DREI MONATE IM LEBEN VON NERUD GASHI

Die Unschuldigen bezahlen

Aufgeschrieben von Dario Azzellini

Ich heisse Nerud Gashi, ich bin 28 Jahre alt, Roma und komme aus Pristina. Ich habe vor einiger Zeit vier Jahre lang in Italien gearbeitet und dann eine Pannenhilfe in Pristina eröffnet. Schon vor den Bombardements haben uns die serbischen Milizen bedroht, weil wir Muslime sind. Sie kamen und haben unsere Papiere zerrissen, wie bei den Albanern. Sie waren maskiert, serbische Soldaten und Paramilitärs. Einige Tage später übergab mir ein Briefträger in Begleitung von vier oder fünf Paramilitärs einen Einberufungsbescheid.

Am dritten Tag der Bombardements bin ich geflohen, da ich nicht zum serbischen Militär wollte. Ich kann doch nicht auf die Albaner schiessen, das sind doch Muslime wie wir, wir beten zusammen, und auf dem Friedhof liegen wir nebeneinander. Wir haben mit den Albanern immer wie Brüder gelebt. Nach 1989 haben uns die Albaner, Ibrahim Rugova, unsere Roma-Fahne gegeben und Schulen, in denen in unserer Sprache unterrichtet wurde.

Als ich floh, liess ich meine Frau und meine fünf Kinder dort, denn die Serben wollten nur mich für das Militär. Nach dem Krieg habe ich dann meine Familie geholt und wir sind nach Montenegro geflohen, wo wir bis Mitte August waren. Dann gingen wir nach Italien. Nach den Bombardements ist die UCK gekommen und hat unser Haus geplündert und niedergebrannt. Damals verschwand mein Vater. Um dieses Haus zu bauen, hatte er vierzig Jahre lang gearbeitet. Ich kann einen Finger nicht mehr bewegen, seit ich mir bei einem Arbeitsunfall die Sehnen zerschnitten habe: alles für das Haus, und jetzt ist alles weg. Als das Haus niederbrannte, stand ein britischer Soldat davor und tat nichts. In Pristina waren die Briten, ich habe einen Italiener gerufen und ihm alles gezeigt, dann kam aber ein Albaner, der besser Englisch sprach, und sie haben uns weggeschickt, sie wollten von uns Zigeunern nichts mehr wissen. Die Nato ist nur in der Stadt, unser Haus stand etwas ausserhalb. Nachts kam die UCK und beschlagnahmte, was sie wollte. Wie die Serben vorher, vielleicht noch schlimmer. Die Serben haben den Albanern vorher alles gestohlen, aber die sind auch schon abgehauen. Wir waren es nicht. Wenn wir die Albaner bestohlen hätten, wären wir dann jetzt so zerlumpt und unterernährt?

Mein Vater, eine Schwester, ein Bruder und meine Mutter sind im Kosovo geblieben, ich weiss nicht, was mit ihnen ist. Wer fliehen kann, flieht. Die UCK hält die Autos, Busse und Traktoren an und holt die Männer raus. Wir zahlen, als hätten wir den Krieg gegen die Albaner geführt. Wir Zigeuner zahlen immer. Aber es stimmt nicht, dass wir mit den Serben gekämpft haben. Ich habe hier Unterlagen,die beweisen, dass ich vor dem Militärdienst geflohen bin.

Was soll das, was die Nato gemacht hat? Sie hätten die serbische Polizei nicht wegschicken dürfen. Sie hätten zusammen im Kosovo bleiben sollen. Vielleicht hätten sie uns Zigeuner einen sicheren Ort geben können, für zwei, drei Jahre, bis der Krieg vorbei ist. Warum schaffen es 50 000 Nato-Soldaten nicht, auf 100 000 Zigeuner aufzupassen? Sie wollen nicht, das ist der Grund. Man hat ihnen erzählt, wir hätten die Albaner bestohlen und im Krieg auf Seiten der Serben gekämpft. Aber das ist nicht wahr. Vielleicht zwanzig Prozent von uns, meistens die orthodoxen, wurden zu Beginn des Kriegs von den Serben gezwungen, ihnen bei der Verlegung der Militärcamps zu helfen. Sie wurden gezwungen, Material und Waffen zu transportieren.

Die Nato sollte die Roma aus dem Kosovo und aus Montenegro rausholen und sie nach Deutschland oder nach Italien bringen. Schliesslich ist sie auch dafür verantwortlich, was heute passiert. Jetzt bezahlen im Kosovo nur die Unschuldigen, denn sie sind dageblieben, die anderen sind abgehauen. Wir haben in Montenegro mit zwanzig Personen in einem Zelt geschlafen. Es gab kein Wasser und keine Duschen. Wir haben so gut wie nichts bekommen. Von den Hilfen wird nur ein kleiner Teil verteilt. Der Rest landet in den Geschäften und wird verkauft. Meine Frau und mein Bruder sind mit nach Montenegro, wir sind nach Podgorica. Wir hatten gehört, dass ein Schiff einer humanitären Organisation uns für 80 Mark wegbringt. Dann war es aber nur die Mafia aus Montenegro, und wir mussten jeder 2500 Mark für die Überfahrt zahlen. Das Schiff war für 150 Personen und wir waren 1500, ohne die italienische Küstenwache wären wir alle tot. Einige aus meiner Familie sind auf einem anderen Schiff gestorben. Wir waren 56 Stunden unterwegs, ohne Wasser und ohne Essen. Ich habe 10 000 Mark für meine Familie bezahlt, und dann haben die Mafiosi uns noch alles abgenommen, was wir besassen.

Ich würde gerne in Italien bleiben, hier habe ich Verwandte, und hier habe ich meine Ausbildung gemacht. Ich kann nicht mehr zurück, wenn ich nach Serbien gehe, muss ich in den Knast. Ich bin Deserteur.

Hier bekommst du 30 Tage Aufenthaltsgenehmigung, aber kein Geld. Wenn man hier den Antrag gestellt hat, muss man in die Stadt, in der man später leben will, und sich dort bei der Polizei melden. Die gibt einem dann einen Termin für das Asylverfahren vor der Zentralkommission des Innenministeriums in Rom. Ich muss eigentlich 600 Kilometer weit nach Florenz, wo ich Verwandte habe, aber wie soll ich das schaffen?