Interview mit Dario Azzelini

Genossenschaften – Arbeiterkontrolle oder Businessmodell?

Über transformative Kräfte der Selbstverwaltung und der Integrationskraft des Kapitalismus. Dritter Teil der siebenteiligen Serie über selbstverwaltete Betriebe in Europa. 

Dario Azzelini ist Journalist, Buchautor, Politikwissenschaftler, Soziologe und vieles mehr. Er beschäftigt sich seit etlichen Jahren mit dem Thema Selbstverwaltung und hat dabei einen besonderen Schwerpunkt auf Arbeiterkontrolle. Im Interview, das Christian Kaserer für sein neues Buch „coop – Selbstverwaltete Betriebe und ihre Auswirkungen auf Arbeit und Gesellschaft“ mit ihm geführt hat, spricht Azzelini über den gesellschaftlichen Kampf zur Übernahme von Betrieben.

Es gibt so viele Dinge, mit denen man sich auseinandersetzen kann. Auch die Selbstverwaltung hat unglaublich viele verschiedene Aspekte. Wieso gerade Arbeiterselbstverwaltung?

Ich bin seit etwa 40 Jahren politisch aktiv und habe alle möglichen Phasen durchgemacht. Ich war auch über lange Zeit Journalist und hab immer viel zu Lateinamerika und politischen Bewegungen gearbeitet. Auch zur Privatisierung des Militärs, Söldner, Paramilitärs und so weiter. Und damit man nicht paranoid wird, sollte man dringend ein Gegengewicht schaffen und so stellte ich mir die Frage, wie soll eine andere Welt eigentlich aussehen? Was sind Alternativmodelle für eine Selbstbestimmung sowohl auf lokaler und kommunaler Ebene, als auch bezüglich der Arbeit? Dabei bin ich eben auch auf diese verschiedenen Formen der Selbstverwaltung gestoßen, wobei mich besonders die Arbeiterkontrolle, die Übernahme der Betriebe durch Arbeiter in den verschiedenen Phasen der Geschichte interessiert hat, weil ich denke, dass darin das größte transformative Potenzial steckt. Genossenschaften sind ja entstanden aus der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung heraus als Alternative und heute werden sie an vielen Unis, vor allem englischsprachigen Unis, nicht als gesellschaftliche, sondern als Businessalternative gelehrt. Sozusagen ein anderes, alternatives Businessmodell. Das finde ich nicht nur verstörend, sondern grundlegend falsch und ich versuche in meinem Schwerpunktbereich das historisch und aktuell aufzuarbeiten und zu sehen, was gibt es alles und wie kann man das wieder zugängig machen.

Wie unterscheidest Du diese beiden Modelle?

Wenn ich von Arbeiterkontrolle spreche, dann meine ich nicht das herkömmliche Genossenschaftsmodell, sondern aus einem Kampf – einem gesellschaftlichen Kampf – heraus die Übernahme von Betrieben.

Wie bei VIO.ME?

Beispielsweise, es muss aber nicht aus einer Besetzung heraus sein. Da gibt es zum Beispiel eine Brauerei auf Sizilien, wo die Arbeiter nach der Schließung der Brauerei durch einen großen Konzern sich zusammentaten und durch ein Crowdfunding diesen Betrieb übernehmen konnten. Das wichtige Moment ist sozusagen, dass in irgendeiner Form dieser Kampf entsteht. Das alternative Businessmodell hat natürlich kein transformatorisches Potenzial. Ob ich einen oder 50 Eigentümer habe, das macht keinen Unterschied. Die Praxis bleibt dieselbe. In dem Moment in dem so eine Situation entsteht wie, dass der Betrieb übernommen werden muss, fallen alle bisher gekannten Hierarchien weg. In dem Moment, in dem der Kampf geführt wird, sind die alten Arbeitshierarchien nämlich nicht mehr da und die ehemals Beschäftigen sind nicht dazu geneigt, diese Hierarchien wieder einzuführen. Das ist bei Genossenschaften nicht unbedingt automatisch so. Durch dieses Verlieren der Ursprünge und der Geschichte und die Entwicklung hin zu einem Businessmodell, entstehen alle möglichen Abarten, die man leider weltweit überall beobachten kann. In Italien gibt es Abschiebeknäste, die genossenschaftlich geführt werden. Oder etwa wirklich verrückte Dinge in der Logistik. Italien ist ja eins der Hauptländer für zivile Logistik. Moderne Produktion funktioniert ja in Form von Achsen. Eine wesentliche Achse ist Valencia-Rumänien, die andere ist von Rotterdam nach Süden. Beide kreuzen sich genau in Nord-Mittel-Italien. Der Großteil der Logistiklager sind dort. Die meisten davon sind von Genossenschaften gemacht. Das ist ja ein altes historischen Genossenschaftsgebiet. Gleichzeit toben in den Genossenschaften seit Jahren Arbeitskämpfe. 90 Prozent der Leute dort haben migrantischen Hintergrund und müssen teils bis zu 4.000 Euro zahlen, um Genossenschaftsmitglieder zu werden. Die Genossenschaft muss dann aber aufgrund rechtlicher Bestimmungen keine Tarifverträge beachten. Die Leute sind also unterbezahlt und in der Genossenschaft haben sie durch bestimmte rechtliche Konstruktionen überhaupt kein Mitspracherecht. Deshalb toben da, obwohl es Genossenschaften sind, seit Jahren – wie gesagt – Arbeitskämpfe.

Verkommt die Genossenschaftsidee immer mehr zu einem ganz gewöhnlichen Businessmodell?

Ja, zu einem ganz gewöhnlichen Businessmodell, also ein Negativbeispiel für Genossenschaften. Menschen sind zu oft unterbezahlt und manche Genossenschaften haben nichts, aber auch gar nichts mit Gemeinwohl und Transformation zu tun. Das hat seinen Grund natürlich auch einfach darin, wie der Kapitalismus funktioniert. Umgehen kannst du das nur, indem du ganze Liefer- und Produktionsketten mit Genossenschaften abdeckst und so diesem Druck nicht entkommst, aber ihm stärker widerstehen kannst. Wenn ich in meiner Umgebung nur Genossenschaften habe, die alle dieselben Werte teilen, dann bekomme ich nicht so schnell ein Problem, wenn ich die Rechnung etwa eine Woche später bezahle. Die hetzen mir nicht sofort Anwälte hinterher.

Würdest du sagen, du bist im Hinblick auf die Zukunft optimistisch?

Ja, ich denke ich bin immer optimistisch. Sozialismus oder Barbarei. Was bleibt einem über als optimistisch zu sein? Entweder wir schaffen es oder es gibt uns gar nicht mehr. Mir fällt bei meiner Forschung auf, dass es ein wiedererwachendes Interesse gibt.

An der Arbeiterkontrolle oder am Businessmodell?

Ich denke an beidem. Am Businessmodell steigt das Interesse sicher, weil es im Kapitalismus und vor allem im Neoliberalismus nun ja normal ist, in Krisenzeiten möglichst viel Verantwortung auf die Beschäftigten abzuwälzen. Wie etwa bei Volkswagen, wo man den Arbeitern auch mal Aktien gibt, weil bei denen dann ein Teil ihres Zusatzeinkommens davon abhängig ist und somit Streiks beispielsweise gegen ihre eigenen Interessen gehen. Und natürlich gibt es auch Beispiele, wo den Arbeitern nur ein Teil der Genossenschaft gehört und der Großteil einem Investor, der dann das sagen hat, während die Arbeiter sich aber mit der Genossenschaft identifizieren und sich all diese positiven Effekte, die das auf die Arbeitskultur hat, aber doch teilweise entwickeln. Ein ganz widerliches Modell. Aber ich beobachte eben auch, dass das Interesse an der Arbeiterkontrolle zunimmt. Das entsteht sicher auch aus den immer häufiger werdenden Krisen heraus und so steigt das Interesse daran immer mehr, weil die Menschen ein höheres Problembewusstsein entwickeln.

 

Buchtipp: Dario Azzellini: Vom Protest zum sozialen Prozess

Betriebsbesetzungen und Arbeiten in Selbstverwaltung

VSA Verlag

152 Seiten | 2018 | EUR 12.80

ISBN 978-3-89965-826-2

Titelbild: Dario Azzellini (Copyright: John Noltner)


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