Auf den Gipfel des Terrors folgen neue Massenmobilisierungen
Genua war nur der Anfang
Ein Toter, Hunderte von Verletzten, zahllose Festgenommene und Inhaftierte - das ist die Bilanz des G8-Gipfels von Genua. Anwälte hatten tagelang keinen Zugang zu Inhaftierten, ebenso erging es unabhängigen Ärzten, die Verletzte in Gefängnissen aufsuchen wollten. In Polizeifahrzeugen, Kasernen und Gefängnissen wurde systematisch gefoltert. Der 33-jährige Sozialarbeiter Marc L. aus Berlin, mit großen dunkelvioletten Flecken bedeckt, berichtet über Polizeiübergriffe in der zum Sammellager umfunktionierten Kaserne Bolzaneto: "So viel Gewalt habe ich mein ganzes Leben noch nicht gesehen. Die ziehen sich die schwarzen, gepolsterten Handschuhe an und hören eine Stunde lang nicht mehr auf zu schlagen."
Über Tage wurden die Inhaftierten geschlagen, Polizisten drückten ihre Zigaretten auf ihnen aus, brachen Gefangenen die Knochen und verweigerten medizinischen Beistand; einige Gefangene mussten bis zu 26 Stunden mit erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand stehen. Eine Frau mit einem gebrochenen Bein wurde mit Schlägen gezwungen weiter an der Wand zu stehen. In verschiedene Zellen wurde Tränengas geschossen, Frauen wurde mit Vergewaltigung gedroht, und auch Todesdrohungen wurden ausgesprochen.
Ein Großteil der Polizisten - gleich welcher Gattung - verhielt sich offen faschistisch, immer wieder den Arm zum Hitlergruß hebend; an den Wänden der Reviere hingen Mussolini-Bilder und Fotos der deutschen Wehrmacht. Von Dutzenden von Zeugen bestätigt ist auch das ständige Absingen eines Reims: "Uno, due, tre - evviva Pinochet! Quattro, cinque, sei - morte agli ebrei! Sette, otto, nove - il negretto non si commuove!" ("1,2,3 - es lebe Pinochet! 4,5,6 - Tod den Juden! 7,8, 9 - das Negerlein erzeugt kein Mitleid!")
Dennoch fand Innenminister Claudio Scajola (Forza Italia) an seiner Truppe nichts auszusetzen: "Die Sicherheitskräfte verhielten sich mit beispielhafter Würde und können nicht dem Spott preisgegeben werden." Auch für Silvio Berlusconi waren Gut und Böse klar abzugrenzen: "Ich will, dass den Bürgern und den Ordnungskräften eines klar ist: Ich bin auf ihrer Seite und nicht auf Seiten der Gewalttäter". Franco Frattini, Minister für Öffentliche Aufgaben, dem auch die Aufsicht über die Geheimdienste zukommt, blies ins gleiche Horn: "Ich möchte das für die Linke eines klar ist ... Sie muss sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht. Auf Seiten derer, die auf der Straße mit Molotow-Cocktails werfen oder auf Seiten der Polizei."
Folter und systematische Misshandlungen
Vize-Premier Gianfranco Fini setzte in seiner Rede zum Misstrauensvotum gegen Scaloja noch eins drauf und stieß in alter faschistischer Manier Drohungen gegen die parlamentarische Opposition aus. Seiner Ansicht nach solle die nachfolgende Untersuchung vor allem die Verantwortlichkeiten des Genoa Social Forum und der mit ihm sympathisierenden Abgeordneten klären: "Möge Gott, dass aus den Untersuchungen und Kommissionen nicht deutlich wird, dass nicht nur außerparlamentarische Gruppen, sondern auch hier sitzende Abgeordnete für die geheime Absprache, den Schutz und die Deckung (der Gewalttäter) verantwortlich sind."
Die rechte Regierungsmehrheit lehnte nicht nur das von der Opposition beantragte Misstrauensvotum gegen Innenminister Claudio Scajola ab. Sie verhinderte auch die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Gebildet wurde eine 36köpfige Kommission aus Abgeordneten der zwei Kammern, deren Untersuchungsergebnis keinen bindenden Charakter hat. Die Kommission soll entsprechend der Sitzverteilung der Kammern - in denen der Rechtsblock der Regierung wegen des in Italien herrschenden Mehrheitswahlrechts eine erdrückende Mehrheit besitzt - zusammengesetzt sein und Ende September ihre Ergebnisse vorlegen.
Doch der innenpolitische wie der internationale Druck zwangen die Regierung schließlich zur Versetzung dreier ranghoher Polizeiführer. Das sind lediglich "Bauernopfer" - schließlich mussten ausgerechnet die Carabinieri bisher keine personellen oder juristischen Konsequenzen erleiden, und politische Verantwortung gibt es anscheinend auch nicht: "Fehler" seien nur bei der konkreten Ausführung gemacht worden. Abgesetzt wurden Arnaldo La Barbera, Chef der Antiterroreinheiten (Ucigos) aus Rom, Francesco Colucci, Polizeichef Genuas und Ansoino Andreassi, Vizechef der italienischen Polizei und Mitglied im Sicherheitsausschuss des G8. La Barbera war bei dem Sturm auf die Diaz-Schule der höchste anwesende Beamte und Anführer der Einheiten; Colucci hatte die Aktion angeordnet und Andreassi war als Supervisor ebenfalls anwesend.
Die Staatsanwaltschaft Genua hat indes acht Ermittlungsverfahren eingeleitet. Diese betreffen die Briefbomben in Genua vor dem G8; die Tötung von Carlo Giuliani; die möglichen Straftaten in der Diaz-Schule; den Amtsmissbrauch und die Misshandlungen durch die dort eingesetzte Polizei; die Misshandlungen und Übergriffe der Polizei auf der Straße und im Lager Bolzaneto; die Gewalt und Zerstörungen durch Demonstranten; das verspätete oder unterlassene Eingreifen der Polizei bei angezeigten Gewalttaten; weitere mögliche Verfahren anhand des Beweismaterials.
Die staatstreue Linke in der Krise
Mittlerweile mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Ausschreitungen in Genua politisch gewollt waren. Jenseits der Hysterie, die von der italienischen Presse und Teilen der moderaten Linken gegen den "Schwarzen Block" entfacht wurde, lässt sich feststellen, dass die Polizei vor allem solche Leute relativ ungestört agieren ließ, die Autos von Anwohnern anzündend und kleine Geschäfte plündernd fernab der Roten Zone durch die Stadt zogen - während sie alle anderen Protestierenden massiv angriff. Die Informationen über randalierende Zivilpolizisten verdichten sich ebenfalls. Es existieren mehrere Videoaufnahmen von vermummten und behelmten "Demonstranten" mit Eisenstangen, die aus Polizeikasernen heraus und in sie hinein laufen. Zeugen berichten davon, wie hinter einigen Containern in der Nähe des Polizeihauptquartiers Polizisten ihre Uniform gegen eine schwarze Kluft tauschten. Auch gab es einige Angriffe von Vermummten auf die Tute Bianche, die bisher nie Probleme miteinander hatten; noch nach Göteborg hatten die Tute Bianche sich gegen eine Verdammung des "Schwarzen Blocks" ausgesprochen.
Neonazis sollen sich ebenfalls an den Ausschreitungen beteiligt haben. Ein in Genua von verschiedenen Journalisten interviewter betrunkener britischer Nazi-Hool gibt an, von "italienischen Kameraden" eingeladen worden zu sein, denen die Polizei "freie Hand bei der Zerstörung der Stadt" zugesagt habe. Das Genoa social Forum (GSF) hat sogar rekonstruieren können, wie aus der Region Emilia-Romagna zwei Busse voller Nazis aus dem Umfeld von Forza Nuova nach Genua gekommen seien. Doch offizielle Stellen leugnen immer noch jegliche Beteiligung von Faschisten an den Auseinandersetzungen. Vielleicht weil ihnen tatsächlich Deckung zugesagt wurde?
Vom zivilen zum sozialen Ungehorsam
Von den Ereignissen um den G8 schwer geschüttelt ist auch das Mitte-Links-Bündnis Ulivo. Es hatte den Gipfel organisiert, im Vorfeld dann mit der neuen Regierung über die italienische Position auf dem Gipfel gekungelt - und wenige Tage vor dessen Beginn doch noch zur Demonstration aufgerufen. Nach dem Tod von Carlo Giuliani wurde wieder ein Rückzieher gemacht. Teile der Ulivo-Basis beteiligten sich dennoch weiter an den Demos. Schließlich beantragte das Bündnis mit reichlich Verspätung ein Misstrauensvotum gegen Innenminister Claudio Scajola, doch schon einige Tage später folgte bereits der erste Ansatz eines Kuhhandels. Oppositionsführer Luciano Violante blähte sich zunächst auf: "Die Regierung hat eine Woche Zeit, um eine parlamentarische Untersuchung in die Wege zu leiten, ansonsten mobilisieren wir auf der Straße". Doch schob er gleich hinterher: "Dafür sind wir aber auch bereit, den Misstrauensantrag gegen den Innenminister wieder zurück zu ziehen".
Das Gezerre innerhalb des Ulivo endete schließlich mit einem Punktsieg der Rücktrittsbefürworter. Im Parlament hielten sie flammende Reden für einen Rücktritt Scajolas und die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission.
Doch eine kompromisslos oppositionelle Haltung haben bisher nur Rifondazione Comunista (RC) und die Grünen bezogen. Die Diskussionen in der Partei der Democratici di Sinistra (DS), dem ehemaligen PCI, die im Ulivo das größte Gewicht hat, gehen indes weiter. Eine "Riesenströmung" (correntone), zu der auch viele namhafte GewerkschafterInnen gehören, veröffentlichte im Vorfeld des Parteikongresses ein Grundsatzdokument, in dem eine "grundlegende Wende auf politischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene" gefordert wird. Die Partei müsse "klar aussprechen, wer unsere Bündnispartner und wer unsere Feinde sind". In dem Papier werden die DemonstrantInnen gegen den G8 ausdrücklich als das gesellschaftliche Spektrum genannt, auf das sich die DS beziehen müssten. Die neue Strömung konnte innerhalb der vergangenen Tage viel Zustimmung ernten.
Auch das Genoa Social Forum (GSF) wurde durch die starke Mobilisierung in Genua gestärkt. Am Dienstag nach dem G8 waren in ganz Italien erneut 300.000 Menschen auf den Straßen und protestierten gegen den Mord an Carlo Giuliani und die Polizeirepression. Mittlerweile verwandelte sich das GSF zum Italia Social Forum, ähnliche Bündnisse sollen nun auch auf lokaler Ebene ein nicht-institutionelles Forum schaffen.
Zunächst steht die Aufklärung der Ereignisse ganz oben auf der Tagesordnung. Ab Anfang September sollen inhaltliche und analytische Debatten geführt werden, und für Oktober und November sind wieder Massenmobilisierungen vorgesehen. In Erklärungen betont das GSF immer wieder es lasse sich nicht spalten. Auch die Tute Bianche sind nach einer kurzen Funkstille wieder in die Öffentlichkeit getreten und wenden sich ebenfalls gegen eine Spaltung der Bewegung und eine Verdammung des "Black Block". "Wir haben auch Barrikaden gebaut und Steine geworfen, nachdem wir stundenlang die Angriffe der Polizei erduldet haben, die Polizei wollte uns umbringen", sagte Luca Casarini, Sprecher der Tute Bianche, gegenüber der Presse. Die Phase des "zivilen Ungehorsams" sei nun vorbei, so Casarini weiter, es gehe nun um "sozialen Ungehorsam". Weiterhin betonte er, die Tute Bianche würden sich für weitere Konfrontationen etwas einfallen lassen, aber sicher nicht ungeschützt bleiben.
Währenddessen zeigt sich die italienische Regierung wegen des für September in Rom geplanten Kongresses der Welternährungsorganisation FAO schwer besorgt und erwägt, sie nach Afrika zu verlegen. Zugleich bahnt sich für den 26. und 27. September eine weitere große Auseinandersetzung an. An diesen Tagen wollen die NATO-Außenminister in Neapel zusammen kommen. Die Mobilisierung verspricht mehr DemonstrantInnen als am vergangenen 17. März, an dem in Neapel 30.000 Menschen gegen ein Treffen des Global Forum auf die Straße gingen und von der Polizei heftig attackiert wurden. Francesco Caruso, Sprecher des Netzwerkes Rete No global verkündet: "Diesmal werden wir nicht unvorbereitet sein wie auf der Piazza Municipio am 17. März, als die Ordnungskräfte Tausende zusammenschlugen. Sie können das Feuer eröffnen, wie sie es in Genua getan haben, aber das wird gegen unsere Entschlossenheit nicht reichen."
Der Herbst in Italien könnte heiß werden: Die Metaller der Gewerkschaft FIOM (die auch zum GSF gehören) wollen gegen die Tarifabschlüsse der rechten Gewerkschaften streiken und demonstrieren, und in den Schulen und Krankenhäusern beginnen Aktionen gegen die Privatisierung von Bildung und medizinischer Versorgung.