Nach Norden: Migration von Mexiko in die USA
ber 3.000 Kilometer ist sie lang, die Grenze zwischen Mexiko und den USA. Jährlich versuchen etwa eine Million Menschen, diese Grenze "illegal" von Nord nach Süd zu überwinden in der Hoffnung, einer auswegslosen ökonomischen und repressiven politischen Situation durch Migration zu entkommen. Viele von ihnen sind MexikanerInnen. Aber auch für zigtausende EinwohnerInnen anderer lateinamerikanischer Staaten ist Mexiko zwangsläufig Durchgangsstation auf dem Weg nach Norden.
Die AutorInnen des von Dario Azzellini und Boris Kanzleiter herausgegebenen vorliegenden Bandes skizzieren ein umfassendes und aktuelles Bild der Situation auf beiden Seiten der Grenze. Neben der konkreten Untersuchung der Aufrüstung der Grenzsicherungsanlagen und der Verschärfung migrantInnenfeindlicher Gesetzgebung in den USA werden soziale Migrationsursachen, die Entwicklung der Binnenmigration in Mexiko und die Lebens- und Arbeitsbedingungen von MigrantInnen in den USA diskutiert.
"Das beste Spiel der Welt"
Die neoliberalen Umstrukturierungsprozesse in Mexiko, die 1994 zur Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA führten, beschleunigen die Dynamik von Migrationsprozessen; bilden die MigrantInnen doch ebenso ein ideales Arbeitskräftereservoir für die für den US-Markt produzierenden Billiglohnfabriken, die "Maquiladoras", im Norden Mexikos wie auch für bestimmte Bereiche der Landwirtschaft und für den Dienstleistungssektor in den USA.
Die Militarisierung der Grenze dient dabei vor allem der Regulierung der Anzahl illegalisierter MigrantInnen in den USA und nicht dazu, die Einwanderung prinzipiell zu stoppen. Was nicht bedeutet, daß diese Militarisierung weniger repressiv wäre: Allein 1998 starben knapp dreihundert Menschen bei dem Versuch, die Grenze "illegal" zu überqueren. "Wir haben das größte, beste Spiel der Welt hier und werden dafür auch noch bezahlt", beschreibt ein Angehöriger der US-amerikanischen "Border Patrol" begeistert seinen Job. Dieser Satz ist auch Auswuchs dessen, was Kriminalisierungskampagne und Einwanderungspolitik in den USA seit Jahren sorgfältig im öffentlichen Diskurs verankert haben: Das - auch hierzulande hinreichend bekannte Phantasma von Migration als Bedrohung der "inneren Sicherheit"; konsequent bezeichnen staatliche Stellen dementsprechend MigrantInnen als "Aliens" oder sogar als "Illegal Aliens". SozialarbeiterInnen, ErzieherInnen und medizinisches Personal sind angehalten, jedeN, die oder den sie verdächtigen, illegal im Land zu sein, den staatlichen Behörden zu melden. Auch die Zunahme sogenannter "Haß-Verbrechen" gegen MigrantInnen in den letzten Jahren ist in diesen Zusammenhang einzuordnen.
Aber die zunehmende Migration hat noch eine andere Seite: Sie trägt zur Schaffung eines sogenannten "Transnationalen Sozialen Raums" in den USA bei, also einer immer größer werdenden Latino-Community, die ihren eigenen "sozialen und kulturellen Kosmos" konstruiert, der es MigrantInnen leichter macht, den Schritt über die Grenze zu schaffen, und die zugleich die Härten bei der Ankunft im Einwanderungsland abfedert.
"Magischer Urbanismus"
Der Stadtsoziologe Mike Davis beschreibt in seinem Beitrag die "Lateinamerikanisierung der US-Metropolen" und die zunehmend wichtigere Rolle, die lateinamerikanische MigrantInnen in den verschiedenen sozialen Kämpfen einnehmen. So sei es beispielsweise der zweisprachigen "Busriders Union" in Los Angeles gelungen, Hunderte von NutzerInnen des öffentlichen Nahverkehrs gegen staatlichen Rassismus zu mobilisieren. Ob aber die neuentstehende städtische Latino-Mehrheit in den US-Metropolen Hoffnungsträger für eine städtische Erneuerung darstellt oder nur "das ruinöse Erbe schon längst vollzogener Niederlagen antritt", das, so Davis, ist noch offen.
"Nach Norden" ist ein äußerst informativer Sammelband, der die Grenze zwischen Mexiko und den USA aus verschiedenen Perspektiven untersucht, beschreibt und analysiert, und gerade das macht ihn lesenswert, auch wenn die AutorInnen offenbar streckenweise mehr um die wissenschaftliche correctness und weniger um die Lesefreundlichkeit besorgt sind. Die manchmal recht trockenen sozioökonomischen und historischen Hintergrundberichte werden aber durch Interviews mit MigrantInnen und/oder AktivistInnen sozialer Bewegungen und durch zahlreiche Kurzdarstellungen einzelner Projekte und Ereignisse konkreter greifbar. Sehr informativ auch der ergänzende Serviceteil mit Adressen und kommentierter Literaturliste zum Thema. Wer bereit ist, etwas Zeit und Mühe zu investieren, erhält mit diesem Band die Gelegenheit, sich über den Migrationsprozeß zwischen Mexiko und den USA zu informieren und kann damit auch die Analyse von Entwicklungen hierzulande vertiefen - wie z.B. die Grenzpolitik der BRD an den Grenzen zu Polen und der Tschechischen Republik.