Filmemacher und Autor Dario Azzellini über Venezuela unter dem „Commandante“

Venezuela im Chávez-Rausch

„Wir denken nicht wie der Commandante Chávez. Es ist der Commandante Chávez, der denkt wie wir“, sagt ein Arbeiter der Kakaofabrik im venezolanischen Cumaná im Film „Fünf Fabriken“ von Dario Azzellini. Der Politologe, Autor, Übersetzer und Filmemacher beschäftigt sich seit Jahren mit den Veränderungen in Venezuela unter Hugo Chávez. Der charismatische Präsident des lateinamerikanischen Landes polarisiert die Welt. Viele sehen in ihm einen neuen Che Guevara, der den Massen an armen Menschen in Südamerika neue Hoffnung bringt. Andere wiederum kritisieren ihn als autoritären Machtpolitiker. Doch wie hat sich Venezuela seit der Machtübernahme Chávez’ im Jahr 1999 wirklich verändert?

Weg zum Sozialismus ist eingeschlagen
Bereits kurz nach seinem Amtsantritt begann er, den verschuldeten Staatshaushalt zu sanieren und unternahm Versuche, die Armut zu bekämpfen. Eine Reihe von Sondervollmachten im wirtschaftlichen Bereich unterstützte ihn dabei. Ende 1999 etablierte er per Volksentscheid eine neue, die so genannte „Bolivarische Verfassung“. Diese erweiterte die Machtbefugnisse des Präsidenten, aber führte auch basisdemokratische Elemente ein. Zudem wurde die Privatisierung der staatlichen Ölfelder verboten. Seitdem wurden die Verstaatlichungen vorangetrieben und der Weg in Richtung Sozialismus eingeschlagen.

„Verstaatlichungen selbst bedeuten aber noch keinen Sozialismus“, sagt Azzellini im Gespräch mit CHiLLi.cc. Der Staat wäre auch vor Chávez der größte Unternehmer gewesen. Auch in Österreich sei die Staatsquote traditionell hoch, ohne dass es ein sozialistisches Land sei. Azzellini verweist dabei auf Chávez, der zuletzt selber in einem Interview meinte, es sei absurd, zu behaupten, in Venezuela sei irgendeine Art von Sozialismus umgesetzt worden. Es seien gerade einmal einige Grundlagen dafür gelegt worden, um einen Weg in die Richtung zu ermöglichen.

„Auswanderungsströme übertrieben“
Eine Richtung, die offenbar vielen Menschen in Venezuela nicht gefällt: Viele Venezolaner, vor allem Vertreter aus der Ober- und Mittelschicht, haben seit 1999 das Land verlassen. Von bis zu einer Million Menschen ist die Rede, eine Zahl, die Azzellini für stark übertrieben hält. Sicher hätten einige der 300.000 Venezolaner, die eine „green card“ für die USA besitzen und ohnehin vorwiegend dort gelebt haben, ihren Wohnsitz ganz dorthin verlegt. „Aber von vermeintlichen Auswanderungsströmen ist in Venezuela nichts zu merken. Ein Teil der Oberschicht und oberen Mittelschicht hat das Land aber bestimmt verlassen. Der prozentuale Anteil der Bevölkerung, der das eigene Land verlässt dürfte dennoch in so ziemlich allen lateinamerikanischen Ländern höher liegen“, relativiert der Filmemacher.

Auch ein großer Teil der Mittelschicht würde von Chávez Politik profitieren. Nur jene, die zuvor ihr Geld mit Erdöl verdient haben, treten nun gegen den Präsidenten auf. Die Wirtschaftsdaten bestätigen auf den ersten Blick diese These: Wachstumsraten von über zehn Prozent. Diese könnten natürlich auf den hohen Erdölpreis zurückzuführen sein. Azzellini aber betont, dass das Wachstum im Nicht-Erdölbereich und im Privatsektor höher war. Dennoch ist nicht alles eitel Sonnenschein. Die Inflationsrate liegt ebenso stabil über zehn Prozent.

„Menschen geht es besser“
Geht es den Menschen nun wirklich besser als je zuvor oder ist das nur „revolutionäres Geschwafel“? „Absolute Realität“, antwortet Azzellini und führt Berichte Internationaler Organisationen wie der WHO (Weltgesundheitsorganisation) als Beweis an. Das Programm zur medizinischen Versorgung habe demnach zu einer merklichen Verbesserung geführt. Ende 2005 wurde Venezuela gemäß der Standards der UNESCO zum Analphabetenfreien Territorium erklärt. Das trifft in Lateinamerika sonst nur noch auf Cuba und Costa Rica zu. „Zudem“, betont Azzellini, „ist die Verteilung des Reichtums gerechter als zuvor.“ Die Armut habe stark abgenommen, auch wenn sich das in den Statistiken der Internationalen Institutionen nicht so wider spiegle. Der kostenlose Zugang zu Gesundheit und Bildung für alle habe hier wesentlich dazu beigetragen.

Dennoch sind für Azzellini weiterhin grassierenden Probleme, wie die weiterhin vorherrschende Korruption oder nicht funktionierende Institutionen, unbenommen. Diese seien nicht dafür geschaffen worden, die Probleme der Massen zu lösen. Zu diesem Zweck würden aber auch die Sozialprogramme, die so genannten „Misiones“, als eigenständige Institutionen aufgebaut. In der Bevölkerung genießt Chávez daher laut Azzellini höchstes Vertrauen. „Nicht nur der Armen, sondern auch guter Teile der Mittelschicht. Durch den Aufbau einer nationalen Produktion, Diversifizierung der Industrie, Bauprojekte et cetera gibt es sehr viel Arbeit für qualifizierte Angehörige der Mittelschicht. Er genießt das Vertrauen, weil er über den Parteien steht und sich bisher konsequent an alle seine Aussagen gehalten hat.“

„Absolute Meinungsvielfalt“
Trotz dieser offenkundigen Verbesserung für weite Teile der Bevölkerung muss Chávez aber immer wieder Kritik wegen seines autoritären Führungsstils einstecken. Die Opposition würde demnach unterdrückt werden. Eine Unterstellung, wie Azzellini meint: „Die Opposition wird nicht nur ,geduldet’, sondern hat alle Rechte und Freiheiten die sie will. Es herrscht absolute Organisations-, Presse- und Agitationsfreiheit. Mehr noch als in Europa. Oder können sie sich vorstellen, dass in Europa Parteien und Organisationen, die einen Putsch gegen die Regierung organisiert haben, danach weiterhin legal existieren und arbeiten?“ Zudem betont der Venezuela-Experte, dass absolute Meinungsvielfalt herrsche.

Diktator oder Demokrat?
Auch die Verfassungsänderung, die dem Präsidenten mehr Macht einräumt, mache Chávez nicht zu einem autoritären Diktator. Kritiker befürchten, dass er dadurch wie Fidel Castro zu einem „Regenten auf Lebenszeit“ wird. Laut Azzellini gehe es aber nur darum, dass für den Präsident mehr als zwei Amtsperioden möglich sind. „Das wird aber davon abhängen, ob Chávez weiterhin gewählt wird. In keinem anderen Land Lateinamerikas wurde in den vergangenen Jahren so oft gewählt wie in Venezuela und in keinem Land hat ein Präsident, beziehungsweise ein politisches Projekt, so oft und so hoch Wahlen gewonnen wie in Venezuela. Diese waren, wie die EU bestätigt hat, demokratisch und sauber.“

Dank seiner Popularität unter der Bevölkerung braucht sich Chávez aber wohl keine Sorgen über eine Wiederwahl machen. Bei einer solchen Machtfülle kann die Gefahr daher nicht ausgeschlossen werden, dass sich Venezuela unter Chávez in eine autoritäre Richtung entwickelt. Dass die Menschen in dem erdölreichen Land nun erstmals von den riesigen Ressourcen profitieren, ist aber ebenso unumstritten.


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