Durch mehr als einen Grenzzaun von den USA getrennt

Endstation Tijuana

Es ist die mexikanische Grenzstadt zu den USA, eine Stadt des modernen Wilden Westens, direkt an der Pazifikküste gelegen. In Tijuana treffen die Verheißungen des Nordens auf die Verzweiflung des Südens. Sexindustrie, Drogenhandel, Billiglohnfabriken und Armenviertel verbinden sich südlich der militärisch befestigte Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko zu einem Panorama der Depression und des Zivilisationsverfalls.

Wenn es dunkel wird und die Nacht zum Samstag anbricht, beginnt sich das Zentrum Tijuanas in einen wirbelnden, surrealen Alptraum zu verwandeln. Die pulsierende Ader der Vergnügungssucht heisst Avenida Revolución, doch den Namen kennt kaum noch jemand. Der Fluß aus Neonschildern und Lichtreklame wird einfach nur Boulevard genannt. Hier pochen aus Diskotheken durchdringende Basswellen während an den Ecken vor den Vergnügungstempeln Indio-Kinder mit Ziehharmonikas sitzen, mexikanische Volksmusik spielen und um einen Peso betteln.

The Line

Auf der US-Seite ragen die spiegelverglasten Wolkenkratzer San Diegos in die Luft und wenige Autostunden weiter nach Norden liegt Los Angeles. Auf der mexikanischen Seite des unerbittlichen Stahlwalls, der die Grenze bildet, liegen rund um das Zentrum Tijuanas Elendsviertel, die von Hunderttausenden von Mexikanern bewohnt werden. In den ärmliche Hütten und Häuschen, die kilometerlang direkt an der Mauer kleben, leben Menschen, die vorwiegend aus dem armen Süden des Landes stammen. Sie sind der Hoffnungslosigkeit ihrer Dörfer entflohen, haben über 3.000 Kilometer zurückgelegt und wollen nun ins Gelobte Land, nach Norden, wo es Arbeit gibt und ein besseres Auskommen. Einen Steinwurf vom Ziel ihres Traums entfernt, warten sie auf eine günstige Gelegenheit, die Linie, wie hier die Grenze heißt, zu überqueren. Doch der letzte Schritt ihrer Reise ist der schwierigste: Wie die Grenzbefestigungen überqueren, die Tijuana von San Diego trennen und jährlich Hunderte von Menschen das Leben kosten?

Für US-Amerikaner, die nach Süden über die Grenze wollen, besteht dagegen keine Einreisebeschränkung. So knattern kalifornische Rockergangs auf ihren Motorrädern mit Stahlhelmen und Sonnenbrillen durch die Strassen Tijuanas und pflegen nach einigem auf- und ab im Hard Rock Café Tijuana einzukehren. Hochgebockte Jeeps mit Rädern vom Durchmesser eines Traktors kreuzen über den Boulevard, darin sitzen Muskelprotze mit dem Gesichtsausdruck der Bösen aus den Schwarzenegger Filmen. Leichtbekleidete Prostituierte konkurrieren um Freier unter den Tausenden von Wochenendtouristen aus den USA. Gleich um die Ecke ist für Autos kein Durchkommen mehr möglich, etwa einhundert Mariachis bevölkern in filmreifen Kostümen die Strasse und spielen für zwei US-$ original mexican mariachi music. Über allem liegt der durchdringende Geruch von Imbissbuden und verbrauchtem, altem Fett. In manchen Kneipen dröhnen die Tigres del Norte aus den Lautsprecherboxen, die die Heldentaten der Bosse nordmexikanischer Drogenkartelle besingen. Kokain ist so einfach zu bekommen, wie ein Hamburger. Die überall gegenwärtige, gewalttätige Spannung macht sich in Schlägereien Luft, oft wird geschossen, über 230 Menschen sind in den letzten neun Monaten in der Stadt ermordet worden, die meisten im Zusammenhang mit Drogengeschäften.

Auch bei den lokalen Polizeieinheiten scheint der Colt locker im Halfter zu sitzen. Einige der Erschossenen gehen auf das Konto der Fuerzas Especiales, einer neugeschaffenen Sondereinheit, die auf Geländemotorrädern durch die Strassen patroulliert. Sie vermittelt keineswegs den Eindruck von Sicherheit, sondern eher den einer weiteren Streetgang. Einige ihrer Mitglieder wurden bereits inhaftiert, da ihre Opfer nicht im vermeintlichen Feldzug gegen das Verbrechen, sondern im Rahmen des erbitterten Kampfes um Marktanteile an Drogenhandel und Vergnügungsbetrieb gefallen sind. Daß das Vertrauen in die Sicherheitskräfte nicht sonderlich weit gestreut ist, verdeutlichen auch Schilder der Stadtverwaltung mit der Aufschrift, daß Polizisten nicht autorisiert sind, Geld entgegen zu nehmen.

Nachts: Die große Freiheit bei Sex & Drugs

Jedes Wochenende strömen Tausende US-Amerikaner, Gabachos, wie die Mexikaner sie nennen, über die Grenze. Für 10 $ die Nacht bekommen sie in Tijuana ein feines Hotelzimmer, für weitere 20 $ eine junge Mexikanerin gleich dazu, die - wie ihr Zuhälter sie auf der Strasse feilbietet - die ganze Nacht alles macht!. Das Geschäft floriert für die Besitzer der diversen Clubs die Strip-Shows, Schlammcatchen und mehr versprechen. Doch die jungen Frauen arbeiten dort für nicht einmal 7 $ am Tag im Akkord.

Viele der nächtlichen Touristen sind jung, das Straßenbild ähnelt einem Rap-Video, es wimmelt von grimmigen Gesichtern mit Kopftüchern, weiten Hosen und noch flaumigen HipHopper-Bärten. Ein Gutteil dieser Homeboys sind US-Amerikaner mexikanischer Herkunft, sogenannte Chicanos, und die wenigsten dürften Gang-Mitglieder sein, obwohl fast alle bemüht sind, als gnadenlose Outlaws zu erscheinen. Für sie ist es ein Ausflug in eine dubiose Freiheit, ein Ausbruch aus einer nicht weniger zweifelhaften Restriktion. Zwar besitzen die meisten von ihnen bereits mit sechzehn einen Führerschein, doch der Erwerb alkoholischer Getränke und der Zutritt zu Bars und Diskotheken mit Alkoholausschank ist in Kalifornien erst ab 21 Jahren gestattet. Auf der mexikanischen Seite hingegen fragt sie niemand nach ihrem Alter, selbst in den Sex-Bars nicht, obwohl dort gesetzlich eigentlich ein Mindestalter von 18 vorgegeben ist.

Tags: Souvenirs und Alkohol zu Billigspreisen

Am nächsten Morgen ändert sich das Strassenbild völlig, nur vereinzelt sieht man die Protagonisten der vorherigen Nacht, auf Treppenabsätzen sitzen, ihren schmerzenden Kopf zwischen beiden Händen haltend, kneifen sie die Augen zusammen und gehen der gnadenlosen Sonne aus dem Weg. Wo gestern noch lärmende Diskotheken und in grellen Farben leuchtende Sex-Clubs waren, befinden sich nun unzählige Souvenirläden und Verkaufsstellen für Parfüm und hochprozentige Getränke, allen voran Tequila. Überall weisen große Schilder auf die im Vergleich zu den USA besonders günstigen, teilweise steuerfreien, Preise hin, wohl als Erinnerung für die wenigen Touristen, die nicht aus genau diesem Grund nach Tijuana gekommen sind. Der Altersdurchschnitt ist nun wesentlich höher als am Vorabend und vereinzelt sind sogar japanische Reisegruppen auf Tagestour auszumachen.

Billiglohnfabriken für den US-Markt


Aber Tijuana ist nicht nur Einkaufsparadies und Reiseziel für Sex-Touristen. Die Millionenstadt, vor zwanzig Jahren noch ein verschlafenes Städtchen inmitten der Wüste, stellt auch die letzte Station Hunderttausender mexikanischer Migranten in Richtung USA und eine der wichtigsten Sonderwirtschaftszonen des Landes dar. Strategisch günstig, einen Katzensprung von den USA entfernt, haben sich hier Großkonzerne aus den Industrienationen der ganzen Welt niedergelassen und Billiglohnfabriken, sogenannte Maquiladoras, aufgebaut. Mit Unterzeichnung des Freihandelsabkommen zwischen der USA und Mexiko am 1. Januar 1994 hat sich die Entwicklung weiter beschleunigt. Waren können nun - im Gegensatz zu Menschen - in beide Richtungen (zoll)frei verkehren.

In der trockenen Wüstenlandschaft stapeln sich unzählige Container neben kargen Montagehallen von Hunday, Samsung und Panasonic. Tausende von kleinen und mittleren Fabriken produzieren für Auftraggeber nördlich der Grenze. An den Maquiladoras, gleich ob Montagehallen, Textil-, Schuh- oder Möbelfabriken, hängen große Transparente, auf denen Arbeitskräfte ermuntert werden, sich zu melden. Versprochen wird "gutes Arbeitsklima", "angenehme Atmosphäre" und "Integration in die Betriebsfamilie". Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: "Unter den Beschäftigten verstehen wir uns sehr gut", berichtet die Maquiladora-Arbeiterin Adriana Guadalupe Valenzuola Ruíz, "aber mit den Chefs ist es anderes, da sie sehr streng sind. Sie verbieten uns, auf die Toilette zu gehen, oder geben uns nicht genügend Zeit dafür. Sie schimpfen uns aus, wenn wir mehrmals am Tag Wasser trinken, oder wenn wir mit der Kollegin vor uns, der neben uns, oder einer, die vorbeigeht, reden. Sobald wir den Kopf heben, um zu sprechen, schreinen sie uns übel an. Wir leiden auch sehr unter der Hitze, weil es keine frische Luft gibt. Aber die Personen, die versuchen, eine Gewerkschaft aufzubauen oder wie ich es gerade tue, ein Interview geben, werden zuerst als Unruhestifter beschuldigt und dann aus der Fabrik rausgeschmissen." Auf die Frage, wieviel sie denn verdiene, muß Adriana Guadalupe lachen, "das reicht nicht einmal, um in einem Café ein ordentliches Frühstück zu bezahlen!"

Tijuana ist für mexikanische Verhältnisse eine teure Stadt und die Löhne betragen keine fünf US-$ am Tag. Arbeitsrecht, Arbeitsschutzmaßnahmen, Gewerkschaften und Umweltauflagen sind praktisch inexistent. Die lukrativen Investitionsbedingungen werden abgerundet durch die Bestechlichkeit der Behörden, die gerne bereit sind, Unternehmern einen Gefallen zu tun, wenn sie unter der Hand ein Bündel Geld über den Tisch schieben. Gearbeitet wird in den Maquiladoras mindestens neun Stunden und 15 Minuten am Tag, sechs Tage die Woche. Urlaub über die Weihnachts- und Osterfeiertage hinaus, gibt es nur für altgediente Firmenmitarbeiter. Die jeden Tag neu ankommende Migranten aus dem Süden, die nach der langen Reise meist keine zehn Pesos mehr in der Tasche haben und nicht mehr als die Kleidung, die sie tragen, als Reisegepäck mitbringen, dienen den Maquilas als Kanonenfutter in der Produktionsschlacht. Wer sich dem Fabrikregime nicht unterordnet, wird gefeuert. Auf der Straße warten jeden Tag Tausende, die darauf angewiesen sind, jede Arbeit anzunehmen.