Brasiliens Präsident kündigt Maßnahmen gegen Landarmut an
Cardosos "Agrarreform"
Brasiliens Präsident Fernando Enrique Cardoso hat schon vor Beginn seiner Amtszeit Anfang des Jahres den Landarbeitern große Versprechungen gemacht. Sein Vorhaben, binnen vier Jahren 280 000 Familien anzusiedeln, nennt der 63jährige Soziologieprofessor großspurig "Agrarreform".
Dies ist im größten Land Lateinamerikas ein magisches Wort. Immerhin stellen die etwa 23 Millionen Landarbeiter 42 Prozent der ökonomisch aktiven Bevölkerung. Und die riesigen landwirtschaftlich genutzten Flächen sind in den Händen einiger weniger. Einem Prozent der Grundbesitzer gehören 46 Prozent der Böden, während viereinhalb Millionen Familien keinerlei Land besitzen und über keine regelmäßigen Einkünfte verfügen. Nach Untersuchungen aus dem Jahre 1993 lebt gar die Hälfte der Landbevölkerung unterhalb des zu niedrig festgelegten offiziellen Existenzminimums. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung beträgt ihr Anteil etwa ein Viertel.
Ohne eine gerechtere Verteilung lassen sich die über Jahrhunderte gewachsenen oligarchischen Strukturen in Brasiliens ländlichen Gebieten nicht zerschlagen. Doch jene Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft, die die Politik des Präsidenten Cardoso und der aus seiner sozialdemokratischen Partei (PSDB) sowie konservativen Kräften bestehenden Regierung unterstützen, haben keinerlei Interesse an einer Agrarreform. Man verfolgt statt dessen eine neoliberale Wirtschaftspolitik gemäß den Wünschen von Internationalem Währungsfonds und Weltbank.
Kein Wunder also, daß der Regierungshaushalt für das Jahr 1995 auch nur 874 Millionen Reales (etwa eine Milliarde Dollar) für Agraransiedlungen und lediglich 100 000 Reales für Entschädigungen ausweist. Damit können aber statt der im ersten Jahr von Cardoso angepeilten 40 000 nicht einmal 15 000 Familien neuangesiedelt werden.
Derweil verschlimmert sich die allgemeine Lebenssituation in Brasilien immer mehr. Zwar erhöhte sich das Bruttoinlandsprodukt 1994 um 5,6 Prozent, doch die Einkommensschere klafft immer weiter auseinander. Selbst in der wohlhabendsten Industriemetropole des Landes, Sáo Paolo, sind etwas mehr als ein Viertel der 16 Millionen Einwohner gezwungen, mit umgerechnet weniger als 57 US-Dollar im Monat zurechtzukommen. Zweieinhalb Millionen Menschen haben gar nur etwa 16 Dollar zur Verfügung. Damit ist die Zahl der in völliger Armut lebenden 1994 um nahezu 50 Prozent angestiegen.
In den ländlichen Gebieten ist sogar Sklaverei nach wie vor kein seltenes Phänomen. Soziologieprofessor José de Souza von der Universität Sáo Paolo weist daraufhin, daß in den letzten 20 Jahren in Brasilien 85 000 Fälle von Sklaverei angezeigt wurden; in 40 000 Fällen waren Kinder betroffen.Insgesamt werden laut de Souza etwa drei Millionen Kinder zwischen zehn und 14 Jahren und viereinhalb Millionen Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren als Billigarbeitskräfte auf dem Land ausgebeutet. Die meisten arbeiten bei der Orangen- und Zuckerrohrernte, der Sisalproduktion oder Kohleförderung und erhalten lediglich einen Hungerlohn - wenn sie überhaupt bezahlt werden.