Selbstständig Beschäftigte in Berlin
Lohnarbeit macht glücklich? Selbstständige sind Kapitalisten?
Das Arbeit und Produktion seit einigen Jahrzehnten einem rasanten Wandel in Form und Inhalt unterliegen ist schon ein Allgemeinplatz. Doch die Reaktionen der Linken auf diese Veränderungen sind meist erschreckend. Die alte staatsfixierte Linke, also alle Kinder der Sozialdemokratie, von den Gewerkschaften bis hin zu den Parteikommunisten aller Couleur, hat sich im Groben auf zwei Positionen verteilt: einerseits die “besseren Modernisierer”, also die Sozialdemokraten mit denen wir es in fast allen Staaten der EU zu tun haben und deren “Neoliberalismus” sich vom us-amerikanischen Modell unterscheidet. Diese verwandeln den Sozialstaat (noch stärker als bisher) in eine Zwangsgemeinschaft, um so das wegfallende Disziplinierungsmoment “Lohnarbeit” durch andere zu ersetzen und gleichzeitig Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse zu deregulieren. Auf der anderen Seite finden wir die “TraditionalistInnen”, denen meist nicht mehr einfällt als “Arbeit her” oder “Arbeit für Millionen” zu rufen und deren unterschiedliche Radikalität sich darin misst wie schnell für wie viele Menschen (die Disziplinierung durch) Lohnarbeit gefordert wird. In der reformistischen Variante zielen ihre Konzepte auf die Erhaltung der fordistischen Gesellschaft und sehen vor die Marginalisierung und Arbeitslosigkeit mittels der Umverteilung der Arbeit (z.B. Reduzierung der Wochenarbeitszeit) zu bekämpfen. Eine Strategie die sich nicht nur als problematisch erweist, weil sie der aktuellen Entwicklung und den dominanten Strategien des globalen Kapitals diametral entgegensteht, sondern auch, weil sie das fordistische Verhältnis zwischen Lohnarbeit und sozialen Sicherheiten unberührt lässt. Das bedeutet das entweder weiterhin ein stetes Wachstum (im kapitalistischen Sinne) von Nöten ist – was schon allein aus ökologischen Gesichtspunkten katastrophal wäre – oder das immer grössere Teile der Bevölkerung in den Ländern der ”Dritten” wie auch der ”Ersten Welt” von den Errungenschaften ausgeschlossen werden.
Diese starre Phantasielosigkeit mag nicht weiter verwundern, ist doch ein guter Teil der Linken heute relativ orientierungslos, nachdem sich zwei der traditionell zentralen Säulen der von ihnen vorgeschlagenen politischen Alternativen zunehmend auflösen: einerseits – in Folge der “Globalisierung” (bzw. die erhöhte Mobilität des Kapitals) – die Nationalökonomien und die Besteuerung als zentrales Moment der Umverteilung (so zahlen z.B. transnationale Unternehmen heute kaum noch Steuern, in den meisten Fällen kassieren sie sogar noch Erstattungen vom Finanzamt) und andererseits die Massenbeschäftigung in Großbetrieben als Moment der Interessensartikulation und daran gekoppelt -vertretung und -befriedigung. Doch es erstaunt, daß auch ein guter Teil der eigentlich nicht staatsfixierten Linken – zumindest die, die zu den wenigen gehören die zu diesem Thema nicht schweigen – sich ebenfalls auf diese Seite schlägt. Hat die marxistische Kritik an der Entfremdung durch die Lohnarbeit ihre Gültigkeit verloren? Die Antwort kann nur “Nein” lauten. Und das bestätigen genau jene Selbstständigen, die viele Linke gerne in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen sehen wollen. Noch absurder wird die Angelegenheit, wenn genauer geschaut wird, wie viele in der radikalen Linken selbstständig arbeiten, in dieser Form arbeiten wollen, und dafür auch allerhand Nachteile in Kauf nehmen, während sie gleichzeitig für alle anderen regulierte abhängige Arbeitsverhältnisse fordern.
Die meisten Selbstständigen wollen selbstständig arbeiten und das sollte die Linke ernst nehmen. Die Herausforderung an die Linke liegt also viel mehr darin, für die neuen Arbeitsformen und Arbeitsverhältnisse Organisierungsmuster zu finden, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Die Herausforderung lautet die Befreiung von der Lohnarbeit in eine wirkliche Befreiung des Subjekts von den Zwängen der Lohnarbeit zu verwandeln. Das ist keine einfache Aufgabe, der Weg ist nicht vorgezeichnet, aber es ist die Aufgabe der Linken, will sie dieses Feld nicht den “Modernisierern” und “Deregulierern” überlassen. Selbstständige Arbeit ist immer noch ein kleiner Teil der gesamten Arbeit, aber sie wird mehr und mehr zu der Arbeitsform die auch alle anderen Arbeitsverhältnisse und die gesamte Gesellschaft prägt, so wie es Jahrzehnte lang die fordistische Lohnarbeit getan hat – ebenfalls ohne daß ihr immer und überall die Mehrheit der Arbeitsverhältnisse entsprachen.
Die fordistische Lohnarbeit hatte in Deutschland in der kollektiven Vorstellung und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer vier Funktionen: Einkommensquelle und existentielle ökonomische Grundlage; Anerkennung und sozialer Status; Grundlage der sozialen Sicherheiten (Krankenkasse, Arbeitslosenunterstützung, Rente) und wichtigstes Instrument gesellschaftlicher Integration. Funktionen, die selbst in den Hochphasen des Fordismus (60er und 70er Jahre) nur teilweise und selektiv erfüllt wurden. Seit den 80er Jahren und vor allem während der 90er Jahre, verliert die fordistische Lohnarbeit in Folge der Veränderungen in Produktion, Gesellschaft und Kultur zunehmend ihre Orientierungsrolle. Immer mehr Menschen, vor allem Frauen, MigrantInnen und junge Leute, aber auch andere, erfüllen die Bedingungen nicht mehr, um in den Genuss der an die fordistische Lohnarbeit geknüpften sozialen Sicherheiten zu kommen. Die fordistische Lohnarbeit ist aber nach wie vor die Grundlage der juristischen Reglementierung sozialer Sicherheiten und der Arbeit. Da diese Normen nicht mehr der Realität entsprechen, werden immer mehr Personen – mit oder ohne Arbeit – aus dem System der sozialen Sicherheiten ausgeschlossen. Soziale Sicherheiten stellen heute ein Privileg eines zunehmend kleineren Kreises männlicher Deutscher dar, die während der Hochphase des Fordismus eine genormte Lohnarbeit aufgenommen haben.
Die Umbruchphase in der wir uns befinden ist aber auch davon gekennzeichnet, das gleichzeitig Anforderungen aus der selbstständigen Beschäftigung zunehmend auch die abhängige Beschäftigung prägen. Einige Beispiele: die heute viel zitierten “flachen Hierarchien”, das oftmals eingeforderte “subjektive Einbringen” in die Arbeit, die Anforderung Fortbildung, das zusätzliche Erlernen von Sprachen usw. in der Freizeit vorzunehmen, die immer schwierigere Trennung von Freizeit und Arbeit ... Dabei werden Selsbtständige oftmals als “Druckmittel” gegenüber abhängig Beschäftigten eingesetzt. Selbst viele Gewerkschaften folgen dieser Logik indem sie sich auf die Vertretung der abhängig Beschäftigten beschränken: “Die Selbstständigen sind verloren, mit denen kann ich keine Tarifpolitik machen .... ausserdem hat der Selbstständige, der mit seiner Frau arbeitet, doch schon die Seite gewechselt und ist Unternehmer geworden”, so eine hohe Vertreterin des DGB in einem Interview. In dieser Position liegt unter anderem aber auch die zunehmende Schwäche der Gewerkschaften begründet.
Die Verteidigung der Errungenschaften von über 100 Jahren ArbeiterInnenbewegung kann nur erfolgen, wenn diese sozialen Rechte und Garantien ausgeweitet werden auf die selbstständigen Arbeiter. Das gilt um so mehr, wenn aus den reinen Abwehrschlachten der vergangenen 15-20 Jahre, die mangels Kraft und auf Grund der Umstrukturierungen der Produktion, nicht einmal mehr des Status Quo erhalten konnten, wieder nach vorne gerichtete Kämpfe werden sollen. Das heisst nicht, dass die Linke sich aus dem Feld der Kämpfe in der abhängigen Beschäftigung zurück ziehen soll, sondern dass sie die Spaltung in abhängige und selbstständige Beschäftigung überwinden muss, will sie verhindern, dass beide Bereiche in reaktionäre ständische Vertretungsmuster abdriften in denen es nur noch um Partikularinteressen geht.
Dafür liegt das Feld dem die grösste Aufmerksamkeit geschenkt werden muss im Bereich der selbstständigen Beschäftigung, nicht nur, weil diese bisher von progressiven Kräften vernachlässigt wurde und weil viele Selbstständige mittlerweile über ein geringeres Einkommen und weniger soziale Garantien verfügen, als die meisten abhängig Beschäftigten, sondern auch, weil sich hier viel mehr kollektive Kooperations- und Kommunikationsmechanismen heraus bilden, als es das publizistische Bild der “Marktrambos” vermuten lässt. Dazu ist es aber zunächst notwendig die Situation und die Bedürfnisse der Selbstständigen besser zu kennen.
Selbstständigkeit in Berlin
Von 1,487 Millionen Beschäftigten insgesamt in Berlin sind etwa 160.000 selbstständig, mehr als die Hälfte davon im Dienstleistungssektor (personen- und unternehmensbezogen).[1] Dabei fällt auf das der Anteil im Ostteil der Stadt – wo die Umstrukturierung weiter vorangeschritten ist – um über zwei Prozentpunkte höher liegt als im Westteil. Dies bestärkt die Einschätzung, daß selbstständige Beschäftigung weiter zunehmen wird. 1991 waren es insgesamt noch 123.000. Da die Zahl der Beschäftigten insgesamt aber in diesem Zeitraum abnahm, stieg die selbstständige Beschäftigung von 5,56% im Jahr 1991 auf 10,6% im Jahr 1999 an. Die insgesamt hohe Zahl von Menschen, die in Berlin einer selbstständigen Beschäftigung nachgehen, ist nicht nur Ausdruck eines sehr engen klassischen Arbeitsmarktes, sondern auch Ausdruck der Umbruchssituation, in der sich die europäischen Gesellschaften insgesamt befinden. Die sog. Normalarbeitsverhältnisse und die lebenslange Erwerbstätigkeit in einem Beruf nehmen stetig ab, während zugleich eine zunehmende Flexibilisierung der Erwerbstätigkeit zu beobachten ist. Dies geschieht sowohl durch die Umwandlung abhängiger Beschäftigungsverhältnisse in Formen selbstständiger Beschäftigung, wie auch durch das entstehen neuer Dienstleistungsangebote durch Selbstständige. Ein Prozess, der in Berlin durch den Mauerfall noch beschleunigt wurde. Andererseits stellt die selbstständige Beschäftigung jedoch für viele eine bewusste Entscheidung dar. Dies trotz der schwierigen Bedingungen auf die Selbstständige insgesamt, aber vor allem in Berlin treffen, wie etwa die schlechte wirtschaftliche Situation und die niedrigen Einkommen. Hinzu kommt das Selbstständige kaum auf öffentliche Förderung zählen können. Die meisten Hilfsprogramme verstehen Selbstständigkeit als klassische Unternehmensgründung und knüpfen eine Förderung an die Schaffung von zusätzlichen – abhängigen – Arbeitsplätzen. Doch genau das tun und wollen die meisten Selbstständigen nicht.
Unter den Selbstständigen ist der Anteil der MigrantInnen höher, als ihr Anteil an der Berliner Bevölkerung. Dies hängt einerseits damit zusammen, daß sie wesentlich stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sind als Deutsche (weil sie vornehmlich als IndustriearbeiterInnen beschäftigt waren und weil aus rassistischen Gründen weniger Zugang zum regulären Arbeitsmarkt haben) – unter den MigrantInnen liegt die Arbeitslosigkeit bei 33,5% - und andererseits aber auch, weil eine selbstständige Beschäftigung für viele die einzige Möglichkeit ist sich nicht unterordnen zu müssen. Angesichts der Perspektive keine abhängige Beschäftigung mehr zu finden haben viele MigrantInnen in den vergangenen Jahren eine selbstständige Beschäftigung in die Wege geleitet. Dabei stützen sie sich oftmals auf familiäre oder ethnische Netzwerke.
Vor allem in ehemaligen ArbeterInnenstadtteilen wie Kreuzberg, Neukölln und Wedding im Westen, aber (während der vergangen zehn Jahre) auch Friedrichshain oder Prenzlauer Berg im Osten hat sich ein Geflecht von Mikro-Unternehmen (also Selbstständige) entwickelt, das keine klare Trennung mehr zwischen “legal” und “illegal” mehr zulässt. Viele Selbstständige, das geht auch deutlich aus den Interviews hervor, sind zumindest teilweise in der “Schattenökonomie” tätig, da ihr Einkommen ansonsten keine ausreichende Lebensgrundlage bieten kann. Dabei handelt es sich keineswegs um ausschliesslich marginale oder marginalisierte Arbeitsformen.
[1] Zahlen des statistischen Landesamtes Berlin für 1999. Unter selbstständiger Beschäftigung versteht man alle Beschäftigungsformen, die mit einer selbstständigen Steuererklärung verbunden sind und die im wesentlichen – bis auf einige Ausnahmen – nicht in die Sozialversicherung einbezogen sind. Daneben gibt es eine zweite Form selbstständiger Beschäftigung, die in der sog. Schattenwirtschaft stattfindet, die keinerlei Registrierung unterliegt und deswegen auch nicht seriös geschätzt werden kann.
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