Tagung 2011: Demokratie! Welche Demokratie?
Seit Jahren steigt das Unbehagen an der real existierenden Demokratie. Sie wird zwar ideologisch und kriegerisch rund um den Globus exportiert, beschränkt sich aber in den Kernländern auf die turnusmäßige Wahlentscheidung zwischen Parteien, die sich zum Verwechseln ähneln.
Colin Crouch (Postdemokratie, Frankfurt, 2008) hat für diesen Befund den Begriff ‚Postdemokratie‘ geschaffen: Demokratie heute sei nur noch eine Hülle dessen, was Demokratie einst ausgemacht hat. Laut Crouch dominieren Experten und Pressure Groups die politischen Prozesse und demokratischen Institutionen. Das lasse sich in den Feldern Politik, Wissenschaft und Medien auf vielfältige Weise zeigen. Das Ergebnis sei immer das Gleiche: Über allem stehe die Macht der Wirtschaftseliten.
Die Tagung will den Befund einer Postdemokratie nach Crouch bzw. der Degeneration der Demokratie nach Judt kritisch hinterfragen. War die Demokratie des Wohlfahrtsstaates tatsächlich jener „demokratische Augenblick“ (Crouch), der sich einer Postdemokratie entgegensetzen lässt?
Ist die Demokratie im Kapitalismus nicht immer ein Elitenprojekt gewesen, die Macht an Besitz bindet und wirtschaftliche Effektivität über die Partizipation Aller stellt?
Sind Markt und Demokratie Gegensätze?
Wie sieht die Beziehung zwischen Wirtschaft und Staat, zwischen Neoliberalismus und Demokratie heute aus?
Ist die europäische Union ein postdemokratisches Gebilde?
Wie könnte aus der gestutzten Demokratie im Neoliberalismus eine erneuerte Demokratie ohne Neoliberalismus werden?
In der Metadiskussion über die Lage der Demokratie ist auch zu klären, ob die Demokratie nach den einschneidenden Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte und der globalen Probleme der kommenden Jahrzehnte nicht die Legitimität eines neuen Gesellschaftsvertrages benötigt. Die spezifischen Fachdiskussionen drehen sich nicht zuletzt darum, wie in den Teilbereichen – vor allem in der Wirtschaft und in der Wissenschaft – und in den demokratischen Institutionen Demokratie im Alltag so praktiziert werden kann, dass jeder unabhängig von seinem Besitz eine Stimme hat und an Entscheidungen beteiligt wird. Daher die Frage: Brauchen wir neue Konzepte einer Basisdemokratie?
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Die Tagung wird eröffnet am Donnerstag, 1.12.2011, 19h durch ein Referat von Prof. Colin Crouch (University of Warwick) und ein Koreferat von Univ.-Prof.Dr. Anton Pelinka (Central European University of Budapest). Der Vortag von Colin Crouch hat den Titel: Postdemokratie und das Überleben des Neoliberalismus trotz der Krise.
Colin Crouch ist ein Politologe. Sein Buch „Postdemokratie“ (im Englischen: Post-Democracy, in der deutschen Übersetzung 2008 bei Suhrkamp erschienen) gilt bereits als Klassiker in der Diagnose des gegenwärtigen politischen Systems. Nach Crouch haben sich die westlichen Demokratien in den letzten Jahrzehnten schleichend gewandelt: die ökonomisch Mächtigen dominieren die Politik, die politische Elite (auch die europäische Sozialdemokratie) ist dem gefolgt. Stichworte dieser Entwicklung sind: Politikverdrossenheit, Sozialabbau, die Kommerzialisierung öffentlicher Leitungen und die Abwertung staatlicher Autorität. In der heutigen „Postdemokratie“ existieren nach Colin Crouch die demokratischen Institutionen zwar weiterhin (auf dem Papier), pelinkasie werden aber von BürgerInnen und PolitikerInnen nicht länger mit Leben gefüllt. “Demokratie” ist auf diese Weise eine “Angelegenheit geschlossener Eliten” geworden. Crouchs Buch schließt mit Anregungen, wie dieser Trend gestoppt werden kann (>> Homepage von Colin Crouch)
Anton Pelinka ist Professor für Politikwissenschaft und Nationalismusstudien an der Central European University in Budapest. Davor war er seit 1975 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck, sowie Gastprofessor an verschiedenen Universitäten, wie Havard, Stanford, University of Michigan und Universitè Libre de Bruxelles. Pelinkas Schwerpunkte liegen auf den Gebieten Demokratietheorie, Politisches System und Politische Kultur in Österreich und der Vergleichenden Parteien- und Verbändeforschung. (>> Homepage von Anton Pelinka)
Am Freitag wird Bob Jessop einen Vortag halten, der Titel ist: Is democracy still the best political shell for capitalism?
Bob Jessop ist politischer Soziologe am Institute for Advanced Studies an der University of Lancaster. Er beschäftigt sich u.a. mit der Geschichte kapitalistischer Systeme, der Politökonomie des Staates, auch in einzelnen Regionen (wie Großbritannien, Westdeutschland und Ostasien), mit Fragen von Governance und der kulturellen politischen Ökonomie, auch in Zusammenhang mit ökologischen Fragen, sowie mit Sozialtheorie, kritischem Realismus und Komplexitätstheorie. (>> Homepage von Bob Jessop).
Weitere Zusagen von Vortragenden für die Tagung:
- Dario Azzellini (Institut für Soziologie, Johannes Kepler Universität Linz): Von der repressiven Formaldemokratie zur partizipativen und protagonistischen Demokratie – Venezuelas steiniger Transformationsprozess gegen Eliten, Markt und Neokolonialismus
- Ingolfur Blühdorn (Department of Politics, Languages and International Studies, University of Bath): Postdemokratische Wende: Was meint ein soziologisch starker Begriff von Postdemokratie und was kann er leisten?
- Klaus Dörre (Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena): Neue Wirtschaftsdemokratie – ein Konzept gesellschaftlicher Transformation.
- Wolfram Elsner (Lehrstuhl für Wirtschaftsstrukturforschung, Universität Bremen): Koreferat zu Vortrag von Bob Jessop
- Karin Fischer (Institut für Soziologie, Johannes Kepler Universität Linz): Demokratisierung von oben: Von der neoliberalen Diktatur zur Marktdemokratie. Das Beispiel Chile
- Arne Heise (Department Wirtschaft und Politik, Universität Hamburg): Vom ‚Nationalen Keynesianischen Wohlfahrtstaat‘ zum ‚Globalen Nozickschen Minimalstaat‘ oder: Die Transformation der Gesellschaft in der Demokratie und einige offene Fragen
- Marie Kajewski (Forschungsinstitut für Philosophie Hannover): Das unberührte Herz der Bürger. Wie erweckt man politische Leidenschaft?
- Jürgen Nordmann (ICAE, JKU Linz): Die neoliberale Oligarchie. Zum aktuellen Verhältnis von Besitz und Macht in der Demokratie
- David Salomon (Didaktik der Sozialwissenschaften, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt) Der Bürger als Edelmann? Zur Kritik liberaler und postdemokratischer Konstitutionen des politischen Subjekts
http://www.icae.at/wp/tagung-2011-demokratie-welche-demokratie/
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