Berliner Kiosk und römische Roma
Ein Berliner Kunstprojekt geht in Rom auf die Strasse und arbeitet Geschichte auf, um die Gegenwart zu verändern. Vom Rassismus und was dagegen getan werden sollte.
Auf den ersten Blick wirkt der «KIOSK» der Berliner Kuratoren Hannah Hurtzig und Anselm Franke wie ein weiterer Verkaufsstand in der Eingangshalle des Hauptbahnhofs Roms. Die meisten Menschen hetzen bepackt mit Taschen und Koffern vorbei. Doch immer wieder bilden sich rund um die aufgestellten Bildschirme kleine Grüppchen, setzen die Kopfhörer auf und lauschen den Interviews, die in den vergangenen Wochen gemeinsam mit dem römischen Architektenkollektiv Stalker in den 15 Romacamps der italienischen Hauptstadt geführt wurden. Die Gesichter der Zuhörernden verändern sich. So wie die einer Gruppe schick angezogener Girlies. Gackernd streifen sie zunächst um den Stand, bevor sie sich ebenfalls hinsetzen. Das Lachen verschwindet schnell aus ihren Gesichtern und schließlich verbringen sie anderthalb Stunden und schauen sich alle Videointerviews an, stellen Fragen, nehmen Informationsmaterial mit und sind entsetzt von der Realität zu erfahren, die es nicht geben soll, die in den Medien nicht vorkommt.
An die 40 000 Roma sollen in mindestens 13 Camps in Rom und weiteren dreissig Camps in der Umgebung leben. Einen legalen Status haben gerade mal 3500 von ihnen, die Stadtverwaltung erkennt immerhin noch mal ebenso viele an. Doch sie werden in Camps verfrachtet von denen die kommunal verwalteten die unmenschlichsten sind. Bis auf einige «Vorzeigecamps» mit Containerbehausungen haben sie meist keine Stromanschlüsse, sind unter Autobahnbrücken oder auf brachliegenden ehemaligen Industrieflächen angesiedelt und versinken im Schlamm. Die hygienischen Bedingungen sind mehr als bedenklich. Mauern aus Stahl und Beton umgeben und durchziehen die Camps und an den Eingängen kontrollieren Polizeibeamte, wer ins Camp kommt. Besucher sind nicht zugelassen.
An den Wänden des «KIOSK für nützliches Wissen» sind Berichte der Roma zu lesen und es findet sich ein Stadtplan auf dem verschiedene Camps des Stadtgebietes eingezeichnet sind. Ein Plakat fordert dazu auf, sich bei den Roma auf ausgelegten Unterschriftenlisten zu entschuldigen, ein symbolischer Akt, der auch innerhalb der am Projekt beteiligten KünstlerInnen nicht ganz unumstritten ist. Aber viele unterschreiben, meist erst nachdem sie sich lange Zeit die Interviews angehört haben. Gegenüber den Roma, über deren Lebenssituation und institutionelle Marginalisierung kaum jemand etwas weiß, überwiegen die Vorurteile. Selbst von der offiziellen Geschichte werden sie ins Abseits gedrängt. Bisher wurde immer geleugnet, dass es in der Endphase des italienischen Faschismus Internierungslager für Roma gegeben hat.
In einem der Camps findet sich jedoch ein Überlebender, der von der vier Jahre langen Internierung in einem Kloster in Süditalien berichtet. Es wird ein Kontakt zu einem Dorfschullehrer hergestellt, der über die Internierungen in seinem Dorf Agnone ein kleines Buch veröffentlicht hat, aber nie auf Überlebende getroffen war. Es gibt noch viel zu tun, um an Samudaripen, so die Shoa für die Roma, zu erinnern.
«Idealerweise sollte der KIOSK im Wartesaal des Arbeitsamtes, am Bahnhof oder in Einkaufspassagen aufgebaut werden und dort kurzfristig einen Schwarzmarkt der Erzählung in den kontrollierten Sicherheitszonen unseres öffentlichen Lebens ansiedeln», so die KünstlerInnen zu dem Kiosk, der sich als «mobile Forschungseinheit, Kino & Archiv» versteht und im Rahmen des Projektes Ersatzstadt an der Berliner Volksbühne entstand.
Der letzte Tag des Kiosks in Rom war der offizielle Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Am Vormittag fanden ganz in der Nähe Diskussionsveranstaltungen zur Deportation der Roma statt. Am Abend wurde gemeinsam mit weiteren Gruppen ein Fest im alten Aquarium der Stadt Rom – einer Prachtsvilla mit einer anmutigen Halle für hunderte von Personen – organisiert. Ein Romatheater tritt auf, es wird Romaessen verkauft und Musik gemacht. Tommaso, ein alter und stolzer Mann, erzählt von der Internierung zu Zeiten des Faschismus. Für einen Abend gehört ein Stück des Zentrums den Roma. Vier Musiker spielen auf der Bühne und ein gutes Dutzend schick gekleideter junger Paare tanzt dazu. Sie lachen und freuen sich, denn der Alltag für die Roma ist ein anderer. Zwei Tage zuvor hatte die Polizei ein «illegal errichtetes» Roma-Camp im Stadtteil Ostiense geräumt. Die Frauen und Kinder wurden von den Männern getrennt und bekamen eine vorübergehende Unterbringung, einige Hundert Männer sitzen auf der Straße und kämpfen jeden Abend aufs Neue dafür, im Bahnhof von Ostiense übernachten zu dürfen. Da Italien gerade von Polarwinden heimgesucht wird, die Rom, wenn auch nur kurz, den ersten Schnee seit einigen Jahrzehnten beschert haben, ist dies auch eine Überlebensfrage. In einem Roma-Camp in der Nähe von Neapel erfriert am Gedenktag ein 19 Tage altes Neugeborenes. «Wenn sich die Politiker entschuldigen, dann sollen sie aber auch erklären, warum die Roma heute marginalisert, eingesperrt und abgeschoben werden», meint Alexander Valentino von der Gruppe Stalker.