Der älteste Konflikt Lateinamerikas forderte bisher über 100 000 Opfer
Vergessene Kriege: Ein Drittel Guatemalas gilt als Kampfgebiet
Die guatemaltekische Regierung und die Guerillaorganisation Revolutionäre Nationale Einheit Guatemalas (URNG) haben kurz vor Ostern ein Abkommen zur Überprüfung der Menschenrechtslage unterzeichnet. Dieser ersten wichtigen Übereinkunft nach der Aufnahme von Friedensgesprächen vor drei Jahren soll im Dezember ein Friedensvertrag folgen. Doch der von Regierung und Militärs verbreitete Enthusiasmus darüber wird von Menschenrechtsorganisationen nicht geteilt.
In Guatemala führt das Militär seit 33 Jahren einen unbarmherzigen Krieg gegen die Bevölkerung. Ein Drittel der neun Millionen Einwohner befindet sich im In- oder Ausland auf der Flucht. Über 100 000 Menschen wurden getötet, ein Großteil von ihnen Indígenas. Die Nachfahren der Mayas werden vom Militär als Verbündete der Guerilla betrachtet. Immer wieder werden sie als "Untermenschen" bezeichnet, die es "auszurotten" gelte.
Die Regierung steckt 45 Prozent des Staatshaushaltes in Sicherheit und Antiguerillakampf. Die USA gehören zu den wichtigsten Geldgebern. Selbst als Präsident Carter 1977 die Militärhilfe einstellte (Reagan nahm sie wieder auf), konnten die Militärs ihren Krieg fortsetzen u.a. mit Hilfe von Argentinien, Taiwan, Südkorea und Israel. Die BRD spendete allein Ende der 80er Jahre 10,6 Millionen DM für Polizeihilfe. Zusätzlich zu Armee, Polizei und Todesschwadronen bildete die Regierung paramilitärische Zivilpatrouillen. Sie bestehen vornehmlich aus Indígena-Bauern, die oft zur Teilnahme gezwungen werden.
Die Lebenssituation der Landbevölkerung, insbesondere der indianischen, ist katastrophal. Gesundheits- und Schulsystem sind kaum vorhanden. Über 90 Prozent der Indígenas können weder lesen noch schreiben. 78 Prozent der Bevölkerung verfügen nur über 10,4 Prozent der Agrarfläche. 82 Prozent der Bewohner leben derzeit in extremer Armut.
In Guatemala waren die Indígenas erst 1945 von der Zwangsarbeit befreit worden. Unter den Präsidenten Juan José Arévalo und Jacobo Arbenz wurden zudem eine Sozialgesetzgebung erlassen, strengere Bestimmungen für ausländisches Kapital eingeführt, Ländereien der United Fruit Company enteignet, in einer Landreform 16 Prozent des Nutzlandes an Landlose verteilt. Besonders die Enteignungen stießen bei den traditionellen Eliten auf Mißfallen. Großgrundbesitzer, die katholische Kirche, große Teile der Armee und die Bourgeoisie stellten sich offen gegen die Regierung. Im Juni 1954 startete eine Söldnertruppe von Honduras aus ihre Angriffe auf Guatemala. Das guatemaltekische Heer lief zum größten Teil über, im Juli übernahm der von den USA auserkorene Oberst Castillo Armas die Macht.
Guatemala wurde danach bis 1986 fast ununterbrochen von Militärdiktaturen regiert. Die Militärs nutzten ihre Position, um auch ökonomische Macht anzuhäufen. Regierungswechsel haben ihre Ursache fast nur in Differenzen innerhalb des rechten Militärapparates.
Nach er Beseitigung der Regierung Arbenz wurden soziale Errungenschaften wieder rückgängig gemacht. Die Armee löste eine große Repressionswelle aus. Dennoch fanden ständig Streiks und Demonstrationen statt. Verschiedene Guerillaorganisationen nahmen den Kampf auf. Die Rebellenstreitkräfte (FAR) und das Guerillaheer der Armen (EGP) begannen 1972 in den Bergen des Nordostens eine Offensive. Das Armenheer, in dessen Reihen zwei Schwestern der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú kämpfen, orientierte sich an der kubanischen Revolution und Che Guevara.
Nach einer Massendemonstration am 1. Mai 1980 unter dem Motto "Auf zum Sturz der Regierung und zur Errichtung einer demokratischen, volksnahen und revolutionären Regierung" wurden hundert Teilnehmer der Demonstration von Sicherheitskräften ermordet. Die Militärs begannen mit der physischen Vernichtung der Opposition und furchtbaren Massakern unter der Landbevölkerung. Die gesamte Opposition ging in die Illegalität oder ins Ausland. Innerhalb kurzer Zeit flohen über 100 000 Menschen vor dem Terror nach Mexiko.
1982 haben sich die vier in Guatemala operierenden Guerillagruppen das Guerillaheer der Armen (EGP), die Organisation des Volkes in Waffen (ORPA), die Guatemaltekische Arbeiterpartei (PGT) und die Rebellenstreitkräfte (FAR) zur URNG vereinigt. Die Gesamtstärke der Guerilla wird mit 2 000 bis 6 000 Kämpfern angegeben.
Die Befreiungsorganisationen bestehen zu 60 bis 80 Prozent aus Indígenas. Die Guerilla ist fast im gesamten Land präsent, selbst in der Region rund um die Hauptstadt, wo sie immer wieder die Verkehrswege sperrt. Weit über ein Drittel des Territoriums Guatemalas sind Kriegsgebiet. Nach Ansicht von politischen Beobachtern werden die Auseinandersetzungen anhalten, solange die Wurzel des Konflikts, die ungerechte Landverteilung und die Diskriminierung der Bevölkerungsmehrheit der Indígenas, fortgesetzt wird.
Die vor drei Jahren begonnenen Friedensgespräche zwischen URNG und Regierung waren 1993 zunächst bgebrochen worden, weil sich die Regierung weigerte, über eine Beendigung der Menschenrechtsverletzungen zu verhandeln.
Unter dem neuen Präsidenten Ramiro De León Carpio wurden die Verhandlungen zwar wieder aufgenommen, doch die Regierung verschleppte sie alles sah nach einem Scheinmanöver aus, um eine Verurteilung durch die UNO-Menschenrechtskommission zu vermeiden.
Dabei hatten sich viele Guatemalteken Hoffnungen gemacht, als der ehemalige Menschenrechtsprokurator De León Carpio die Regierungsgeschäfte übernahm. Doch heute zählen unabhängige Menschenrechtsgruppen mehr Ermordungen und Verschleppungen als jemals zuvor. Deren Zahl hat sich 1993 gegenüber dem Vorjahr auf 13 339 verdoppelt. Deshalb der Pessimismus der Menschenrechtsorganisationen. Außerdem verweigern die Militärs nach wie vor die Einsetzung einer "Wahrheitskommission" zur Untersuchung ihrer bisherigen Greueltaten.
Ob die Friedensgespräche schließlich zu einem Erfolg führen, läßt sich schwer sagen. Doch die URNG ist militärisch nicht zu besiegen, und die Aktivität der Volksbewegungen ist besonders seit Rigoberta Menchú 1992 den Friedensnobelpreis erhielt im Steigen begriffen. Dies wurde u. a. deutlich, als der neue Präsident Ende Januar über Verfassungsänderungen abstimmen ließ. 84 Prozent boykottierten den Urnengang, 20 Prozent der abgegebenen Stimmzettel waren ungültig.