Zum Jahrestag des Putsches in Argentinien
„Kein Vergeben, kein Vergessen, keine Versöhnung“
Es ist Gründonnerstag, die Osterfeiertage haben begonnen. Am Morgen ist Buenos Aires wie leergefegt. Wo sich sonst Blechlawinen durch die Straßen quälen, fahren nur vereinzelte Taxis verloren über die vier- bis sechsspurigen Avenidas. Doch es ist kein gewöhnlicher Gründonnerstag. Vor 29 Jahren, am 24. März 1976 wurde in Argentinien die verfassungsmäßige Regierung von Isabel Perón durch einen Putsch gestürzt. Angeführt von General Jorge Rafael Videla verschaffte sich das Militär die uneingeschränkte Staatsmacht. Es begann eine Zeit der brutalen Repression.
Nach Zählungen von Menschenrechtsorganisationen wurden 30.000 Menschen ermordet oder verschwanden – um nie oder lediglich als Leichen wieder aufzutauchen. Viele von ihnen wurden, betäubt und mit Gewichten beschwert, aus Hubschraubern und Flugzeugen über dem Rio De La Plata oder dem Atlantik abgeworfen. Betroffen waren Angehörige linker Parteien, GewerkschafterInnen, linke Intellektuelle und Studierende, engagierte ChristInnen und Gueriller@s. Sie wurden gefoltert und ermordet. Die Militärs verschenkten die Neugeborenen ihrer Opfer an kinderlose Militärfamilien, um diesen so einen Kinderwunsch zu erfüllen. 1981 löste Roberto Viola Videla im Amt ab. Die Diktatur endete erst 1983.
Gründonnerstag, Buenos Aires 2005: Am frühen Nachmittag füllen sich plötzlich die Straßen. An die Hunderttausend, vielleicht mehr, sollten es heute sein, eine der größten Demonstrationen, welche die Stadt je gesehen hat. Eine Gruppe Transvestiten läuft hinter einem Transparent und Regenbogenfahnen. Gewerkschaften (auch jene der Sexarbeiterinnen), Anarchisten, mindestens ein Dutzend verschiedener kommunistischer und sozialistischer Parteien mit jeder erdenklichen ideologischen Ausrichtung, Arbeitslosengruppen und vor allem ein Meer aus Piquetero (Arbeitslosen)- und Stadtteilorganisationen füllen die breiten Straßen. Meist dunklerer Hautfarbe und in abgetragene Kleidung gehüllt, kommen sie aus den Vororten der Metropole am Rio De La Plata - die Arbeitslosen und Müllsammler, die fliegenden Händler und Handlanger, Tagelöhner und Hungerleider Argentiniens. Sie haben ihren eigenen Sicherheitsdienst: Reihen vermummter Jugendlicher, vereinzelt auch Frauen, mit Eisenstangen und Holzknüppeln bewaffnet. Nur zu gut erinnern sie sich an die vielen Toten, die das brutale Vorgehen der Polizei inmitten der politischen Krise in Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs Ende 2001 forderte. Auch deren Bilder werden hoch gehalten, ebenso wie jene der Opfer der Diktatur. In den Blöcken der Gewerkschaften und Arbeitslosengruppen sind auffällig viele MigrantInnen aus Bolivien und Peru zu sehen, häufig Opfer rassistischer Behandlung durch die mehrheitlich europäischstämmigen weißen ArgentinierInnen. Sie stellen das unterste Segment im Lohnarbeitssektor: unterbezahlt, ausgebeutet und weitgehend rechtlos.
Auf der Demonstration wird auch die Freilassung der politischen Gefangenen gefordert, von denen die meisten in Folge von Aktionen gegen Hunger, Elend und Arbeitslosigkeit im Gefängnis sitzen. Und auch an die Toten aus dem „Cromagnon“ vom 30.12. vergangenen Jahres wird erinnert. 193 Jugendliche verbrannten oder erstickten qualvoll in der anlässlich eines Rockkonzerts völlig überfüllten Unterklassendisco. Sie wurden Opfer kaum existenter Sicherheitsvorkehrungen eines Lokals, das eigentlich schon lange hätte geschlossen werden müssen, sich jedoch - nicht zuletzt dank Behördenkorruption - in ein Massengrab verwandelte.
Zu einer der insgesamt drei Demonstrationen, die am Gründonnerstag in Buenos Aires zusammenlaufen, hatten die Madres de la Plaza de Mayo und 30 weitere Organisationen auf. Sie gehören zu den gesellschaftlichen Strömungen, die zwar einen sehr radikalen Diskurs pflegen, jedoch Präsident Kirchner unterstützen, da sie ihm sein Vorgehen gegen die Militärs und seine in Teilen kontinentale Orientierung zu Gute halten. Eine zweite, weitaus größere Demonstration vereinte über 150 Organisationen und Parteien der Linken, die Kirchner ablehnen und ihm vorwerfen, die neoliberale Linie seiner Vorgänger fortzusetzen. Eine dritte Demonstration wurde von den Madres de la Plaza de Mayo – „Gründungslinie und weiteren Gruppen einberufen - die weltweit bekannte Organisation der Mütter von Verschwundenen hat sich aufgrund von Richtungsstreitigkeiten bereits vor Jahren gespalten: Entstanden war die Gruppe als sich einige Mütter von Verschwundenen zusammenschlossen und begannen, regelmäßig vor dem Regierungspalast zu demonstrieren, um Aufklärung über den Verbleib ihrer Kinder zu fordern. Immer wieder von Repression betroffen und von Polizisten bedroht und geschlagen, machten sie dennoch weiter. Die „Mütter der Plaza de Mayo“, benannt nach dem Platz vor dem Regierungspalast, wurden so erst zum Symbol des Kampfes gegen die Diktatur und danach zum Symbol gegen das Vergessen. Seit mittlerweile 29 Jahren treffen sich die mutigen Mütter jeden Donnerstag Nachmittag auf dem Platz und demonstrieren. Eine weitere Organisation Namens Abuelas de la Plaza de Mayo (Großmütter der Plaza de Mayo) versucht, die Schicksale der von Militärs geraubten Kinder aufzuklären.
Zwischen 500 und 750 waren es, die in Gefangenschaft geboren und „verschenkt“ wurden, während ihre Eltern von den Militärs ermordet wurden. Viele wissen bis heute nichts von ihrem Schicksal. Andere wiederum versuchen ihre Geschichte zu rekonstruieren. Erst kurz vor Ostern hatte wieder eine junge Frau auf juristischem Wege zumindest ihren wirklichen Namen wieder erhalten. Unterstützt werden sie auch von der Gruppe H.I.J.O.S. (Söhne und Töchter), die sich vor zehn Jahren gründete und vor allem Kinder von Verschwundenen und Ermordeten eint. Auch sie bildeten einen Block auf der Demonstration.
Silvina Atencio gehört zum Beispiel dazu, ihr Vater Raúl Atencio verschwand während der Diktatur. Doch die junge Frau hat wieder Mut gefasst. „Wir haben zum ersten Mal einen Präsidenten der in dieser Frage auf unserer Seite steht“ sagt sie über Nestor Kirchner. Zwei Jahrzehnte lang, so berichtet sie, war es nicht einmal möglich, gegen bekannte Verbrecher juristisch vorzugehen. 1985 wurden zwar fünf Militärs der Junta zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, Videla und ein weiterer zu lebenslanger Haft, doch sie mussten sie nie absitzen. In der Folgezeit gab es keine weitere strafrechtliche Verfolgung der Militärs oder an der Diktatur beteiligten Zivilisten. Zwei 1990 von der "demokratischen" Regierung erlassene Gesetze, „Punto Final" (Endpunkt) und „Obediencia Debida" (Verpflichtender Gehorsam) führten zur Einstellung aller Verfahren und schenkten den Diktatoren und ihren Handlangern die Straflosigkeit. Videla wurde 1998 wegen der illegal zur Adoption frei gegebenen Kinder wieder inhaftiert, aber 1999 erneut frei gelassen. „Heute sind zumindest juristische Verfahren gegen die Militärs wegen ihrer Verbrechen möglich“, so Silvina Atencio. Insgesamt 2.600 Militärs könnten belangt werden. Silvina will auch versuchen, ein Verfahren gegen die Mörder ihres Vaters einzuleiten.
Mit der Machtübernahme des Peronisten Néstor Kirchner im Mai 2003 kam Bewegung in die Frage der Militärs. Auch wenn viele Kirchner vorwerfen, den neoliberalen Kurs mit linker Rhetorik kaschiert, unter der Hand weiter zu führen - gegenüber den Verbrechen der Militärs scheint er konsequenter zu sein. Etwa sechs Monate nach Amtsübernahme hoben die zwei Kammern des argentinischen Parlaments auf sein Betreiben hin die beiden Amnestiegesetze für Angehörige der Diktatur auf. Kirchner schickte die komplette Militärführung in Pension, feuerte die Polizeichefs und annullierte ein Dekret von 2001, das Auslieferungen von Ex- Militärs verbot. Im Juli 2003 erließ ein Richter daraufhin Haftbefehl gegen 46 ehemalige Mitglieder der Militärjunta und ordnete ihre Verhaftung an. Unter ihnen befinden sich auch Videla und Massera.
Emilio Eduardo Massera war Chef der berüchtigten Mechanikschule der Marine (ESMA) in Buenos Aires. Die ESMA diente als Folterzentrum und wichtigstes Gefängnis der Diktatur. An die 4.000 Menschen „verschwanden“ dort. Die Folterstätte wird nun nach und nach in ein „Museum der Erinnerung“ verwandelt. Die letzten beiden in ihr verbliebenen Marineeinrichtungen werden das Gelände im Oktober verlassen. Dies geschieht ebenfalls auf Initiative Kirchners, der die Kaserne im vergangenen Jahr als erster gewählter Präsident seit 1983 besichtigte. Eine Delegation aus 26 Ex-Häftlingen begleitete ihn über das Gelände, ohne jeglichen Empfang oder Begleitung von Militärs, so wie es die ehemaligen Gefangenen gefordert hatten.
Kirchners Politik findet im Parlament allerdings kaum Unterstützung. Sein Versuch, das Parlament zu einer Rücknahme der unter Präsident Carlos Menem 1989 und 1990 beschlossenen Straferlasse rückgängig zu machen, scheiterte: Nur 23 Abgeordnete waren bei der Abstimmung anwesend. Das notwendige Quorum liegt bei 129. Andere wiederum werfen Kirchner vor, auf die symbolische Ebene beschränkt zu bleiben. Er setze sich nicht dafür ein, die Straferlasse tatsächlich aufzuheben, die Prozesse gegen die Mörder aus der Diktatur kämen nicht voran und Kirchner persönlich habe die spanische Regierung unter José María Aznar darauf gedrängt, nicht die Auslieferung diverser argentinischer Militärs wegen Verbrechen an spanischen Staatsbürgern zu fordern. Auch die Deutsche Bundesregierung fordert seit dem 4. März 2004 die Auslieferung des Ex-Diktators Videla und zweier weiterer ehemaliger Militärs wegen mehrfachen Mordes an deutschen Bürgern. 95 nachgewiesene deutsche oder deutschstämmige Opfer geben klagenden Nachkommen und anderen die juristische Möglichkeit, einige Schergen der Diktatur in Deutschland vor Gericht zu stellen.
Von der Diktatur profitierten auch deutsche Unternehmen. Mercedes-Benz ließ in seinem Werk in González Catán mindestens 16 Gewerkschafter von der Militärjunta verhaften und „verschwinden“. Ein Verfahren vor deutschen Gerichten gegen den Mercedes Benz-Manager Juan Tasselkraut wegen Beihilfe zum Mord wurde allerdings mangels Beweisen eingestellt. Im konkreten Fall sei ein Opfer zwar „verschwunden“, allerdings ließe sich nicht sicher von einer Tötung ausgehen. Streiks wurden nach 1976 von der Diktatur unterbunden, so dass Mercedes Benz bereits 1977 in seinem Geschäftsbericht berichten konnte, das Unternehmen habe einen "Stabilisierungsprozess" erlebt, der "positiv" verlaufen sei.
Die DemonstrantInnen in Buenos Aires sind sich daher bewusst, dass es sich bei der Diktatur nicht lediglich um eine besonders dunkle Epoche der argentinischen Geschichte handelt, sondern um die gewaltsame Durchsetzung eines Wirtschaftsmodells, das letztlich auch die Verantwortung für die heutige Krise und Armut trägt. Daher lautet auch einer der Aufrufe der Demonstration an die Regierung, die enormen Außenschulden Argentiniens nicht zu zahlen. Vor allem aber haben an diesem Gründonnerstag 29 Jahre nach dem Putsch mehr ArgentinierInnen als jemals zuvor auf den Straßen „Kein Vergeben, kein Vergessen, keine Versöhnung“ gefordert.