Die EPR-Abspaltung ERPI aus dem mexikanischen Bundesstaat Guerrero erklärt erstmals öffentlich ihre eigene Linie
„Vorbereitung auf den Volksaufstand“
Als die Armee am vergangenen 7. Juni das Dorf El Charco im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero umstellte, beschoß und schließlich elf Personen mit einem Kopfschuß auf dem örtlichen Basketballfeld exekutierte, waren die Meldungen widersprüchlich. Die Armee behauptete, auf eine Einheit der Revolutionären Volksarmee gestossen zu sein, kurze Zeit später war von der ERPI (Revolutionäre Armee des Aufständischen Volkes) die Rede. In den Tagen nach dem Massaker führte die ERPI im Bundesstaat Guerrero mindestens zwei Angriffe auf Militär- und Polizeipatrouillen durch, bei denen nach offiziellen Angaben fünf Sicherheitskräfte ums Leben kamen. Doch außer den Angaben der Militärs existierten keine Informationen darüber, ob die ERPI eine Abspaltung der EPR, eine mit ihr kooperierende Guerilla oder gar eine ganz neue Gruppe ist und welche Positionen sie vertritt.
In der ersten Augustwoche erklärten zwei Comandantes der ERPI in einem mehrere Stunden dauernden Pressegespräch in einer geheimen Wohnung im bekannten Urlaubsort Acapulco (Guerrero), die Ursprünge, Positionen und Ziele ihrer Organisation. Die ERPI repräsentiere die gesamte ehemalige Struktur der EPR im Bundesstaate Guerrero (laut Informationen des militärischen Geheimdienstes etwa 60 Prozent der Gesamtstrukturen der EPR), so die Aufständischen Comandantes Antonio und Santiago. ‑Während der letzten zwei Jahre unterscheiden sich die Standpunkte der Einheiten in Guerrero immer mehr von denen des Zentralkomitees. „Die Ereignisse zwingen uns dazu, uns schon als eigenständige Kraft zu definieren, mit einer eigenen militärischen Kraft und eigenem politischen Programm und Zielen.“ Die ERPI-Comandantes nennen drei wesentliche Unterschiede zur EPR.
„Sozialismus mit menschlichem Antlitz“
Im Gegensatz zu der den Wahlen wenig Bedeutung beimessenden EPR sieht die abgespaltene Struktur eine Radikalisierung der Bevölkerung während des Wahlprozesses und ein neuentstehendes politisches Bewußtsein durch den Cardenismus (eine nicht nur auf den PRD-Kandidaten bezogene breite politische Strömung). „Wir sahen die Möglichkeit des Wachstums für unsere Organisation und verstanden, daß die Wahlbewegung ein Ausdruck des Kampfes der Bevölkerung ist, und unsere Rolle nicht nur die eines kritischen Beobachters sein kann, sondern wir daran teilnehmen müssen“, so Comandante Antonio. Des weiteren wolle die ERPI die „bewaffnete Selbstverteidigung auf Wunsch der Gemeinden entwickeln, als Antwort auf die Angriffe, die durch Armee, Polizei, Kaziken und ihre Pistoleros erfolgen“. Die Aktionen der EPR hätten hingegen nicht auf den Notwendigkeiten der Dorfgemeinschaften basiert, sondern auf „landesweiten konjunkturellen Ereignissen“. Die ERPI definiere sich als „Armee des Volkes und nicht irgendeiner Partei, wir tun nur das, was die örtliche Bevölkerung mehrheitlich von uns verlangt“, so die Comandantes.
Das Ziel sei ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, basierend auf der Idee der „Volksmacht“ (Poder Popular). Der dritte wesentliche Unterschied sei strategischen Charakters. Während die EPR ausschließlich die Linie des „verlängerten Volkskrieges“ verfolge, wolle sich die ERPI auf einen möglichen Volksaufstand nach den Wahlen im Jahr 2000 vorbereiten. Damit nimmt die Organisation Bezug auf die Wahlen im Jahr 1988, bei denen ein Wahlbetrug der PRI, der dem damals unabhängigen Präsidentschaftskandidaten Cuauhtémoc Cárdenas wahrscheinlich den Sieg kostete, zu Aufständen und bewaffneten Zwischenfällen in verschiedenen Bundesstaaten führte, weil Bauern zeitweise zu den Waffen griffen, um die Wahlergebnisse in ihren Gemeinden zu verteidigen.
Bezüglich des Massakers durch die Armee in El Charco verkünden die beiden Comandantes, die ERPI habe dort eine Versammlung abgehalten, „um von den Bedürfnissen und Vorhaben der Bevölkerung zu erfahren“. Die Organisation habe sich in einer Phase der „stillen Arbeit“ befunden und „so wären wir auch fortgefahren, hätte es das Massaker nicht gegeben“. Über die Geschehnisse in El Charco habe die ERPI eigene Ermittlungen durchgeführt und sowohl den„für den Verrat Verantwortlichen, eine Person außerhalb der Gemeinde, wie auch den General an der Spitze der Militäroperation identifiziert“. Sie garantiere, daß diese - trotz Schutz durch die Armee - bestraft werden.
Auf die von verschiedenen Medien vermutete Nähe zur EZLN angesprochen, erklärt Comandante Antonio, es bestünden keinerlei Verbindungen, und während die Zapatisten im Wesentlichen eine politische Antwort geben würden, führen sie Selbstverteidigungsaktionen durch. Doch der Beitrag der EZLN im politischen Sinne sei sehr wichtig gewesen und ‑es könne von einer Annäherung gesprochen werden, was Losungen betreffe wie „gehorchend befehlen“ oder „für alle alles, für uns nichts“. Außerdem würde die ERPI die Initiative der EZLN, eine Volksabstimmung über die Rechte der indianischen Gemeinschaften durchzuführen, ausdrücklich begrüßen. Sie sei ein „Vorbild für die Demokratie im Lande“ und werde daher in den Einflußgebieten der ERPI unterstützt. „Wir denken, daß die Abkommen von San Andrés die legitimen Bestrebungen der Bevölkerung darstellen und im besonderen die der indianischen Gemeinschaften des Landes, die sich die Regierung weigert zu erfüllen“.
In der Tradition von Lucio Cabañas
Der Bundesstaat Guerrero, in dem die ERPI operiert, blickt auf eine lange Guerillatradition zurück. Bereits 1963 führte der Landschullehrer Genaro Vázquez Rojas eine Gruppe zur bewaffneten Selbstverteidigung an, nachdem er den Versuch unternommen hatte, sich bei den Wahlen in Guerrero aufzustellen und nur Repression erfuhr. Die Gruppe wurde in die Berge gedrängt und 1972 zerschlagen. Vázquez Rojas stirbt dabei. 1967 greift in Folge eines Massakers in Atoyac Lucio Cabañas, ebenfalls Landschullehrer, zu den Waffen und gründet die „Hinrichtungsbrigade der Partei der Armen“, die auf breite Unterstützung unter den Armen zählen kann. Er fällt 1974 im Kampf, als die Gruppe von Sicherheitskräften weitgehend aufgerieben wird. Im Laufe der Aufstandsbekämpfung in der Region werden schwere Menschenrechtsverletzungen begangen und über 500 Personen „verschwanden“, viele sollen über dem offenen Meer aus Hubschraubern herausgeworfen worden sein.
Das Massaker von Tlatelolco an StudentInnen im Vorfeld der Olympiade 1968 galt für viele AktivistInnen der städtischen sozialen Bewegungen als Zeichen für die Unmöglichkeit eines unbewaffneten politischen Kampfes. Der Weg einer offenen Oppositionspolitik schien durch die gewalttätige Reaktion der PRI-Regierung versperrt. Es entstanden verschiedene jedoch kleine bewaffnete Gruppen in den Städten Mexikos, die in den folgenden zehn Jahren zerschlagen wurden.
Das Kapitel bewaffneter Kampf schien damit für die Regierung, wie für die Linke abgeschlossen zu sein. In den letzten Jahren ist allerdings deutlich geworden, daß die Zerschlagung nur scheinbar war. So wie die EZLN aus der kleinen Gruppe der Fuerzas de Liberación Nacional (FLN) hervorging, die jahrelang in der Klandestinität Aufbauarbeit leistete, so handelte es sich bei der EPR um einen Zusammenschluß verschiedener Gruppen, die aus den Resten der Bewegungen der 60er und 70er Jahre hervorgingen. Hinzu stoßen in den 90ern weitere Gruppen, die jahrzehntelang Organisationsarbeit leisteten und einen günstigen Zeitpunkt zum Handeln abwarteten. Die Arbeit wurde bewußt geheim gehalten und die Parole ausgegeben, sich keinesfalls zu Banküberfällen, Entführungen oder anderen Finanzierungsaktionen zu bekennen.
Aguas Blancas und die Folgen
Nach der EZLN (1.1.1994) tritt als nächste Guerilla die EPR am 28. Juni 1996 in Aguas Blancas (Guerrero) in Erscheinung. Bei einem Gedenkakt für das ein Jahr vorher am gleichen Ort an 17 Mitgliedern der OCSS, der Bauernorganisation der südlichen Sierra, durch die Polizei verübte Massaker, steigt ein bewaffnetes Kommando auf die Bühne und verkündet das Manifest von Aguas Blancas. Darin heißt es, die antidemokratische Regierung müsse gestürzt und die Souveränität der Bevölkerung sowie die fundamentalen Menschenrechte zurückerobert werden, die Forderungen und Bedürfnisse des Volkes müßten erfüllt und die der Verantwortlichen für die politische Unterdrückung, Repression, Korruption und Elend der Bevölkerung bestraft werden. Nur wenige Stunden später findet bei Zumpango del Río, über 100 Kilometer entfernt, ein Gefecht zwischen EPR und Polizei statt. Am 7. August 1996 begleitet die EPR einige Journalisten an einen Ort der Sierra Madre Oriental und verkündet die Existenz der Demokratisch-Revolutionären Volkspartei, PDPR. Die PDPR und die EPR seien das Resultat der Einheit verschiedener bewaffneter revolutionärer Organisationen, die während der letzten 30 Jahre entstanden sind. Etwa zwei Wochen später berichten EPR-Comandantes einer Reporterin in einem Sicherheitshaus in Mexiko-Stadt, daß sie in den zwei Monaten insgesamt 59 Tote und Verletzte bei Militär und Polizei verursacht und Arbeiter- und Volksmilizen im Gebiet des Tals von Mexiko gegründet haben.
Die EPR operiert in mindestens acht der 16 Bundesstaaten Mexikos. Die Erklärung für den Griff zu den Waffen ist die gleiche wie bei der EZLN: Sie sehen sich einem System gegenüber, das keine demokratischen Optionen mehr bietet und gleichzeitig wirtschaftlich und sozial immer größere Teile der Bevölkerung ausgrenzt. Doch der Diskurs der EPR ist in den ersten zwei Jahren sehr hart und lehnt sich an die traditionellen marxistisch-leninistischen Guerillas der 60er und 70er Jahre an. Stets auf Distanz bedacht tauschen EPR und EZLN kleine verbale Spitzen aus. So verkündet die EPR etwa im Hinblick auf Marcos Kommuniqués, man könne „einen Krieg nicht mit Gedichten gewinnen“. Doch die internen Diskussionen scheinen die EPR zu verändern, und ab Mitte 1997 ist eine Wende zu beobachten. Zu den Wahlen in Mexiko-Stadt verkündet die Guerilla einen Waffenstillstand, „um den Wahlprozess nicht zu beeinflussen“ und akzeptiert in einem nachfolgenden Kommuniqué den Weg der Wahlen ebenfalls als „einen Teil des Kampfes um Veränderung“, wenn auch nicht als ihren Weg. Die nachfolgenden Erklärungen sind deutlich zurückhaltender und moderater formuliert, verwenden eine Sprache mit Vergleichen aus der Natur und enthalten sogar Nahuatl-Gedichte.
In weiten Teilen der Welt noch als Urlaubsort gepriesen, bezeichnen hohe Ränge des Militärs Mexiko als ein Land im Kriegszustand. Die Flecken auf der Landkarte, die als „Spezialgebiete“ bezeichnet werden und zu denen BesucherInnen mit Touristenvisum keinen Zutritt haben (obwohl das Visum berechtigt, die gesamte Republik zu besuchen und die Sonderzonen offiziell nicht existieren), breiten sich aus.
Die Streitkräfte machen mittlerweile den zweitgrößten Haushaltsposten aus und die Militärausgaben übersteigen jene für Landwirtschaft oder Gesundheitswesen. Mittlerweile sind alle südlichen Bundesstaaten und einige des Zentrums und Nordens Mexikos militarisiert und vor allem im Süden hat der intensive Aufbau paramilitärischer Verbände begonnen
Weitere Guerillas im Wartestand
Laut dem militärischen Geheimdienst der USA existieren 37 Guerillaorganisationen, die in 12 Bundesstaaten Mexikos operieren, laut anderen Quellen sollen es bis zu 300 sein. Doch die Zahlenspielereien sind müßig, da einige Gruppen verschwindend klein sind, während andere wiederum über eine breite Basis verfügen. Außerdem werden auch zunehmend mehr der traditionell zur Selbstverteidigung bewaffneten Bauernorganisationen in die Klandestinität gedrängt und verwandeln sich so langsam in Guerillagruppen.
Allein während der Amtszeit des vorhergehenden Präsidenten Salinas fielen über 300 AktivistInnen sozialer Bewegungen und politischer Organisationen der Repression zum Opfer. Seit Amtsantritt von Ernesto Zedillo im Jahr 1995 ist die Zahl weiter gestiegen.
Diese Erfahrungen, zusammen mit den Ergebnissen der Friedensprozesse in El Salvador oder Guatemala, führen bei vielen zu einer Haltung, wie sie der EZLN-Subcomandante Marcos einmal formulierte: „Die Waffen sind erst das Mittel, mit dem wir etwas fordern und dann das Mittel, mit dem wir es verteidigen werden. Aber keiner der Genossen hat die Vorstellung, die Waffen abzugeben solange er noch lebt. Abgeben! Benutzen ist etwas anderes. Wir sind bereit sie nicht zu benutzen, eine Zeit lang, für immer, aber niemals abgeben. Eines haben wir klar: in dem Moment, in dem die Waffen abgegeben werden, ist alles vorbei. Niemand wird irgend etwas akzeptieren. Niemand. Noch viel weniger im Tausch für einen Stapel Papiere.“