Interview mit dem mexikanischen Schrifsteller Paco Ignacio Taibo II

„Ich bin hier in dreihundert Kriege und vierhundert Schlachten verwickelt“

Paco Ignacio Taibo II wurde 1949 in Gijon, Spanien, geboren und lebt seit 1958 in Mexiko-Stadt. Er ist Journalist, Universitätsdozent, Historiker und Schriftsteller. Bekannt sind vor allem seine Kriminalromane über den Antihelden Belascoarán, der intrigenreiche Politkrimi Vier Hände, die vor wenigen Jahren veröffentlichte Biografie Che Guevaras und das Buch über die Zeit des Che im Kongo. Mit ihm sprach in Mexiko-Stadt Dario Azzellini.

Anfang Dezember vergangenen Jahres übernahm Vicente Fox als erster Kandidat der Opposition nach mehr als 70 Jahren die Präsidentschaft in Mexiko. Bei den Wahlen am 2. Juli 2000 war das Unglaubliche geschehen, „die perfekte Diktatur“ der laizistischen Staatspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) hatte ihr Ende gefunden. Der neue Präsident, ehemaliger Coca-Cola-Manager, kandidierte für die erzkonservative Partei der Nationalen Aktion PAN, deren Bürgermeister auch gerne Miniröcke verbieten und Gefängnisstrafen auf zu liebevolle Küsse in der Öffentlichkeit verhängen möchten. Welche Bedeutung hat der Wahlsieg des bekennenden Katholiken Fox für den Kultursektor Mexikos?

Zunächst muss gesagt werden, dass es sich hier um einen sehr besonderen Übergang handelt: Jene die ihn verursacht haben, haben nicht gewonnen. Dieser Übergang hatte seine Grundlage in 20 Jahren sozialen Kämpfen und einem vom Cuauhtémoc Cárdenas angeführten Wahlbündnis. Das hat den Spielraum und die Durchsetzungsfähigkeit der PRI langsam untergraben und zerstört. Aber plötzlich taucht ein konservatives Mitte-Rechts-Projekt auf, das alle programmatischen Fahnen der Linken an sich reißt und sich als machbar darstellt.

Wie kommt das?

Die Bevölkerung folgt der Logik der „nützlichen Stimme“ und schenkt Fox den Sieg, das heißt sie folgt der Losung mehrerer linker und liberaler Intellektueller, Fox zu wählen, um die PRI zu schlagen und die eigene Stimme nicht „nutzlos“ der linken PRD zukommen zu lassen. Mit dem Wahlsieg von Fox beginnt der Zerfall der PRI, der weder unumkehrbar noch endgültig ist. Hier heißt es, wachsam zu sein. DiePRI kann sich ausgehend von den Gouverneuren der Bundesstaaten, die sie stellt, wieder konsolidieren. Aber das ist ein anderes Thema.

Wie konnte Fox soviel Zuspruch finden?

Die Grundlage seiner Regierung ist ein Berg von Versprechen. Sie hat alles versprochen, sie hat die Programme der Linken, der PRI und aller anderen ausgeschlachtet. Doch es ist eine Regierung mit sehr wenig Kadern und sie befindet sich im Widerspruch zwischen ihrem Willen, einen extremen Neoliberalismus durchzusetzen und den Versprechungen, die sie gemacht hat, um einen gesellschaftlichen Konsens zu erzielen. Sie versprach unter anderem die Korruption zu bekämpfen, das Land zu redemokratisieren, politische Freiheiten zu gewährleisten, Frieden in Chiapas zu erreichen und keine Privatisierungen vorzunehmen. Diese Versprechungen stehen natürlich im Widerspruch zu den Grundlagen des neoliberalen Projekts, das sie eigentlich verfolgen.

Was bedeutet dieser Wahlsieg für den Kulturbereich?


Die Leute von Fox sind geprägt von Analphabetismus, mangelnder Initiative und wenig Vorstellungskraft. Sie entstammen einem Sektor der Wirtschaftsoligarchie, der niemals irgend etwas im Kulturbereich getan hat. Er folgt der neoliberalen Logik, welche den Staat schlanker, seinen Einfluss auf die Kultur senken und sie wirtschaftlich rentabel machen will. Das, was noch übrig ist, wird weiter eingeschränkt, denn die neoliberale Logik hatte ja schon in den letzten Jahren der PRI-Regierung wichtige Infrastruktur zerstört.

Können Sie ein Beispiel für die Kommerzialisierung der Kultur und den daraus entstehenden Folgen nennen?

Wenn es nach dem Willen der Finanz- und Wirtschaftsminister ginge, dann würden sie die Pyramiden von Teotihuacan in ein Disneyland verwandeln. Sie wollen „anthropologische Parks“ schaffen, die an das Hotelgewerbe gekoppelt sind. Das erzeugt einen schwerwiegenden nationalen Widerspruch, denn die Ausgrabungsstätten sind eine Art laizistische Pilgerstätte. Der gewöhnliche Mexikaner besucht das Museum von Chapultepec oder die Pyramiden vonTeotihuacan, er folgt der Logik einer Begegnung mit herausstechenden Symbolen der Vergangenheit. Wenn privatisiert wird, Barrieren und Mauern gebaut werden und Eintritt verlangt wird, verursacht das Erregung, da es sich gegen eine in der Bevölkerung weit verbreitete Tradition richtet. In dieser Hinsicht müssen sie also sehr vorsichtig sein.

Außer diesem neoliberalen Kulturverständnis findet sich aber auch noch eine starke reaktionäre Strömung in der PAN...

Ja, der Foxismus hat im ganzen Land hunderte von konservativen und ultrakonservativen Vorstellungen wiederbelebt, die aus der PRIistischen Gedankenwelt ausgeschlossen waren. Sie sehen die Regierung als ihr politisches Projekt und ihre Vorstellungen sind mit dem Konservativismus, dem Traditionalismus und den reaktionären Teilen der katholischen Kirche verbunden. Diese Sektoren haben sich im vergangenen Jahr als sehr kämpferisch bezüglich kultureller Themen gezeigt: Fotoausstellungen wurden zensiert, ein Gemälde wurde zerstört, weil es angeblich obszön war, Filme wurden verboten, in einer Schule wurden Jugendliche rausgeschmissen, weil sie sich ihre Haare blau gefärbt hatten.

Warum gehören diese Leute dennoch nicht zum Kulturapparat der Fox-Regierung?

Bei der Ernennung neuer Mitarbeiter des Kulturapparates hat Fox das Problem, dass er nicht über konservative Kader verfügt, er greift also auf die Reste der alten PRI-Kulturbürokraten aus den Strömungen von Salinas, der 1988 bis 1994 Präsident war, und dem PRI-Präsidentschaftskandidaten von 2000, Labastida, zurück und bildet mit ihnen sein Team. Einige von ihnen sind wirklich absolutes Mittelmaß, wie etwa die Leiterin des Rates für Kultur und Künste, der höchste Ausdruck des staatlichen Kulturapparates. Sie war vorher Interviewerin in einer Fernsehsendung und hat nicht viel Ahnung von Kultur.

Wird Fox nicht versuchen die Künstlergemeinde ruhig zu stellen?

Wenn es die PRI nicht geschafft hat, diese Künstlergemeinde zu domestizieren und es immer eine kritische Szene geblieben ist, trotz der Gelder, der Subventionen und Geschäfte, die die PRI ausschüttete, so wird dies jetzt noch viel weniger gelingen. In dieser Hinsicht ist Mexiko-Stadt ein wunderbares Schlachtfeld, hier sind Kino, Theater und Ballett und 25.000 - 30.000 Kulturschaffende konzentriert. Viele von ihnen haben jahrelang gekämpft, sie werden ihren Raum nicht aufgeben, und sie sind sich bewusst, dass ihr Raum der einer wechselseitigen Beziehung mit den Konsumenten von Kultur, mit dem Publikum und den Intellektuellen ist. Es wird eine vielseitige Debatte zur Kulturpolitik geben: Beispielsweise wenn an einem Tag konservative Gestalten aus dem Unabhängigkeitskrieg in die Schulbücher eingeführt werden sollen, wenn am nächsten Tag Theater oder ein Jugendclub geschlossen werden sollen, wenn im Bundesstaat Mexiko Rockkonzerte verboten werden, während sie in der Hauptstadt stattfinden, oder wenn zum Beispiel eine Ausstellung in Puebla zensiert wird.

Das Vorgehen scheint mir aber nicht immer so einheitlich zu sein: im Bundesstaat Mexiko, in den Vorstädten von Mexiko-Stadt, organisiert die Jugendorganisation der PAN jedes Wochenende Punk und Hardrock-Konzerte auf Fußballplätzen...

Ja, der Foxismus ist keine homogene Angelegenheit, er ist ein Konglomerat aus Elementen, die an die Oberfläche gekommen sind, als die Scheiße umgerührt wurde, da gibt es alles mögliche. Ich war gerade in Baja California, im Norden Mexikos, ich bin dorthin geflogen und habe eine Debatte organisiert. Auf meiner anschließenden Pressekonferenz habe ich den dortigen Kulturminister als Faschisten bezeichnet. Der Typ hatte ein Regelwerk für die Mittelschulen verabschiedet, in dem den Jugendlichen verboten wurde, sich die Haare zu färben, kurze Röcke oder hohe Absätze zu benutzen, die Augenbrauen in Form zu zupfen und einiges mehr. Sie hatten schon drei Jugendliche von einer Schule geschmissen. Ich bin also hin und habe gesagt, dass das gegen die Verfassungsrechte verstößt und was sie denn mit mir machen würden, wenn ich mir die Haare grün färbte.

Wie reagierten die Verantwortlichen?

Es entstand eine breite Debatte unter der Beteiligung von Lehrern und Intellektuellen. Der Kulturminister des Bundesstaates reagierte auf Seite eins der Zeitungen und beschwichtigte, es sei ja nicht so schlimm und wir sollten uns mäßigen und ich habe noch härter reagiert. Der Typ hatte nicht die mindeste Sensibilität, um zu verstehen, dass Identitätssymbole für Heranwachsende grundlegend sind, wenn du die Elemente der Rebellion ausradierst, dann bildest du unterwürfige Jugendliche.

Fox konnte einige namhafte Intellektuelle, teilweise ehemalige Linke, in sein Projekt integrieren, wie etwa Carlos Fuentes oder Aguilar Zinser...

Fuentes nicht, es gab eine Annäherung, aber er wurde nicht integriert. Aber es lief so mit Aguilar Zinser und Castañeda, die Linke waren, als sie jung waren. Ihre Entscheidung, sich auf diese Seite zu stellen, verwandelt sie in Intellektuelle der neuen Rechten. Sie haben versucht, eine Brücke zu bauen und viele Leute anzuziehen, sie sind die Erfinder der berühmten „nützlichen Stimme“. Ihre Rolle ist es, diese Brücke zu bauen, aber sie sind gescheitert, sie hatten so viel Erfolg wie ein paar Frösche.

Unter der PRD-Regierung in Mexiko-Stadt, mit Cuauhtémoc Cárdenas und dann Rosario Robles als Bürgermeister, wurde sehr viel im Kulturbereich getan. Hat das etwas im Bewußtsein verändert?

Ich glaube, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung das Konzept der Linken, dass es sich bei der Kultur nicht um ein sekundäres Gut, sondern um ein grundlegendes Recht handelt, zu eigen gemacht hat, und wenn du die Grundrechte aufzählst, dann gehören Arbeit, Gesundheit, Wohnung, Erziehung und Kultur in die Liste. Wenn du jemandem, der eine schlechte Arbeit hat, sich schlecht ernährt und einen erschwerten Zugang zu Bildung und Ge­sund­heitsversorgung hat, auch noch den Club wegnimmst, wo er kostenlos Gitarre spielen lernen kann, dann bringst du ihn um. Ich glaube, die Vorstellung, dass Kultur ein Recht ist, hat sich schon durchgesetzt.

Was bedeuten die bisherigen drei Jahre PRD-Regierung in der Hauptstadt in kultureller Hinsicht? Vorher waren ja zum Beispiel sogar Rockkonzerte an öffentlichen Plätzen verboten. Heute werden sie gefördert.

In Mexiko-Stadt gibt es eine große Anzahl kostenloser und qualitativ hochwertiger kultureller Aktivitäten. Der große Unterschied insgesamt ist, dass es keinerlei Zensur mehr gegeben hat. Es hat interessante Experimente gegeben, vor allem bezüglich der Verbreitung von Kultur auf der Straße. Die größte Schwachstelle lag hingegen im Wiederaufbau der Basiskultur, da ist kein Projekt gelungen. Aber es hat in den vergangenen Jahren wirklich sehr positive Sachen gegeben: der Zócalo, der Hauptplatz der Stadt, war ein ständiges Fest, es verging nicht ein Tag, ohne dass dort etwas los war. Es ist eine Wonne, Einwohner des DF, der Hauptstadt zu sein, einer vitalen Stadt, voller Aktivitäten, du musst nicht dafür bezahlen zu leben.

Sie haben ja auch einige kulturelle Aktivitäten der PRD-Stadtverwaltung unterstützt ...

Ich bin hier in dreihundert Kriege und vierhundert Schlachten verwickelt, die damit zu tun haben. Ich leiste Unterstützung ohne Gehalt, ohne Chauffeur, ohne Geld, ich behalte meine ökonomische Unabhängigkeit gegenüber der Stadtregierung. So habe ich das Projekt „Um in Freiheit zu lesen“ geleitet und bei einigen anderen mitgeholfen. Wir haben in den Randbezirken von Mexiko-Stadt 300.000 Romane unter Jugendlichen verteilt. Das hatte einen spektakulären Erfolg, es haben sich Schlangen von 15.000 Leuten gebildet. Es waren alles nicht-traditionelle Romane von Schriftstellern wie Ray Bradburry, Raymond Chandler, Emilio Pacheco – Bücher, die nicht in der Schule empfohlen werden – die reine Subversion, wie etwa John Reed, und das mit einem bemerkenswerten Erfolg.

Arbeiten Sie an einem neuen Roman?

In den letzten Monaten seit meiner Rückkehr von der „Semana Negra“, einem Kulturfestival, das ich immer in Gijon, Spanien, organisiere, arbeite ich an einem Roman der schon relativ weit gediehen ist und den Titel Wir kehren zurück wie Schatten tragen wird.

Worum geht es in dem Roman?

Es ist ein politischer Abenteuer-, Kriminal- und Spionageroman. Ich bin der Versuchung erlegen, ganz nach meinem Geschmack einmal einen totalen Abenteuerroman zu schreiben.

Können Sie etwas zu der Geschichte sagen?

Mexikanischer Kaffee, Hitler der sich morgens Koffein spritzt, die Personen aus Schatten im Schatten, die zwanzig Jahre später zurückkehren, Irrenhäuser, der betrunkene Hemingway, der plötzlich im Golf von Mexiko auftaucht, Nazis im mexikanischen Kaffeeanbaugebiet, korrupte Innenminister, die sich auf ein großes Geschäft vorbereiten, Graham Greene als deutscher Spion. All das und noch viel mehr in einem Roman... Ich werde den Roman Ende des Jahres in Europa veröffentlichen.