Erst jetzt veröffentlichte Bilder beweisen, dass die mexikanische Regierung 1968 für das Massaker auf dem Platz der Drei Kulturen verantwortlich war

Olympische Friedhofsruhe

Am Morgen des 21. Dezember 2001 findet ein Page des Hotels Museo in Mexiko-Stadt im Zimmer 309 die Leiche des 52jährigen Florencio López Osuna, des stellvertretenden Direktors eines Instituts der Technischen Hochschule. Der Polizeiarzt stellt als Todesursache »Herzstillstand nach Alkoholvergiftung« fest. Kein ungewöhnlicher Tod.

Doch Verwandten und Freunden Osunas fällt es schwer, daran zu glauben. Keine 14 Tage vor seinem Tod hatte ein Bild Osunas vom 2. Oktober 1968 auf der Titelseite der mexikanischen Proceso ganz Mexiko erschüttert. Es zeigt einen Studenten kurz nach seiner Festnahme, seine Kleidung ist ihm bis auf die Unterhose vom Leib gerissen worden, am Körper sind Wunden und Folterspuren zu sehen, sein Gesicht ist von den Schlägen aufgedunsen. Vor dem Massaker an Hunderten von Studenten auf dem Platz der Drei Kulturen in Mexiko-Stadt hatte der Studentenführer López Osuna als einziger seine Rede zu Ende halten können.

Dieses Foto ist eines von 35 Bildern aus dem Gebäude Chihuahua am Platz der Drei Kulturen, sie wurden der Spanienkorrespondentin der Wochenzeitschrift Proceso anonym zugesandt. Die Bildfolge ist unter www.proceso.com.mx/especiales/fotos68/ im Internet verfügbar.

Ein Rückblick: Wir schreiben das Jahr 1968, in Mexiko-Stadt - fernab von Berkeley, Berlin, Paris oder Rom - protestieren Zehntausende von Studenten verschiedener Hochschulen wochenlang gegen das Bildungssystem und die repressive Regierung. Am 2. Oktober, zehn Tage vor der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in Mexiko-Stadt, organisieren die Studenten eine große Demonstration, die Abschlusskundgebung findet auf dem Platz der Drei Kulturen statt, inmitten des modernen Wohnkomplexes Tlatelolco. Sie fordern Verhandlungen, doch der Präsident, José López Portillo, und seine Regierung der Staatspartei Pri (Partei der Institutionalisierten Revolution) haben bereits beschlossen, die Bewegung zu zerschlagen und den Olympischen Frieden in eine Friedhofsruhe zu verwandeln.

Kurz nachdem López Osuna seine Rede beendet hat, wird aus verschiedenen Gebäuden geschossen - unter anderem auch aus dem Wohnblock Chihuahua, in dessen drittem Stock sich die studentischen Redner befinden. Sofort eröffnet das Militär das Feuer, mit Maschinenpistolen und sogar Artilleriegeschützen wird auf die versammelten Demonstranten und die umstehenden Wohnblocks gefeuert. Noch Stunden später sind Schüsse zu vernehmen. In der Nacht werden die Toten zu Hunderten mit Lastwagen abtransportiert.

Die britische Tageszeitung Guardian spricht von 325 Toten, die US-Botschaft von 150 bis 200, unabhängige Historiker kommen auf 800 bis 1 000 Tote. Die genaue Zahl wird wohl nie ermittelt werden können, wer nach dem Massaker Angehörige vermisst, schweigt lieber, aus Angst vor weiteren Repressalien. Über 10 000 Soldaten bilden drei Ringe um den Ort des Geschehens, und niemand kommt mehr hinaus oder hinein. Den anwesenden Pressefotografen werden alle Filme abgenommen. Zwischen 5 000 und 6 000 Personen werden festgenommen, 2 000 von ihnen inhaftiert, für einige Tage, Wochen, Monate oder auch Jahre, wie López Osuna, der zwei Jahre, sechs Monate und neun Tage in Haft verbringt. Andere verschwinden sogar für immer.

Den Aussagen Überlebender zufolge begann das Batallón Olimpia - in zivil gekleidet und mit einem weißen Handschuh zur Identifikation - auf das Militär zu schießen, um eine bewaffnete Reaktion zu rechtfertigen. Das Batallón Olimpia war eine geheime paramilitärische Gruppe aus Soldaten, die direkt dem Präsidenten sowie dem Innenminister unterstand und die für den Olympischen Frieden im Land zu sorgen hatte.

Die gesamte Aktion war von oben vorbereitet worden. Ein Schuss mit roter und zwei Schüsse mit grüner Leuchtspurmunition, abgefeuert aus einem Hubschrauber über dem Platz, gaben das Startsignal. Einem Aufruf des Wochenmagazins Proceso folgend, die auf den Fotos Abgebildeten möchten sich melden und ihre Geschichte erzählen, berichtet López Osuna in einem Interview eine Woche vor seinem Tod:

»Ich befand mich in der Mitte der Tribüne. Als die ersten Schüsse fielen, habe ich mich umgedreht, und mit dem Rücken zum Platz habe ich gesehen, wie sich der dritte Stock (des Wohnblocks Chihuahua) mit Leuten gefüllt hatte, von denen ich später erfuhr, dass sie zum 'Batallón Olimpia' gehörten. Sie waren jung wie wir. Einige hatten eine Knarre in der Hand; andere eine Maschinenpistole. Alle hatten einen weißen Handschuh. Einige Schritte von mir weg rangelte David (Vega, der als Redner folgen sollte) mit einem vom 'Batallón Olimpia' um das Mikrofon, bis dieser schoss.«

Die Angehörigen des Batallón Olimpia gaben drei Anweisungen: »Alle an die Wand, alle auf den Boden, und wer den Kopf hebt, den soll der Teufel holen. Währenddessen schoss ein großer und gut gebauter Typ im Mantel in die Menge. Ich sah, wie die Menge sich wie ein Strudel verhielt, die Leute bewegten sich wie eine Meereswelle.«

Dann wurde López Osuna zu Boden geworfen, ein Soldat fiel auf ihn. »Wir im dritten Stock wurden aufgeteilt, einige wurden in den vierten, andere in den zweiten Stock gebracht. Ich gehörte zu letzteren. Ein Typ, der mit uns auf dem Boden lag, sagte uns, wohin wir kriechen sollten. Einige Schritte von uns entfernt saß ein anderer Typ in der Hocke. Er hat die Anweisungen gegeben. Ich kann mich gut an ihn erinnern: Er hatte Koteletten und Segelohren. Als ich an der Reihe war, sagte er zu seinem Chef: 'Das war einer der Sprecher der Kundgebung.' Da haben sie begonnen, mich herumzuschubsen, sie brüllten mich an. Hier begannen die Prügel.«

Nach einem Beschluss der Studentenversammlung war López Osuna wie auch andere seiner Genossen bewaffnet. »Man muss bedenken, in welcher Situation wir damals lebten. Unsere Institute wurden ständig mit Maschinenpistolen beschossen, man brauchte etwas, um sich zu verteidigen. Als ich auf dem Boden lag, war das einzige, woran ich dachte, wie ich die Pistole loswerden könnte. Der Typ mit den Koteletten befahl mir: 'Komm her!' Er zielte mit seiner Pistole auf mich, und daher dachte ich, es sei geboten, ihn darüber zu informieren, dass ich bewaffnet war. Der Typ verlor die Kontrolle, begann mich verzweifelt zu durchsuchen, bis er die Waffe fand. Er schlug mir mit dem Pistolenschaft ins Gesicht, mein Mund begann zu bluten. Und er sagte zu einem seiner Kollegen: 'Nimm ihn mit, und beim ersten Mucks machst du ihn fertig.'«

Die Bilder beweisen erstmals die Existenz des Batallón Olimpia, seine Angehörigen mit ihren weißen Handschuhen sind deutlich zu sehen. Die Regierung des damaligen Präsidenten José López Portillo und die darauffolgende unter seinem ehemaligen Innenminister Luis Echeverría haben die Existenz des Batallón stets geleugnet, ebenso wie alle späteren Regierungen Mexikos.

Der offiziellen Version zufolge trägt die Regierung keinerlei Schuld an den Ereignissen. Studenten eröffneten aus den Gebäuden, in denen sich der Streikrat befand, das Feuer auf die Armee und auf die Menge, die Armee schritt ein, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Eine anders lautende Version kam bisher nicht einmal von der Regierung unter Vicente Fox, die vor gut einem Jahr die ehemalige Staatspartei Pri ablöste.

Dies scheint den unbekannten Mexikaner, der die Fotos der Öffentlichkeit zugänglich machte, zu seinem Vorgehen bewegt zu haben. In einem Anruf bei der Spanienkorrespondentin von Proceso sagte er, die Bilder seien von einem Regierungsfotografen aufgenommen worden:

»'Wir wollen, dass es öffentlich wird, wir wollen, dass Recht gesprochen wird. Wir suchen eine internationale Dimension.' - 'Warum?' - 'Weil es hier keine Gerechtigkeit geben wird. Sie haben das mit Digna Ochoa (eine ermordete Menschenrechtsanwältin, D.A.) gesehen. Die Kloaken des Pri-Systems sind weiterhin intakt.' - 'Vertrauen Sie nicht Präsident Vicente Fox?' - 'Nein. Fox wird nichts unternehmen. Er hat schon alles mit ihnen ausgehandelt.' - 'Mit wem?' - 'Mit den Schuldigen: den Militärs, den Paramilitärs, den Polizisten und den Regierenden, die Hunderte von Personen ermordet und verschwinden haben lassen. (...)' - 'Ich möchte wissen, von wem die Fotos stammen.' - 'Sie wurden von einem Regierungsfotografen geschossen. Nicht von mir.' - ' Wer ist der Autor?' - 'Fragen sie Luís Echeverría.' - 'Warum ihn?' - 'Er weiß es. Fragen Sie ihn nach dem Fotografen und nach allem anderen. Wer in der Nacht des 2. Oktober gearbeitet hat. Fragen Sie ihn, wer den Oberbefehl hatte in jener Nacht, nach General Hernández Toledo und General Marcelino García Barragán. Er weiß alles.' - 'Wollen Sie damit sagen, dass Echevarría einer der Verantwortlichen ist?' - 'Das ist offensichtlich.'«

Viele der Verantwortlichen des Massakers machten Karriere. So wurde Jesus Castañeda Gutiérrez, der Oberkommandierende des Batallón Olimpia, zum Chef des Generalstabs. Luís Echeverría, damals Innenminister, wurde in der folgenden Amtsperiode Präsident und setzte den Krieg, den er als Innenminister begonnen hatte, fort. Noch heute betont Echeverría, er habe das Land vor dem Kommunismus gerettet, die Armee habe eine ehrbare Aufgabe übernommen.


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