Die "bolivarianische Revolution" des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez hat begeisterte Freunde unter den Armen und erbitterte Feinde unter den Reichen des Landes
Unter der Flagge Bolivars
Auf dem Platz gegenüber dem Rathaus von Caracas haben Basisorganisationen ein "rincón caliente" ausgerufen, eine "heiße Ecke". Jeden Tag, von morgens bis abends, stehen dort bis zu 200 Menschen in kleinen Gruppen und diskutieren über die Situation im Lande und außerhalb seiner Grenzen. Ana verkauft derweil Kaffee aus zwei großen Thermoskannen: klein, schwarz und süß, so wie ihn die Venezolaner mögen, eine Art Espresso in winzigen Plastikbechern. Ana ist eine robuste Frau Mitte Fünfzig mit kurz geschnittenem grauem Haar. Sie trägt ein Stirnband, das sie als Anhängerin von Präsident Hugo Chávez ausweist. Als Kind, erzählt sie, sei sie mit ihren Eltern nach Venezuela eingewandert. Trotz Armut wolle sie um nichts in der Welt zurück nach Spanien. "Hier haben wir wenigstens einen anständigen Präsidenten!" erklärt sie mit einem Strahlen im Gesicht. José Maria Aznar dagegen, Spaniens Regierungschef, ist in ihren Augen ein Verbrecher: "Spanien hat im April 2002 die Putschisten in Venezuela unterstützt!"
Felix Antillano arbeitet im Aluminiumwerk Alcasa in Ciudad Guayana. Das liegt im ostvenezolanischen Bundesstaat Bolivar. In keiner einzigen Fabrik seiner Stadt, erzählt Felix stolz, sei der Streikaufruf der Oppositionsgewerkschaft CTV um die vergangene Jahreswende befolgt worden. "Das war klar, denn die Führung der CTV war nur durch einen Wahlbetrug an die Spitze des Gewerkschaftsverbandes gelangt. Die Stimmen aus Bolivar, dem größten aller Bundesstaaten, wurden gar nicht gezählt. Vor dem Obersten Wahlrat ist seit fast einem Jahr eine Klage deswegen anhängig." Felix selbst arbeitet für die Gewerkschaft Sintralcasa, der fast 90 Prozent der Beschäftigten seines Werkes angehören. Sintralcasa ist dem im April neu gegründeten Dachverband UNT (Nationale Arbeiterunion) beigetreten. Warum? "Die CTV ist völlig korrupt, hat den Putsch unterstützt und mit den Unternehmern gemeinsame Sache gemacht. Sie vertritt schon lange nicht mehr die Interessen der Arbeiter", wettert Felix.
Die UNT sei allerdings keineswegs "chavistisch", betont er. Eine Gewerkschaft müsse, auch wenn sie den von der Regierung eingeschlagenen Weg unterstützt, unabhängig sein. Nur so könne sie die Interessen der Arbeiter vertreten. "So ist das im Fall der UNT", gibt sich Felix überzeugt.
Der Putschversuch im April letzten Jahres und der Unternehmerstreik haben viele Menschen in Venezuela aufgeweckt. Viele Organisationen sind neu entstanden oder rasend gewachsen. Die Unterstützung für Chávez und die "bolivarianische Revolution" scheint trotz wachsender ökonomischer Probleme größer als noch vor einem Jahr. Ob die Opposition die laut Gesetz für ein Referendum gegen Chávez notwendigen zwei Millionen Unterschriften zusammen bekommt, scheint daher fraglich. Dass sie eine Mehrheit in einer Volksabstimmung erzielt, ist noch weniger wahrscheinlich. Durch die Sabotage der Erdölproduktion und die absichtliche Zerstörung der Wirtschaft hat sie sich selbst diskreditiert. Und nachdem die Verwicklung oppositioneller Militärs in Morde und Bombenanschläge bekannt wurde, nehmen selbst Angehörige der Oberschicht Abstand. Mittlerweile organisieren sich auch Teile der Mittelschicht in Vereinigungen, die den bolivarianischen Prozess unterstützen. "Clase media en positivo" nennen sich ihre Zirkel.
Die von Medienmogul Gustavo Cisneros kontrollierten privaten Fernsehsender hämmern dennoch unaufhörlich. Alle 20 Minuten der gleiche Spot: Saddam Hussein und jubelnde Massen - Schnitt - USA-Truppen marschieren in Irak ein - Schnitt - Chávez und jubelnde Regierungsanhänger - noch ein Schnitt und der Schriftzug "Jetzt holen wir dich". In Talkshows bezweifeln Psychologen die Zurechnungsfähigkeit des Präsidenten, während bekannte Serienstars "die Diktatur in Venezuela" beklagen.
Chávez ist an allem Schuld, in erster Linie natürlich an der wirtschaftlichen Misere, die nicht unwesentlich durch Kapitalflucht und Einnahmeausfälle infolge Sabotage der Erdölförderung verursacht wurde. "So schlimm ist das mit Chávez", schimpft eine goldbehängte Endfünfzigerin, weil am Flughafen die Klimaanlage nicht funktioniert. Die Ursache: Venezuela erlebt die schlimmste Dürre der vergangenen Jahrzehnte, Wasser ist knapp und in öffentlichen Gebäuden wurde daher der Betrieb der Klimaanlagen eingeschränkt, da sie sehr viel Wasser verbrauchen.
Wohnviertel der Oberschicht wirken wie im Kriegszustand: Stacheldraht, Gitter, Kameras und Wachposten. Straßen sind mit Fässern blockiert, die mit Beton ausgegossen wurden. Das ist die Angst vor den Armen. "Chávez los tiene locos" (Chávez macht sie verrückt), rufen und singen bolivarianische Demonstranten.
Die größte Unterstützung hat Chávez in der Tat unter den Armen, und die machen 80 Prozent der Bevölkerung Venezuelas aus. Ihre Stadtteile ziehen sich die Hänge um Caracas hoch. Eines dieser Armenviertel ist "23 de enero", so genannt zur Erinnerung an den Sturz des Diktators Marco Perez Jímenez am 23. Januar 1958. Den Kern des Viertels bilden einige Wohnblocks rund um einen riesigen Hof - ein Projekt des Stararchitekten Le Corbusier. Im Laufe der Jahrzehnte ist der Stadtteil jedoch weit darüber hinaus gewachsen, kleine Häuschen wuchern in alle Richtungen, und vor allem im höher gelegenen Teil reihen sich winzige Hütten aneinander, die aus allen erdenklichen Materialien gebaut wurden.
Das Leben spielt sich indes auf dem zentralen Platz ab. Zwischen Wandgemälden von Che Guevara, den Zapatisten und Simon Bolivar wird gespielt, getrunken und diskutiert. Imbissbuden und provisorische Autowerkstätten haben sich hier etabliert, kleine Läden und - das Lokal der ältesten Basisorganisation des Viertels, der "Coordinadora Simon Bolivar". An deren Wand hängt eine große Fahne, die den lateinamerikanische Befreier als Teil der Bauernbevölkerung zeigt. "Wir sagen dem Volk nicht, was es tun soll, wir lernen vom Volk", ist darauf zu lesen.
Die Coordinadora unterstützt den Bolivarianischen Prozess und organisiert soziale, politische, sportliche und kulturelle Aktivitäten. Das Verhältnis zu den Regierungsparteien ist gut, doch die Organisation betont ihre Unabhängigkeit: "Uns gab es vor Chávez und es wird uns nach Chávez geben", betont Omar, ein kräftiger Mittvierziger. Während der 47 Stunden des Putsches im April 2002 nahmen Geheimpolizisten, die mit den Putschisten zusammenarbeiteten, über 600 Hausdurchsuchungen in diesem Viertel vor. Verfolgte Aktivisten und Regierungsmitglieder hatten hier Unterschlupf gefunden. Die Bewohner bildeten schließlich einen unübersehbaren Zug zum Präsidentenpalast.
Im "23 de enero" wurde Anfang Juni die erste von 57 landesweit geplanten "Boticas Populares" eröffnet. Dort können die Armen Venezuelas von Ärzten des kostenlosen öffentlichen Gesundheitssystems verschriebene Arzneimittel zu bedeutend ermäßigten Preisen kaufen.
Im höher gelegenen Teil des Viertels liegt eine festungsgleiche Kaserne. Von hier aus kann man die gesamte Innenstadt überblicken, den Präsidentenpalast und seine Höfe eingeschlossen. Kein Wunder, dass die meisten Armeerebellionen und Staatsstreichversuche der vergangenen 100 Jahre von dieser Kaserne ausgingen - auch der von Hugo Chávez 1992 versuchte Putsch, der sich gegen den heute wegen Korruption angeklagten Carlos Andres Perez richtete.
Vor der Kaserne haben Bewohner des Viertels einen schmalen Streifen begrünt und "Parque Che Guevara" getauft. Ich frage am Kasernentor, ob ich fotografieren darf. Der Kommandant erklärt, dafür sei eine Genehmigung des Verteidigungsministeriums erforderlich. Der freundliche Versuch, die Erlaubnis telefonisch einzuholen, scheitert jedoch daran, dass die Verantwortlichen am frühen Abend nicht mehr erreichbar sind. Die wachhabenden Soldaten versichern jedenfalls: "Wir in dieser Kaserne werden niemals zulassen, dass der Prozess rückgängig gemacht wird. Wir stehen auf der Seite des Präsidenten und des Volkes."
(ND 02.08.03)
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