Der Film Comuna im Aufbau
Alle Macht den Räten
Die Berichterstattung über Venezuela konzentriert sich auf Chávez; welche Prozesse im Land stattfinden, gerät dabei völlig in den Hintergrund“, stellt Dario Azzellini im Interview mit Radio Onda fest. Der Autor und Filmemacher widmet seine Aufmerksamkeit jenen Kräften und Prozessen in der Bolivarianischen Republik, die eine neue Gesellschaft erproben. Sein neuester Film (zusammen mit Oliver Ressler) handelt von Selbstverwaltung und Selbstorganisierung auf lokaler Ebene. Parallel zu den offiziellen Institutionen entsteht seit etwa drei Jahren ein Rätesystem in Venezuela. Die ersten consejos comunales – Kommunale Räte – gab es bereits 2005, als Initiative von unten. 2006 griff die Chávez-Regierung den Ansatz auf und die Nationalversammlung verabschiedete ein entsprechendes Gesetz. Im ganzen Land gibt es zurzeit etwa 30 000 Kommunale Räte, die zwar ihre SprecherInnen wählen, wo aber die Entscheidungen in Nachbarschaftsversammlungen gefällt werden. Schließen sich mehrere consejos comunales zusammen, entsteht die nächst höhere Ebene der Selbstverwaltung, die comuna (Kommune). Davon gibt es landesweit etwa 200 im Aufbau. Die höchste Ebene bildet die Kommunale Stadt, von der es in ganz Venezuela aktuell zwei gibt.
Zu Beginn des Films wird der Kommunale Rat Emiliano Hernández im Stadtteil Catia in Caracas vorgestellt. Die Sprecherinnen des Gesundheits-, des Bildungs- und des Mütterkomitees berichten über ihre Aktivitäten. Das Mütterkomitee plant einen workshop zu sozioproduktiven Projekten: „Ich habe mir sämtliche Unterlagen aus dem Internet runtergeladen und überlegt, den workshop selber abzuhalten“, kündigt die Sprecherin an. Viele Frauen sind hier aktiv und gehen pragmatisch die konkreten Bedürfnisse des Stadtteils an: Wasser- und Stromversorgung, Abwassersystem, Sicherheit, Bauvorhaben, Müllabfuhr etc. Über die Route der Müllabfuhr entbrennt auf einem Treffen, wo mehrere Kommunale Räte vertreten sind, eine lebhafte Diskussion: Ein junger Mitarbeiter der städtischen Wohnungsbaubehörde Fundacaracas stellt neue Routen vor. „Nein, in der Straße sind doch immer Autos geparkt“, wird der Outsider zurechtgewiesen. Die Einheimischen machen Alternativvorschläge, die schließlich von allen, auch vom Fundacaracas-Vertreter, angenommen werden.
Eine Vertreterin aus Catia fährt im zweiten Teil des Films aufs Land, nach Barinas im Südwesten Venezuelas. Hier entsteht eine der beiden kommunalen Städte des Landes: Antonio José de Sucre, bestehend aus elf comunas und 55 consejos comunales. Hier sind die Vorhaben nicht mehr nur kleinteilig und konkret, nein, hier wird viel vom Sozialismus geredet. Die Ziele sind höher gesteckt, aber auch die Probleme bei der Selbstverwaltung zeigen sich stärker: In einigen Räten beteiligen sich zu wenige Leute an den Versammlungen. „Wir investieren sehr wenig Zeit in den kollektiven Kampf“, stellt José María Requena auf einer Versammlung fest. „Von den 365 Tagen im Jahr sollten 20 in den sozialen Kampf investiert werden.“ Nach dieser Gardinenpredigt werden Projektvorschläge gesammelt, die der Ministerin für Kommunen, Érika Farías, unterbreitet werden sollen. Eine Universität wird vorgeschlagen, eine Poliklinik oder ein Schulungszentrum. Spontanen Applaus erhält der Mann, der fordert, endlich anständige Wohnungen zu haben, „ohne Insektenplagen“. Auch wenn sich an der Stelle der Eindruck aufdrängt, es handele sich hier um eine ausgefeiltere Form von Bürgerhaushalt, so hat die kommunale Struktur im Aufbau doch einen höheren Anspruch: Es geht um Autonomie.
Autonomie, die vom Staat begleitet und finanziert wird, wie geht das denn? Den spannendsten Einblick bietet das dritte Beispiel: In Maca, im Munizip Petare (Groß-Caracas), bauen 29 Kommunale Räte eine Kommune auf. Hier laufen die Dinge nicht so rund, eingereichte Projekte werden nicht bearbeitet. Die EinwohnerInnen diskutieren aufgebracht mit dem Institutionenvertreter von Fundacomunal: Obwohl ihr Projekt zur Verbesserung der Bausubstanz schon zweimal eingereicht wurde, passiert nichts. „Dank der Inkompetenz der staatlichen Institutionen verlieren wir als consejo an Glaubwürdigkeit. Dabei hat der comandante gesagt: ‚Organisiert euch, arbeitet, denn es gibt Ressourcen'“, empört sich Yusmeli Patiño. Der Fundacomunal-Vertreter antwortet, dass der Staat in der Tat „bürokratisch und parasitär“ sei und redet sich damit heraus, dass alles anders wäre, wenn die Verfassungsreform angenommen worden wäre. Aber er werde der Ministerin persönlich schreiben. Und: „Geht zum Ministerium und macht Ärger, aber keine Pressekonferenz, damit die Konterrevolution dann den ganzen Prozess auseinandernimmt!“.
Mit der Konterrevolution in Verbindung gebracht zu werden ist natürlich eine ungeheuerliche Provokation: „Die Institutionen selbst werden die Revolution zu Fall bringen!“, ereifert sich Actrís Navarro. „Es gibt Leute, die ihren sicheren Monatslohn haben, während wir oft nicht mal die Busfahrt bezahlen können.“
Das Spannungsverhältnis zwischen Staat und organisierter Bevölkerung wird hier sehr schön deutlich. Abgesehen davon muss der/die Betrachtende sich ordentlich konzentrieren, um den komplexen Prozess zu erfassen. Der Film lässt die ProtagonistInnen des Rätesystems à la venezolana ausgiebig zu Wort kommen; etwas verwirrend sind die Vielzahl der verschiedenen Versammlungen, die nicht erläutert werden, sei es nun eine „Kabinettsversammlung“ der Räte oder eine „Promotoren-Kommission“ der Kommunalen Stadt. Da auf Erklärungen verzichtet wird, muss nach dem Film noch mal selber nachgeguckt bzw. der Filmemacher auf Veranstaltungen mit Fragen gelöchert werden …
Dario Azzellini & Oliver Ressler, Comuna im Aufbau, 94 min., 2010, Span. mit engl. und deutschen Untertiteln; Information: www.azzellini.net, www.ressler.at
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