Deutschland und seine Hauptstadt im Jahre Zehn nach der Wiedervereinigung
Blühende Landschaften?
Nachdem er den Fluss durchwatet und den Pass überstiegen hat, steht der Mensch plötzlich vor der Stadt Moriana mit ihren Sonnenschein durchsichtigen Alabastertoren, ihren Korallensäulen, die serpentinverkleidete Simse tragen, ihren Villen ganz aus Glas ... Ist er nicht auf seiner ersten Reise, so weiß der Mensch bereits, dass Städte wie diese eine Kehrseite haben: Man braucht nur einen Bogen zu gehen und hat schon Morianas verborgenes Gesicht vor Augen, eine Fläche mit verrostetem Blech, Sackleinwand, nägelbespickten Balken, rußschwarzen Rohren, Haufen von Büchsen, Brandmauern mit verwaschenen Inschriften, Stuhlgerippen ohne Flechtsitze, Stricken, die nur noch dazu taugen, sich an einem morschen Balken aufzuhängen. ... Die Stadt ... besteht nur aus einer Vorderseite und einer Rückseite, wie ein Blatt Papier mit einer Figur hier und einer Figur dort, die sich nicht ablösen und nicht ansehen können. (aus: "Die unsichtbaren Städte" von Italo Calvino)
Der vorherrschende Eindruck im Ausland über Deutschland ist der einer funktionierenden "sozialen Marktwirtschaft". Das Modell des "rheinischen Kapitalismus", in dem Regierung, Großunternehmen, Banken und machtvolle Gewerkschaften gemeinsam eine blühende Wirtschaft, Mitbestimmung, soziale Sicherheit und Wohlstand garantieren. Der Regierungssitz Berlin gilt als die europäische Hauptstadt des 21. Jahrhunderts, das Tor nach Osteuropa.
Wirft man allerdings einen Blick hinter diesen rhetorischen Vorhang, zeigt sich ein gänzlich anderes Bild. Die Anzahl derer, die von Sozialhilfe leben, ist von 2,4 Millionen im Jahr 1992 auf 3,1 Millionen 1998 angestiegen (ca. 3,7 Prozent der Gesamtbevölkerung). Mehr als eine Million davon sind minderjährig. Über vier Millionen Menschen sind arbeitslos, die Anzahl der Langzeitarbeitslosen unter ihnen stieg von ca. 500.000 im Jahr 1992 auf 1,4 Millionen im Jahr 1999 an.
Während der vergangenen zehn Jahre ist auch ein enormer Anstieg der informellen Beschäftigung, der Schattenökonomie und des Mikro-Unternehmertums zu beobachten. Parallell dazu schreitet die Prekarisierung der ehemals regulären Beschäftigung voran. Das Phänomen "Working poor", Armut trotz Arbeit, breitet sich auch in Deutschland mehr und mehr aus. Die "atypischen" Beschäftigungen, wie sie der DGB gerne nennt, sind inzwischen wohl eher "typisch". Bereits seit Mitte der 80er Jahre sind mehr als 50 Prozent der neu eingegangenen Arbeitsverhältnisse "atypisch". Besonders betroffen davon sind Frauen, Jugendliche und MigrantInnen.
Tarifverträge sind eine Errungenschaft, die vorwiegend Männern, und in zunehmendem Maße nur noch Deutschen vorbehalten ist. Frauen bleiben in der Regel auf unterbezahlte, nicht tariflich geregelte oder illegalisierte Beschäftigung verwiesen. De facto verfügen 73 Prozent aller Frauen über 15 Jahre über keine eigenen Einkünfte oder über monatliche Einkünfte von unter 1.800 DM, auch wenn sie Vollzeit beschäftigt sind. Frauen in bessergestellten Positionen verdienen im Durchschnitt 30 Prozent weniger als Männer, die mit den gleichen Aufgaben betraut sind.
Etwa ein Drittel aller Selbstständigen sind Frauen. Sie arbeiten vorwiegend im Dienstleistungssektor (57 Prozent) und im Einzelhandel (26 Prozent im Westen und 37 Prozent im Osten). Mehr als die Hälfte dieser "selbstständigen" Frauen verfügt über keinerlei Grundkapital und hat die selbstständige Tätigkeit lediglich aufgenommen, da sie trotz durchschnittlich höherer Qualifikation als ihre männlichen Kollegen, keinerlei Aussicht auf eine Integration in den regulären Arbeitsmarkt haben. Und wie wenig die heutigen Selbstständigen dem traditionellen Unternehmerbild entsprechen, wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Einkommensverhältnisse wirft: 53 Prozent der selbstständigen Frauen im Westen und 41 Prozent im Osten verdienen weniger als 1.800 DM im Monat, nahezu ein Viertel sogar weniger als 1.000 DM.
Das Bewusstsein über prekäre und reguläre Beschäftigung ist in Deutschland jedoch stark unterentwickelt. Das Bild der geregelten Arbeitsverhältnisse als gesellschaftliche Normalität ist nach wie vor wirkungsmächtig. Die großen Debatten, die die Öffentlichkeit bestimmen, wie z.B. um die Rente ab 60, betreffen tatsächlich nur (männliche) Minderheiten mit einer 35-jährigen, fordistischen Arbeitsgeschichte. Große Teile der Linken wiederum haben keine andere Antwort auf die neuen Arbeitsverhältnisse, als sie wieder in traditionelle fordistische Muster pressen zu wollen, und selbst bei den meisten Betroffenen herrscht die Meinung vor, zu einer Minderheit zu gehören, die über kein reguläres Arbeitsverhältnis verfügt.
Dabei sprechen die Zahlen eine deutlich andere Sprache. Von etwa 38,1 Millionen arbeitsfähigen Personen in Deutschland sind über vier Millionen arbeitslos, 2,7 Millionen arbeitsfähige SozialhilfeempfängerInnen, 1,2 Millionen arbeiten mit reduziertem Einkommen in verschiedensten staatlich finanzierten oder subventionierten Maßnahmen und Fortbildungsschlaufen. 2,5 Millionen verfügen über Arbeitsverträge von weniger als einem Jahr, 2,5 Millionen arbeiten Teilzeit (87 Prozent davon sind Frauen), 6,5 Millionen sind mittels der "630-DM-Jobs" im Westen, bzw. 530-DM-Jobs im Osten beschäftigt, zwischen 900.000 und 1,5 Millionen gelten als Scheinselbstständige, 625.000 sind HeimarbeiterInnen. Hinzu kommen in der Schattenökonomie Beschäftigte, wie Leih- und SaisonarbeiterInnen.
Mindestens 20,5 Millionen, also 54 Prozent der 38,1 Millionen arbeitsfähigen EinwohnerInnen der Bundesrepublik leben in einer prekären Situation. Nur eine Minderheit verfügt über ein reguläres, sozial abgesichertes Beschäftigungsverhältnis oder hat mittels selbstständiger Beschäftigung ein ausreichendes Einkommen, um sich selbst sozial abzusichern.
Die rasante Verarmung - verursacht durch das kontinuierliche Absinken der Haushaltseinkommen - ist vor allem in Berlin deutlich spürbar. Bis zum Mauerfall wurde ein Großteil des Berliner Haushaltes über Bundesmittel subventioniert. Noch 1990 summierte sich die Bundeshilfe auf 14,2 Milliarden DM (6.625 DM pro EinwohnerInnen in Westberlin). Damit wurde das bereits damals einsetzende Absterben der Industrie gebremst. 1998 bekam Berlin über den Länderfinanzausgleich - als größter Nehmer - immerhin noch 4,89 Milliarden DM - 2.525 DM pro EinwohnerInnen. In Westberlin führte dies zu einem starken Kaufkraftverlust und der Verringerung der öffentlichen Ausgaben. Die Berliner Verwaltung reduzierte die Anzahl ihrer Beschäftigten im Zeitraum 1991-1998 von 298.338 auf 199.298 Personen.
Aber dies ist nur die Spitze des Eisbergs des Arbeitsplatzabbaus. Alle Sektoren miteingeschlossen und die neu geschaffenen Beschäftigungen bereits abgezogen, ergibt sich für Berlin für den Zeitraum 1991-1998 eine Negativbilanz von 371.100 Arbeitsplätzen. Die Anzahl der arbeitenden Bevölkerung fiel im gleichen Zeitraum um 14,5 Prozent, während sich die Arbeitslosenquote offiziell um die 16 Prozent bewegt.
Ein Großteil des Arbeitsplatzabbaus fand in der Industrie statt. Der Mauerfall hatte den ehemals abgeschotteten Westen Berlins über Nacht einer ungekannten Wettbewerbssituation mit Ost-Berlin und dem Umland ausgesetzt. Unternehmen begannen ihre Produktionsstätten und Niederlassungen außerhalb Berlins anzusiedeln. Aber auch die ausgebliebene Modernisierung und die reduzierte Produktpalette vieler West-Berliner Unternehmen sowie die fehlenden Investitionen in Forschung und Entwicklung führten zu einem massiven Arbeitsplatzabbau im Industriesektor. Im Osten der Stadt war die Industrie einem noch weitreichenderen Abbau ausgesetzt. Die Produktion brach zusammen, teilweise auf Grund der geringeren Qualität der Produkte, die es nicht erlaubte eine günstige Positionierung im globalen Wettbewerb zu erzielen, aber auch wegen der niedrigen Produktivität und dem plötzlichen Wegfall der Nachfrage aus dem ehemaligen Ostblock.
In diesem Rahmen sank die Anzahl der Beschäftigten in der Berliner Industrie zwischen 1989 und 1998 um 57,8 Prozent. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen: von 1997 bis 1998 sank die Industriebeschäftigung immer noch um 5,6 Prozent. Aus Berlin werden vor allem flächenintensive Unternehmen in das Umland verlegt, neue Industrien siedeln sich in der Regel gar nicht mehr in Berlin an, sondern im "Speckgürtel" um die Stadt, der über eine relativ gute Infrastruktur verfügt.
Nach einem Bevölkerungszuwachs bis 1993 ist mittlerweile auch die Zahl der EinwohnerInnen Berlins im Sinken begriffen. Von 3,475 Millionen Ende 1993 waren im Juli 1999 noch 3,393 Millionen übrig. Die Folgen sind vor allem für den Einzelhandel spürbar, der in der ersten Hälfte 1999 einen Umsatzrückgang von zwei Prozent und einen Beschäftigungsrückgang von 5,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen hatte.
Unter den neun deutschen Metropolenregionen bildet Berlin das Schlusslicht bezüglich der Wirtschafts- und Steuerkraft. In Berlin liegt die Bruttowertschöpfung pro Kopf mit 40.082 DM jährlich nur leicht über dem Bundesdurchschnitt von 39.236 DM, sie beträgt weniger als die Hälfte der Makroregionen wie München/Nürnberg (81.716 DM) und liegt deutlich unter der der Hansestadt Hamburg (70.087 DM).
Zwischen 1991 und 1998 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Berlins nominal von 120,41 Milliarden DM auf 155,77 Milliarden, der Anstieg schrumpft allerdings auf 2,5 Prozent, wenn man den Berechnungen die Preise von 1991 zugrunde legt. Diese schwache Entwicklung wandelte sich schließlich 1997 in eine Verringerung des BIP um 0,3 Prozent. Vom sozialen Standpunkt aus gesehen lässt sich in Berlin eine duale Entwicklung feststellen: Auf der einen Seite die Gestaltung der Stadt gemäß den Bedürfnissen einer modernen Metropole und andererseits das außerhalb des Bewegungsradius der transnationalen Wirtschafts- und Regierungsmacht liegende Berlin.
Während sich die Einwohnerzahl, die arbeitsfähige Bevölkerung und die Beschäftigtenzahl im stetigen Abwärtstrend befinden, steigt die Quote der Arbeitslosen und nicht erwerbsfähigen Bevölkerung kontinuierlich an. Die Verarmung breiter Teile der Bevölkerung erfolgt in rasantem Tempo: Die Anzahl der SozialhilfeempfängerInnen ist von 158.611 im Jahr 1991 auf 281.851 im Jahr 1998 gestiegen. Darin sind die 34.121 AsylantragstellerInnen, die Leistungen unterhalb des Sozialhilfesatzes erhalten, noch nicht enthalten. 8,3 Prozent der Berliner Bevölkerung erhält Sozialhilfe. Berlin hat damit die höchsten Sozialhilfeausgaben pro Kopf (905,88 DM jährlich) in ganz Deutschland. Dabei liegen die Ausgaben im Westteil sogar noch deutlich höher als im Ostteil. Von der Armut betroffen sind vor allem Nicht-Deutsche, die 26,6 Prozent der SozialhilfeempfängerInnen ausmachen, bei einem Anteil von 12,75 Prozent an der Berliner Bevölkerung. Da Nicht-Deutsche vorwiegend als IndustriearbeiterInnen beschäftigt waren, sind sie von den Entwicklungen der letzten Jahre besonders stark betroffen. Gleichzeitig ist es für sie nahezu unmöglich wieder eine abhängige Beschäftigung zu finden. Daher gibt es auch einen regelrechten Boom in der Aufnahme selbstständiger Aktivitäten seitens Nicht-Deutscher.
Doch in einem Punkt - in der Struktur der Haushalte - kann Berlin metropolitanen Standard vorweisen: Während die Anzahl der Mehrpersonenhaushalte stetig sinkt, steigt die der Single- und Zwei-Personenhaushalte sowie der Kinderlosen und allein Erziehenden. 79 Prozent der Berliner Haushalte hat keine Kinder unter 18 Jahren und 24 Prozent aller Haushalte sind Single-Haushalte - gegenüber einem Bundesdurchschnitt von 16 Prozent.
In der nächsten Ausgabe:
Berlin - Dienstleistungsmetropole und Drehscheibe für den Ost-West-Handel?
Im Rahmen des vom Mailänder Institut A.A.STER in sieben europäischen Städten durchgeführten Forschungsprojektes "Moriana" über neue Arbeitsformen und -verhältnisse in Zeiten des Umbruchs zeichnet Dario N. Azzellini für Berlin verantwortlich.