossenschaften zu gründen, und übernahm gerne die Arbeit als Fahrer.
Die Diskussionen darüber, welche Genossenschaften es zuerst zu gründen galt und wie ihre Organisationsstruktur aussehen soll, dauerten mehrere Monate. Zunächst wurde auf den Versammlungen der an der Kommune beteiligten Räte darüber diskutiert, welche Betriebe von der Nachbarschaft am dringendsten gebraucht werden. Dann gab es einen mehrmonatigen Workshop, in dem alle Interessierten über die Struktur und die Aufgaben der eigenen kommunalen Genossenschaften diskutierten. Für den Workshop kam Rafael Falcón vom Ministerium für Kommunen einmal die Woche in das Gemeinschaftszentrum «Sala de Batalla Alicia Benitez» und organisierte die Diskussionen von etwa 25 bis 30 AnwohnerInnen. Es wurde über hierarchische und nicht-hierarchische Unternehmensmodelle diskutiert, über die soziale Aufgabe der Betriebe im Stadtteil, über Konsensdemokratie oder über die Notwendigkeit einer Differenzierung der Aufgaben, ohne daraus zugleich eine Hierarchisierung abzuleiten.
In den Diskussionen darum, wer in den zukünftigen Kommunen-Genossenschaften arbeiten sollte, wurde von allen viel Wert darauf gelegt, dass es sich um Personen handeln muss, die auch vorbereitet sind, um die entsprechenden Aufgaben zu übernehmen. Zugleich wurde auch Wert darauf gelegt, kein abgeschottetes Spezialistentum aufkommen zu lassen. Gegenseitiges Lehren und Lernen wurde zur notwendigen, ständigen Komponente der zukünftigen Betriebe erkoren. Wie die Basisaktivistin und pensionierte Lehrerin Elodia Rivero in den damaligen Debatten betonte: «Sie ist die Buchhalterin und ich bin eine ausführende Kraft. Sie muss auch wissen, welches meine Funktionen sind, welches meine Rolle ist und auch rotieren können. Morgen bringe ich ihr was bei. Wir müssen alle lernen. Paolo Freire redet in seiner ‹Pädagogik der Unterdrückten› viel davon: Wir lernen alle von allen, wir lernen alle gemeinsam».
Tiefere Preise als bei den Privaten
Im Workshop wurden gemeinsam Vorschläge erarbeitet, welche Betriebe zuerst gegründet werden sollten und wie ihre Struktur aussehen soll. Diese Ergebnisse wurden erneut in die Versammlungen der Kommunalen Räte getragen, wo auch darüber diskutiert wurde, wer in ihnen arbeiten sollte. Ende 2010, mehr als ein Jahr nachdem die Diskussionen begonnen hatten, stand das Resultat: Die Mehrheit der AnwohnerInnen der 30 kommunalen Räte befand die Vertriebsstelle für Flüssiggaszylinder und das lokale Transportunternehmen genössen die höchste Priorität.
Der Vertrieb der Flüssiggaszylinder wird vom staatlichen Erdölkonzern PDVSA unterstützt, der ein Programm zum Aufbau eines landesweiten, lokal selbstverwalteten Vertriebsnetzes für Flüssiggas Namens «Gas Comunal» betreibt. Gas ist in Venezuela ein Nebenprodukt der Ölförderung und äusserst billig. Doch der Vertrieb befand sich lange unter der Kontrolle privater Unternehmen, die es zu einem sehr hohen Preis verkauften und schwere Metallzylinder verwendeten. Die Preise bei «Gas Comunal» liegen nun bei nur etwa 20 Prozent des Verkaufspreises bei der privaten Konkurrenz. Zudem fabrizierte PDVSA neue, leichte Kunststoffzylinder. PDVSA unterstützt die organisierten Nachbarschaften mit dem Bau eines Vertriebslagers und liefert das Gas, die Gemeinden kümmern sich um den Verkauf. So haben sie auch vor Ort die Möglichkeit gemeinsam zu entscheiden, wer aufgrund schwieriger sozialer Verhältnisse das Gas gratis erhält. «Bei uns sind es einige alleinerziehende Mütter, die laut Beschluss unserer Versammlungen das Gas gratis erhalten», so Elodia Rivero. «Der Vertrieb von Flüssiggas funktioniert seit April 2011 und wir hatten gleich von Anfang an genügend Einnahmen, um die laufenden Kosten und die Löhne der vier Mitarbeiter zu bezahlen», berichtet Lorenzo Martini stolz. «Und im Juni 2011 haben wir vom Staat sechs Jeeps bekommen, die für den Transport von 13 Personen umgebaut wurden, und wir haben gleich mit einer Transportroute von der letzten U-Bahnstation unten bis in die am höchsten gelegenen Teile begonnen», so Martini weiter. «Diese war vorher von einem Privatunternehmen abgedeckt, das hat sich aber meist geweigert RentnerInnen umsonst und SchülerInnen, zum halben Preis zu transportieren, wie es das Gesetz vorsieht».
Massive Förderung von Genossenschaften
Als Hugo Chávez 1999 seine erste Präsidentschaft antrat, war der Genossenschaftssektor Venezuelas im Vergleich zum Rest Lateinamerikas kaum entwickelt. Die Genossenschaftskultur war wenig ausgeprägt und es existierten nur etwa 800 Genossenschaften mit insgesamt 20 000 Mitgliedern. Von 2001 bis 2006 konzentrierte sich die venezolanische Regierung auf die Förderung traditioneller Genossenschaften. Die Verfassung von 1999 sprach ihnen eine besondere Rolle zu. Sie sollten dabei helfen, ein ökonomisches und soziales Gleichgewicht in der Gesellschaft herzustellen, und erhielten massive staatliche Unterstützung. Vorteilhafte Rahmenbedingungen führten zu einem wahren Boom an Genossenschaftsgründungen. Mitte 2010 existierten nach offiziellen Angaben etwa 62 000 operative Genossenschaften, in denen insgesamt 2 012 784 Personen arbeiteten, von denen aber einige in mehreren Genossenschaften aktiv sein dürften, während andere wiederum neben ihrer Lohnarbeit in einer Genossenschaft aktiv sind.
Doch das rapide Wachstum der Anzahl Genossenschaften machte es unmöglich, in derselben Zeit effektive Mechanismen zu entwickeln, um die unerfahrenen neuen GenossenschafterInnen zu schulen und den korrekten Gebrauch der Fördergelder zu überprüfen. Zwar wurde eine Demokratisierung des privatunternehmerischen Sektors erzielt, doch die ursprüngliche Vorstellung, die Genossenschaften würden nahezu automatisch für die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse produzieren und durch das kollektive Eigentum würde eine interne Solidarität entstehen, die auch nach aussen ausstrahle, erwies sich als Trugschluss. Die meisten Genossenschaften folgten einer kapitalistischen Logik, konzentrierten sich auf Gewinnsteigerung und vernachlässigten dabei die Integration in die umliegenden Communities.
Kommunale Kooperativen verbreiten sich
Angesichts der kontroversen Erfahrungen mit klassischen Genossenschaften begann die Nationale Kooperativenaufsicht SUNACOOP ab 2007 enger mit kommunalen Räten zusammenzuarbeiten und das Modell der kommunalen Kooperativen vorzuschlagen. Bald griffen zahlreiche staatliche Institutionen das Modell auf und unterstützten die Entstehung solcher Genossenschaften unter verschiedensten Namen: kommunale Betriebe, kommunale sozialistische Unternehmen, Unternehmen sozialen kommunalen Eigentums und viele mehr. Auf lokaler Ebene begannen organisierte Nachbarschaften, Betriebe in verschiedensten Sektoren aufzubauen, vor allem aber in der Lebensmittelproduktion und -verarbeitung, im Baumaterialien-Sektor und im Bereich der Bereitstellung lokaler Dienstleistungen, vor allem der Personenbeförderung und dem Vertrieb von Flüssiggas. Dies entspricht auch den grössten Notwendigkeiten in den ärmeren Stadtvierteln und Dörfern. Bis Ende 2009 waren im ganzen Land bereits 271 Kommunale Genossenschaften entstanden, die von den Kommunalen Räten und Kommunen im Aufbau selbstverwaltet werden, während weitere 1084 Betriebe von organisierten Nachbarschaften und dem Staat gemeinsam verwaltet werden. Mittlerweile sind es bereits über 1000 Genossenschaften, die als «kommunales gesellschaftliches Eigentum» selbstverwaltet sind.
Die Comuna Victoria Socialista im Armenstadtteil Antímano beispielsweise umfasst den Sektor Carapita und einen Teil von Santa Ana. Hier wurden mittels staatlicher Finanzierung 2010 fünf Betriebe «direkten kommunalen Eigentums» aufgebaut. Die Gewinne aus der Schweisserei, Bäckerei, Schreinerei, der Textilverarbeitung und der Herstellung von Zementblöcken für den Wohnungsbau fliessen, kollektiven Entscheidungen folgend, wieder in die Community. Die Idee ist die der Entwicklung einer kommunalen Wirtschaft mittels Förderung lokaler produktiver Projekte, die bei vorhandenem Wissen und vorhandenen Ressourcen ansetzen. Lokale Produktions- und Konsumptionskreisläufe sollen den lokalen Gemeinschaften mehr Stabilität verleihen und eine Ökonomie aufbauen, die sich wesentlich im kommunalen Eigentum befindet. Pablo Arteaga, einer der zentralen Aktivisten der Kommune in Petare fasst zusammen: «Nach 40 und mehr Jahren repräsentativer Demokratie bleibt festzustellen, dass die Privatunternehmen gescheitert sind; vor allem bezüglich der Dienstleistungen. Die kommunalen Räte, die aus Theorie und Praxis die Funktion der Dienstleistungen kennen, haben sich vorgenommen, eine Lösung zu suchen. Das ist das, was wir hier tun und was nicht leicht ist, aber auch nicht unmöglich».