VENEZUELA Nachdem Präsident Chávez in der Erdölwirtschaft Terrain zurückgewonnen hat, wollen seine Gegner die Proteste in Caracas noch radikalisieren
Selbst wenn Blut fließt
Die New York Times gibt in einem Editorial zum Jahreswechsel der venezolanischen Opposition einen ebenso aufschlussreichen wie wohlgemeinten Rat, sie solle die Proteste zunächst einmal ruhen lassen und - ganz verfassungskonform - auf ein Referendum im August hinarbeiten. Unter dem Titel Venezuela am Rande des Abgrunds heißt es, politische Führer, die bereits seien, "das Land zu ruinieren, um nicht einige Monate warten zu müssen", hätten das Vertrauen der Venezolaner nicht verdient. Schließlich sei Hugo Chávez "ein Autokrat, aber kein Tyrann". Man sollte ihn nicht durch einen Streiks, der nur die Meinung eines Teils der Gesellschaft reflektiere, zur Kapitulation zwingen wollen.
Eduardo Mendoza, den Chávez feindlichen Gouverneur des Bundesstaates Miranda, lässt das unbeeindruckt, in einem Anfall von affektiertem Wahnsinn will er nun erst recht "in Caracas aufmarschieren, koste es, was es wolle - selbst wenn Blut fließt". Zuletzt war am 11. April 2002 eine oppositionelle Demonstration vor dem Präsidentenpalast Miraflores "aufmarschiert", um dort eine Schießerei auszulösen, die als Rechtfertigung für den anschließenden Putsch diente (der nach 48 Stunden zusammenbrach). Das war vor neun Monaten, die Lage schien damals dramatisch, aber weniger explosiv als im Augenblick - selbst wenn Hugo Chávez leichte Terraingewinne verbuchen kann, nicht zuletzt dank des Treibstofftransfers aus Brasilien.
Auch das Urteil des Obersten Gerichtshofes, wonach die Arbeit im Erdölunternehmen PDVSA unverzüglich wieder aufzunehmen sei, bleibt keine symbolische Arabeske, mit der die verfassungsmäßige Ordnung ein verzweifeltes Lebenszeichen gibt. Die Regierung kann sich autorisiert fühlen, bestreikte Öltanker von der Nationalgarde besetzen und für die Blockade des Schiffsverkehrs zuständige Kapitäne und Offiziere in Haft nehmen zu lassen - und sie tut es. Im Management von PDVSA selbst gibt es Entlassungen in Größenordnungen (116) - und erste Beförderungen (26).
Doch bleibt Chávez bei allen Schritten ostentativ unter seinen Möglichkeiten. Linda Ron, eine charismatische Führerin der Bolivarianischen Zirkel (s. Freitag 52/2002) hatte nach dem Entscheid der Obersten Richter gefordert, jeder Funktionär aus dem Öl-Business, der sabotiere, müsse sofort festgesetzt werden. Doch Linda Ron wurde nicht erhört. "Ich habe nie einen zahmeren Präsidenten als diesen erlebt", klagt sie in einem Interview, "Säuberungen in den hohen Ränge unserer Ölwirtschaft, die sich als Rammbock missbrauchen lässt, um eine gewählte Regierung zu stürzen", lägen auf der Hand. Und Antonio Urribarrí, Chávez´ Ombudsmann für Menschenrechtsfragen, sekundiert, es gäbe viele Beschwerden streikunwilliger Erdöl-Arbeiter, die von ihren Vorgesetzen massiv bedroht worden seien - was sage man denen?
Nicht nur die jakobinische Basis der "Bolivarischen Revolution" drängt zum Handeln. Der Gouverneur des Bundesstaates Sucre, Ramón Martínez, holt weit aus und beschuldigt die Ölmultis Shell, Mobil Oil, Exxon Mobil und Philipps, am Komplott gegen Hugo Chávez beteiligt zu sein: Er sei persönlich Zeuge der Übernahme eines Tankers durch die Streitkräfte gewesen und habe dabei im Bordcomputer Beweise für Zahlungen von Millionen Dollar an Tankerkapitäne gefunden, die offenbar in Streiklaune versetzt werden sollten. Jeanne Miller, Exxon-Sprecherin in Caracas, bestätigt indirekt die Vorwürfe, leider könne ihr Unternehmen zur Zeit "keine Lieferung venezolanischen Öls akzeptieren, so lange ›die Situation höherer Gewalt‹ anhalte, die ja das PDVSA-Management selbst verkündet habe". Sie vergisst zu erwähnen, dass diese Erklärung ursprünglich ergangen war, um die vom Streik verursachte Nichteinhaltung von Lieferfristen zu begründen und Vertragsstrafen zu meiden. Parallel zu diesem Schlagabtausch wird die Aufzeichnung eines makabren Telefonats veröffentlicht, bei dem ein oppositioneller General und der Kapitän eines Öltankers die Möglichkeit besprechen, mehrere Hunderttausend Tonnen Rohöl in die Binnengewässer der Lagune von Maracaibo zu leiten, "um die Regierung zu beschäftigen". Der Tanker wird kurze Zeit später von der Armee übernommen, der Kapitän verhaftet.
Anfang Januar liegt Venezuelas Erdölproduktion wieder bei einem Tageswert von 1,5 Millionen Barrel, damit wird das mit der OPEC vereinbarte Limit von 2,8 Millionen Barrel nach wie vor bedenklich unterschritten. Alí Rodríguez, regierungstreuer PDSVA-Direktor und Ex-OPEC-Vorsitzender, spricht von einer "verzögerten Rückkehr zum Normalbetrieb", was immer das heißen mag. Eine Förderung von mehr als zwei Millionen Barrel täglich werde frühestens wieder Mitte des Monats erreicht, die Verluste des Unternehmens lägen bisher bei 1,3 Milliarden Dollar.
Was in dieser Situation wirklich ins Gewicht fällt, ist die Haltung Brasiliens unter seinem neuen Präsidenten - Lula möchte Venezuela für den gemeinsamen südamerikanischen Markt MERCOSUR gewinnen (s. Artikel oben) und denkt laut über mögliche Joint Ventures zwischen dem staatseigenen brasilianischen Erdölunternehmen PETROBRAS und dem venezolanischen Pendant PDVSA nach. Und er will die bereits begonnenen Treibstofflieferungen Brasiliens an Venezuela fortsetzen, um dessen Bedarf zu decken.
Unmittelbar vor Lulas Vereidigung am 1. Januar hielt sich bereits Marco Aurelio García, sein Berater für lateinamerikanische Angelegenheiten, in Caracas auf, um über eine Lösung der Krise zu sprechen. Inoffiziell sondierte Aurelio auch mit den Regierungen Deutschlands, Frankreichs, Chiles, Kolumbiens und Russlands, um eine "Gruppe befreundeter Staaten" ins Leben zu rufen, die eine - bisher erfolglose - Vermittlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) flankieren könnte. Erwartet laut ist der Schrei des Unwillens aus Caracas, aus dem Munde des ungekrönten Führers der Anti-Chávez-Fronde, Carlos Ortega, - er dirigiert zugleich den Gewerkschaftsdachverband CTV: Die Regierung Lulas sei ein "Büttel des Hugo Chávez" und versuche sich gleich zu Beginn ihrer Amtszeit an einer "inakzeptablen Einmischung in interne Angelegenheiten" anderer Staaten. Lula kontert kühl, die Treibstoff-Lieferungen habe noch das inzwischen geschiedene Kabinett seines Vorgängers Henrique Cardoso vereinbart - und aufgenommen.
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