Ein Aufstand, ein geplanter Putsch, ein verdeckter Putsch und ein neuer Präsidenten
Das nächste Mal übernehmen wir die Macht
Die rebellierenden Indígenas Ecuadors fühlen sich von den Streitkräften betrogen. Diese mißbrauchten das Aufbegehren der Indígenas, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, um eine Regierung nach ihren eigenen Wünschen zu installieren. Nicht wenige Beobachter der Situation befürchten, der neue Präsident Gustavo Noboa sei eine Marionette der Armee. Daß dieser sein gesamtes Regierungsprogramm mit führenden Militärs absprach, bestärkt diesen Eindruck.
Das Staunen war groß, als am 21. Januar etwa 1.500 Indígenas gemeinsam mit einer Gruppe rebellierender Militärs das Parlamentsgebäude der ecuadorianischen Hauptstadt Quito stürmten und den Präsidenten Jamil Mahuad für abgesetzt erklärten. An seine Stelle setzten die Aufständischen eine „Regierung der Nationalen Rettung“, ein Triumvirat bestehend aus dem Oberst Lucio Gutiérrez, dem ehemaligen Vorsitzenden des Obersten Gerichts Ecuadors Carlos Solórzano und dem Vorsitzenden der Konföderation Indigener Nationen Ecuadors (Conaie) Antonio Vargas. Gleichzeitig jubelte auf den Straßen des Landes die Bevölkerung. Die Freude hielt jedoch nur wenige Stunden an. Bereits am 22. Januar übernahm Gustavo Noboa, der ehemalige Vizepräsident Mahuads, dank eines Schachzugs der ecuadorianischen Militärführung die Amtsgeschäfte. Er wurde von einer kurzfristig einberufenen Sitzung des Parlaments in Guayaquil als neuer Präsident bestätigt. Die etwa 10.000 Indígenas, die die Hauptstadt Quito über mehrere Tage besetzt gehalten hatten und den friedlichen Machtwechsel mit ihren Protesten einleiteten, zogen enttäuscht wieder ab.
Die Vorgeschichte
Die Besetzung des Parlaments, des Obersten Gerichtshofes und anderer öffentlicher Gebäude war der Höhepunkt einer Streik- und Protestwelle, die das südamerikanische Land gelähmt hatte. Die Conaie hatte zu Protesten aufgerufen, als die Absicht der Regierung bekannt wurde, die nationale Währung Sucre durch den US-Dollar als offizielles Zahlungsmitel zu ersetzen. Nach der angekündigten Dollarisierung sprachen sich über 70 Prozent der Bevölkerung gegen Präsident Jamil Mahuad aus. Die Menschen fürchteten, daß die Dollarisierung die ecuadorianische Wirtschaft auf Kosten der Mittel- und Unterschichten stabilisieren würde. Dabei sind diese bereits die Leidtragenden der wirtschaftlichen Krisensituation, die sich unter dem Rechtspopulisten Mahuad im letzten Jahr zugespitzt hatte: Die Inflation stieg im Jahr 1999 auf 60,7 Prozent, die Landeswährung wurde um 67 Prozent abgewertet. Fast die Hälfte der Bevölkerung Ecuadors lebt mittlerweile in Armut, über 15 Prozent sogar in extremer Armut. Breite Protestbewegungen hatten bereits im März und im Juli 1999 das Land an den Rand des Kollaps geführt.
Der im Rahmen der Dollarisierung vorgesehene Wechselkurs von 25.000 Sucre für einen US-Dollar reduziert den monatlichen Mindestlohn auf umgerechnet vier US-Dollar. Außerdem wurde die Reform von mehr als dreißig geltenden Gesetzen des Wirtschafts-, Arbeits- und Zivilrechts geplant sowie die Privatisierung des Erdölsektors, der Gesundheitsversorgung und des Erziehungswesens.
Den Protesten der Indianerorganisation Conaie, die als die stärkste und mobilisierungfähigste Organisation des Landes gilt, schlossen sich über 500 Organisationen verschiedener gesellschaftlicher Sektoren an. Die meisten Kleinhändler schlossen ihre Geschäfte, während die Angestellten der Sozialversicherungsanstalt in einen unbefristeten Streik traten und das ecuadorianische Sozialversicherungsinstitut besetzten. Ein Streik im Gesundheitssektor führte zur Schließung der staatlichen Krankenhäuser des Landes, und ein Transportstreik legte eine Woche lang nahezu den gesamten Verkehr lahm.
Angesichts der massiven Proteste verkündete Mahuad den nationalen Notstand. Alle Schulen wurden vorsorglich geschlossen und die Armee übernahm alle Polizeifunktionen. Auf den Straßen des Landes patrouillierten über 35.000 Soldaten und rund um den Regierungspalast und den Kongreß wurden Panzer aufgefahren.
Die Einschüchterungen zeigten jedoch keine Wirkung. Der Conaie-Vorsitzende Antonio Vargas erklärte, der indianische Aufstand sei landesweit unbefristet und man würde nach der schrittweisen Ausweitung von Straßenblockaden im gesamten Land zur Besetzung von öffentlichen Gebäuden, Städten und Banken über¬gehen. Nur einen Tag später begannen die Conaie und verschiedene Bauernverbände mit landesweiten Straßenblockaden und die Erdölarbeiter von Petroecuador sowie die Beschäftigten der drei Raffinerien des Landes schlossen sich dem Streik an. Erdöl ist die wichtigste Devisenquelle des Landes, die staatliche Erdölfirma Petroecuador fördert nahezu 80 Prozent der täglichen 375.000 Barrel.
Parlament des Volkes
Die Conaie kündigte schließlich an, sie werde in den nächsten Wochen gemeinsam mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft die Macht übernehmen und forderte verschiedene internationale Organisationen und Regierungen auf, Beobachter zu entsenden.
Die verschiedenen oppositionellen Organisationen vereinten sich in einem „Parlament des Volkes“ und riefen das gesamte Land zum zivilen Ungehorsam auf. Das alternative Parlament beschloß, selbst die Macht in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Justiz zu übernehmen.
Der Conaie-Vorsitzende Vargas, gewählter Vizepräsident des Parlaments des Volkes, erklärte, das neue Organ sei die rechtmäßige Nationalversammlung und würde eine Regierung der Nationalen Rettung wählen, um die Regierung Mahuads zu ersetzen. Öffentlich rief er das Militär auf, sich der Protestbewegung anzuschließen.
Mindestens 120 mittlere militärische Dienstgrade um Oberst Lucio Gutiérrez, die einer „bolivarianischen“ Strömung innerhalb der Armee im Stile des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez angehören, unterstützten den Aufstand. Ohne Blutvergiessen gelang es Militärs und Indígenas gemeinsam, den Regierungspalast zu stürmen. In der zunächst gebildeten Junta saß auch Oberst Gutiérrez, der im Kampfanzug verkündete: „Wir werden hören, was das Parlament des Volkes fordert und dafür sorgen, daß die Forderungen erfüllt werden.“ Die ecuadorianischen Streitkräfte forderten in einer ersten Stellungnahme die rebellierenden Militärs und die Indígenas auf, ihr Vorhaben zu beenden. Doch schon kurze Zeit später drängte der Generalstab der Armee Mahuad dazu, zurückzutreten, um eine „soziale Explosion“ zu vermeiden. Oberst Gutiérrez räumte seinen Platz im Triumvirat für General Mendoza. Mahuad flüchtete in die chilenische Botschaft und das Volk jubelte.
Die internationalen Reaktionen waren hingegen wenig euphorisch. Der Aufstand und das Triumvirat wurden von den lateinamerikanischen Staaten mit Ausnahme Venezuelas als „Anschlag auf die legitim konstituierte demokratische Ordnung“ verurteilt. Ähnlich reagierte auch die EU. Die USA drohten, daß sich „jedes Regime, welches aus einem nicht verfassunsgemäßen Prozeß hervorgeht, einer politischen und wirtschaftlichen Isolation gegenüber sehen wird, die das ecuadorianische Volk in noch größeres Elend treiben wird“.
Es ist zu vermuten, daß der Druck des US State Department General Mendoza dazu brachte, nur drei Stunden nach seiner Konstituierung das Triumvirat für aufgelöst zu erklären und die Machteinführung des ehemaligen Vizepräsidenten Noboa vorzubereiten. In Washington bestätigten Regierungsmitglieder, im Vorfeld Gespräche mit Mendoza geführt zu haben.
Der neu eingesetzte Präsident Noboa verkündete, alle Pläne der Mahuad-Regierung, die Dollarisierung mit eingeschlossen, weiter zu verfolgen. So schwanden auch international plötzlich alle verfassungsrechtlichen Bedenken und die USA sicherten prompt ihre volle Unterstützung zu.
Von Mendoza aufgefordert, „um der Demokratie Willen“ das Parlament zu verlassen, räumte Vargas sichtlich konsterniert mit seinen Gefolgsleuten friedlich das Parlament und erklärte, die Bewegung sei von den Militärs verraten worden. Die Vertreter der Conaie kündigten jedoch an, sie würden nach der Rückkehr in ihre Gemeinden erneut mit Straßenblockaden den Verkehr und die Lebensmittelversorgung der Großstädte Quito und Guayaquil lahm legen - der Kampf habe erst begonnen. Vargas rief zum zivilen Ungehorsam gegenüber dem neuen Präsidenten auf.
Trotz vorheriger Zusicherung der Straffreiheit durch den neuen Präsidenten Gustavo Noboa wurde Oberst Gutiérrez am Morgen des 22. Januars vom militärischen Geheimdienst verhaftet und an einen unbekannten Ort verschleppt. Die Generalstaatsanwaltschaft forderte mittlerweile das höchste Gericht auf, gegen alle an dem Umsturzversuch Beteiligten Anklage zu erheben.
Das Karussell der Schuldzuweisungen ist mittlerweile im vollen Gange. Das Eingreifen der Armee, so Mendoza, sei notwendig gewesen, da Mahuad vorgehabt hätte, sich nach dem Vorbild Fujimoris in Peru zum „Diktator zu erklären“. Dieser und einige andere Politiker des Landes behaupteten hingegen, daß die Militärs mit dem Putsch die Macht ergreifen wollten. Der ehemalige Verteidigungsminister José Gallardo wiederum erklärte, Mendoza habe die Indígenas, die alte Regierung und die Streitkräfte betrogen, während der Bürgermeister von Quito den ehemaligen Richter Solórzano beschuldigte, einen „linksradikalen Putsch“ geplant zu haben. Am wahrscheinlichsten erscheint die Version einer geplanten Machtübernahme rechter Militärs unter Mendoza, die angesichts des Drucks aus den USA im letzten Moment einen Rückzieher machten. Der Conaie-Vorsitzende Vargas bestätigte, daß General Mendoza bereits ein Schreiben vorbereitet hatte, in dem eine autoritäre Regierung unter seiner Führung proklamiert wurde.
Vargas versicherte auch, daß die Aktionen der Conaie weder mit dem Generalstab der Armee noch mit Oberst Gutiérrez abgesprochen waren. Der Vorsitzende der Conaie warnte Noboa, daß es „ihm sehr schlecht gehen werde“, wenn er die Politik der Privatisierung, Dollarisierung und Zahlung der Auslandschulden seines Vorgängers weiter verfolge: „Wenn diese Regierung das gleiche macht wie Mahuad, wird die Bevölkerung sich erheben und wir werden in drei bis sechs Monaten eine noch größere soziale Explosion oder sogar einen Bürgerkrieg erleben“. Das nächste Mal, fügte er hinzu, würden die Indígenas die Macht übernehmen, friedlich natürlich.