Europa im Ausnahmezustand: Sind “Flüchtlinge” Opfer? Oder bewegen sie die EU zum Einlenken?
Refugees, MigrantInnen und so genannte Flüchtlinge werden in den staatstragenden Debatten als hilflose Opfer gehandelt. Dabei haben sie mit ihrer Entschlossenheit und ihrem organisierten Handeln die EU zum Einlenken bewegt. Der Politikwissenschaftler und Berliner Gazette-Autor Dario Azzellini kommentiert.
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Komische Zeiten in Deutschland. Vergangenes Jahr hat mich die Polizei gefilmt, als ich das bekannte “Refugees Welcome”-Banner aus meinem Balkon herausgehängt habe. Jetzt druckt es die “Bild”-Zeitung ab und alle finden angeblich “Flüchtlinge” toll und wollen “helfen”. Alle wollen sich gut fühlen (mit CSU und Pfarrer Gauck voran bröckelt es nun aber auch im bürgerlichen Sektor).
Ganz grundsätzlich ist “helfen” im Fall von Katastrophen, Flucht und Elend eine humanitäre Pflicht und weder “großzügig” noch ein Akt der Barmherzigkeit. Dies ganz abgesehen von der Frage der ökonomischen, politischen und ökologischen Verantwortlichkeiten Europas und dem minimalen Anteil an “Flüchtlingen”, die überhaupt bis nach Europa kommen.
Die Ereignisse der letzten Monate werden Deutschland und die EU nachhaltig verändern. Einige wichtige Erkenntnisse sollten jedoch viel stärker hervorgehoben werden. Ohne in eine tiefgreifende Analyse zu gehen, möchte ich im Folgenden einige Gedanken zu den Ereignissen rund um die Ankunft von Hunderttausenden Flüchtlingen in Europa anführen.
Refugees und MigrantInnen sind handelnde Subjekte
In den Medien und in den Köpfen sind Refugees und MigrantInnen hilflose Opfer. Die Realität ist indes eine ganz andere. Weit davon entfernt Opfer zu sein, sind die Refugees und MigrantInnen handelnde Subjekte, von denen wir im Hinblick auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen viel lernen können.
Die Refugees und MigrantInnen haben von unten, mit ihrer Entschlossenheit und ihrem organisierten Handeln (und der Unterstützung vieler Menschen) die unmenschliche und tödliche EU-Flüchtlingspolitik an mehreren Punkten praktisch außer Kraft gesetzt. Und sie haben Regierungen zu anderen Vorgehensweisen gezwungen.
Zäune werden auf- und abgebaut. Grenzen gehen auf und zu. Züge werden ausgesetzt und fahren wieder. Mehr noch: Die Regelung zur Meldung im ersten „sicheren Drittstaat“ ist genauso außer Kraft gesetzt worden wie das Verbot der Grenzübertritte, Weiterreise und Durchreise. Die Refugees haben Zäune überwunden, sind in Massen aus Lagern in Südosteuropa herausgeschritten und haben Verbote, Polizisten und gestrichene Zugverbindungen ignoriert und sich kollektiv auf den Weg gemacht.
Was Griechenland in Europa nicht geschafft hat
Dafür werden sie vor allem im Südosten der EU von der Polizei verprügelt und mit Tränengas beschossen. Es werden mehr “Zäune” gebaut. Teilweise wird bei all dem die Armee eingesetzt. Das ist aber nicht die “hässliche Ausnahme”, sondern die Durchsetzung der eigentlich beschlossenen EU-Flüchtlingspolitik.
Die Ausnahme ist, was die Refugees faktisch erzwungen haben und weiterhin erzwingen. Der wichtigste Erfolg gegen die unmenschliche EU-Flüchtlingspolitik wurde nicht durch Wahlen, institutionelle Verschiebungen oder humanitäre Einsicht erzielt, sondern vom entschlossenen Handeln der Refugees erzwungen. Das ist eine wichtige Lehre.
Das festgesetzte Regelwerk ist durchbrochen und nicht durchsetzbar. Die EU-Flüchtlings- und Migrationspolitik wird neu verfasst werden. Ob die EU-Flüchtlings- und Migrationspolitik nun etwas realitätsorientierter und humaner werden wird?
Deutschland hat gleich vorgelegt mit Asylrechtsänderungen, die Hilfsorganisationen als “fragwürdig und in Teilen menschenrechtswidrig” bezeichnen – da wird z.B. der Kosovo zum “sicheren Drittland”.
Nichtsdestotrotz: Für Hunderttausende ist erstmal so viel erreicht worden, wie es auf institutioneller Ebene unmöglich gewesen wäre. Es ist der massenhafte “Ungehorsam” der vor unseren Augen ein anderes Vorgehen herbeizwingt.
Großwetterlage in Deutschland
Zugespitzt können wir feststellen: Den Refugees ist gelungen, was die Regierung Griechenlands nicht geschafft hat. Sie haben es geschafft, die EU zu einem Einlenken zwingen. Wie ist dies auf andere Bereiche und Kämpfe zu übertragen?
Das ist die zentrale Frage angesichts eine politischen Großwetterlage in der Parteien und Regierungen sich weitgehend nicht darum scheren, was sie zugesagt oder versprochen haben und in denen von machtvollen Staaten kontrollierte supranationale Institutionen einen Teufel auf Wahlergebnisse geben.
Der Umgang mit den Refugees macht auch einen weiteren Punkt deutlich: Die staatlichen Institutionen haben weitgehend versagt. Und die Unterstützung entlang der Routen, an Bahnhöfen und schließlich noch vor deutschen Ämtern, mit Wasser, Essen, Informationen, DolmetscherInnen, medizinischer Nothilfe, Begleitung bei Behördengängen, Schlafplätzen, Kleidung, Kinderbetreuung, Fahrdiensten und häufig sogar Deutschkursen?
All dies wurde und wird (wo es sie gibt) weitgehend von Freiwilligen geleistet und manchmal noch von Wohlfahrtsverbänden unterstützt. Die zentrale Säule bildet dabei häufig genau jene, die noch vor kurzem von Medien und Politik diffamiert wurden als “Radikale”, die Flüchtlinge “instrumentalisieren”.
In den Medien wird dann aber das vermeintliche Bild eines syrischen Mädchens gezeigt: rechts ein Syrien voller Krieg, Terror, Tod und Leid; links ein tolles und sauberes Deutschland mit freundlicher Polizei. Das Bild ikonisiert die “Flüchtlinge” als moralische Waschmaschine der Nation.
Die zahlreichen Kinderbilder mit deutschen Polizisten, die Familien auseinanderreißen, Türen eintreten um vier Uhr morgens, Kinder zur Abschiebung aus der Schule holen oder Eltern fesseln und knebeln, haben es nicht in die Medien geschafft. Auch nicht die Bilder der Roma-Kinder, die mit ihren Familien tagtäglich von der Polizei vor meiner Haustür in Berlin-Kreuzberg terrorisiert werden.
Was ist Ausnahme? Was ist Normalität?
Und auch nicht die Bilder der 13 bis 17-jährigen SchülerInnen, die vor etwas mehr als einem Jahr von der Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas angegangen wurden, weil sie gegen das Aushungern der Flüchtlinge in der besetzten ehemaligen Schule in der Ohlauer Straße in Kreuzberg protestierten.
Es fällt schwer, das weitgehende Scheitern der staatlichen Institutionen bezüglich der Nothilfe, Unterstützung und gesetzlich vorgesehenen Betreuung nicht als gewollt zu interpretieren. Zu anderen Gelegenheiten sind das Technische Hilfswerk, die Bundeswehr und weitere staatliche Institutionen in der Lage innerhalb von kürzester Zeit jede Art massiver Nothilfe zu leisten, bis zum Aufbau von Zeltstädten für Tausende Personen inklusive kleinem Krankenhaus.
Wenn “Flüchtlinge” tagelang auf Bahnhöfen übernachten, wie in Berlin bis zu 18 Tage lang vor Behörden stehen, um registriert zu werden und selbst bei Temperaturen von 36 Grad im August kein Trinkwasser bekommen, dann lässt dies nur den Schluss zu, der Ausnahmezustand soll auch weiterhin als “AUSNAHMEzustand” erkennbar bleiben.
Die Hilfe von unten macht den Unterschied
Diese Intention setzt sich fort, wenn “Flüchtlinge” nun zu Hunderten oder Tausenden in großen Lagern untergebracht werden sollen. Die Absorbtionsfähigkeit von Städten ist historisch ständig unter Beweis gestellt worden. Städte haben in den vergangenen 150 Jahren immer wieder zehntausende und hunderttausende Menschen aufgenommen.
Wer Lager baut, will genau das verhindern und will den Ausnahmezustand fortsetzen. Die Sichtbarmachung der “Flüchtlinge” als “angehäuftes Problem” produziert die notwendigen Bilder für den Diskurs der Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft der Nation gegenüber den Opfern genauso wie für den autoritären Diskurs der Abschottung und Verteidigung Europas vor den einfallenden Horden.
Deswegen kann nicht häufig genug wiederholt werden, dass es die selbstorganisierten “Flüchtlinge” waren, welche die EU und Einzelstaaten zu einer Kursänderung gezwungen haben und, dass es wesentlich selbstorganisierte UnterstützerInnen waren, die ihnen dabei solidarisch zur Seite standen. Und auch heute noch zur Seite stehen.
Anm.d.Red.: Die Fotos im Text sind vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) in Berlin entstanden und zeigen Geflüchtete vor der Filiale des Amtes in Berlin-Moabit, kürzlich wegen “Überfüllung” geschlossen worden war. Aufgenommen September 2015 von Krystian Woznicki, Creative Commons Lizenz, cc by nc.
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